9.12
Bundesrat Stefan Schennach (SPÖ, Wien): Herr Präsident! Sehr geschätzter Herr Bundesminister! Wer hätte gedacht, dass der deutsche Bundeskanzler in seiner Regierungserklärung einen Begriff von epochaler Bedeutung prägen wird: Zeitenwende – ein Begriff, der nun auch bei der österreichischen Regierung, wie man bei dieser Aktuellen Stunde sieht, Eingang gefunden hat.
Was meint dieser Begriff Zeitenwende? – Der Begriff Zeitenwende verweist auf die Zerstörung der Nachkriegsordnung auf verschiedenen Ebenen. Das Erste: Noch unter dem Eindruck des Mordens und der Zerstörung während des Zweiten Weltkriegs hat die UNO 1945 eine Charta erlassen, die Angriffskriege auf andere Staaten verbietet. Dann – für Europa besonders wichtig, und Wien ist ja Heimatsitz dafür –: die Schlussakte von Helsinki, mit all den verschiedenen Helsinki-Komitees – diese gibt es auch in Österreich, zum Beispiel in Graz –, die „Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa“; das war im August 1975, damals waren bis auf Albanien alle europäischen Staaten, aber auch die Sowjetunion, die USA und Kanada dabei. Es ist auch ein Bruch der Charta von Paris von 1990, die das Ende des Kalten Krieges und die Reduzierung der konventionellen Streitkräfte vom Ural bis zum Atlantik zum Inhalt hatte. – Das ist die Zeitenwende.
Zeitenwende bedeutet, dass das passiert ist, was wir uns eigentlich nicht mehr vorstellen konnten, nämlich dass in Europa ein Land ein anderes auf brutalste Weise überfällt. Es gab dazwischen Kriege in Europa, das soll man nicht vergessen. Es gab sehr blutige Kriege beim Zerfall des ehemaligen Jugoslawiens, aber das waren keine Angriffskriege auf andere Länder, das war sozusagen ein Krieg innerhalb eines Staates.
In dieser Geschichte, damit dieser Krieg nicht explodiert, ist es wichtig, dass die Nato seit Beginn alles versucht, um ja nicht Kriegspartei zu werden. Die Nato unterstützt so wie Europa jenen Staat, der brutal überfallen wurde, bei der Selbstverteidigung, gleichzeitig müssen wir als Europa aber zeigen, dass unsere Friedensordnung eine wehrhafte ist. Das ist sehr bedauerlich. Wenn wir derzeit nach Russland schauen, das geprägt vom Nationalismus, vom Imperialismus und vom Ende der Menschenrechte ist, sehen wir eine Situation, die wir den russischen Bürgern und Bürgerinnen nicht wünschen.
Wir hoffen, dass es ein Danach zu diesem Regime gibt, dass auch Russland wieder in die Gemeinschaft der europäischen Staaten zurückfinden wird. Vorher darf es aber keinen Diktatfrieden geben. Das heißt, es darf nicht der Ukraine ein Frieden aufgezwungen werden, diktiert werden, der einen hohen Preis hat. (Zwischenruf des Bundesrates Steiner.) Wichtig ist auch, dass die internationale Gemeinschaft alles tut, um Kriegsverbrechen entsprechend zu ahnden.
Wenn wir uns in der Welt ein bisschen umschauen, so müssen wir mittlerweile allerdings mit Bedauern feststellen, dass eine ganze Staatengruppe, nämlich die Brics-Staaten, nicht die amerikanisch-europäische Sichtweise zu diesem schweren Krieg einnimmt. (Zwischenruf bei der ÖVP.) – Ja, die Brics-Staaten sind sehr wichtig, das sind alles aufstrebende Volkswirtschaften, die von ihrer Währung und von ihrer Ökonomie her nicht unbedeutend sind. – Umso wichtiger ist es, dass die UN-Generalversammlung einen Beschluss gefasst hat: Ziehen Sie Ihre Truppen zurück! Da kann man nur sagen: Danke an die UN, dass dieser mit so hoher Zustimmung möglich war. (Beifall bei der SPÖ, bei Bundesrät:innen der Grünen sowie des Bundesrates Himmer.)
Wir müssen aber auch China danken, dass es sich so klar positioniert hat, was den Einsatz von Nuklearwaffen betrifft. China ist durchaus ein Verbündeter Russlands, aber China hat eine Grenze gezogen und gesagt: Taktische Nuklearwaffen dürfen nicht eingesetzt werden! – Ich denke, das ist von besonderer Bedeutung.
Kommen wir zu Österreich und zu unserer Rolle: Ich teile alles, was meine Vorrednerin zu den Flüchtlingen gesagt hat. Ich möchte da vielleicht noch einen kleinen Punkt anhängen: Herr Bundesminister, es war eine großartige Idee der Bundesregierung, Flugzeuge nach Moldawien zu schicken, diesem Land zu helfen und ukrainische Flüchtlinge aus Moldawien zu holen. Zweitens: Es war eine großartige Aktion, mit Bussen aus Österreich in die Ukraine zu fahren und Kinder mit besonderem Bedarf samt ihrem medizinischen Personal und samt ihren Angehörigen nach Österreich zu holen, weil diese schwer psychisch und physisch beeinträchtigten Kinder unter dem heranrollenden Donner des Krieges noch mehr beeinträchtigt gewesen wären. Es ist klar, dass man solchen Kindern nicht die ihnen gewohnte medizinische und psychische Unterstützung vorenthält. Das heißt, wir haben alle geholt. Wir haben alle geholt und auch ihre Eltern. Das halte ich für ganz wichtig.
Was Moldawien betrifft: Moldawien ist im Augenblick nicht bedroht, aber gefährdet, und zwar durch eine hybride Destabilisierung und durch einen Oligarchen, Herrn Șor, wenngleich er sich nach Israel abgesetzt hat. Es ist wichtig, dass die Europäische Union ein ganz besonderes Auge auf Moldawien hat und Österreich im Rahmen der Donauinitiative, bei der es ja um eine verstärkte Kooperation mit Moldawien betreffend die Entwicklung des Humanpotenzials geht, weiter aktiv bleibt, denn da sind schon ganz großartige Dinge passiert.
Was ich aber bedaure, Herr Minister, ist, dass wir in der Verteidigung unserer Neutralität und in der Werbung für unsere Neutralität so leise geworden sind. Ich selber habe eine Vortragsreise durch Deutschland gemacht – Köln, Aachen und so weiter –, bei der ich um Verständnis für die österreichische Neutralität geworben habe. Das heißt nicht, dass wir einen Krieg nicht als solchen bezeichnen und einen Aggressor nicht als solchen verurteilen, sondern damit meine ich, dass die Neutralität ein Wert an sich ist und dass wir für diesen Wert zu kämpfen haben. Deshalb ist es auch wichtig, dass Österreich, wenn die EU beschließt, Munition zu kaufen, gemeinsam mit den wenigen verbliebenen Neutralen eine konstruktive Enthaltung macht, weil das ja unser Neutralitätsgesetz gebietet. (Beifall bei der SPÖ.)
Ich hätte mir zum Beispiel vom Außenminister der Republik Österreich schon gewünscht, dass er auch einmal mit den Schweden und den Finnen klare Worte redet. Ich habe das gemacht. Ich habe den Schweden gesagt: Warum verlasst ihr die Neutralitätsgemeinschaft? Ihr schwächt damit die Neutralen, vor allem jene, die völkerrechtlich neutral sind! – Finnland ist ja nicht völkerrechtlich, sondern nur außenpolitisch neutral.
Was ich auch vermisse, ist die Friedensinitiative, die endlich aus Europa kommen muss. Es gibt eine Friedensinitiative von China, über die man so oder so denken kann, aber es bedarf einer Friedensinitiative, die aus Europa kommt, und gerade ein neutraler Staat wie Österreich hätte dabei eine Rolle zu spielen. Eine Fußnote in der Geschichte ist, dass Erdoğan und die Türkei, ein Nato-Staat, da zum großen Vermittler geworden sind und sowohl den Gefangenenaustausch als auch die vorhin von der Frau Kollegin angesprochenen Getreidelieferungen vermitteln.
Im Rahmen des Europarates mussten wir reagieren, bitter reagieren. Wir mussten die Russische Föderation ausschließen, nachdem wir jahrelang versucht haben, mit der Russischen Föderation wieder eine Arbeitsbasis zu finden. Dazu kommt, dass sehr, sehr viele Verfahren aus der Zeit der Mitgliedschaft beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte noch anhängig sind; diese werden aber abgewickelt. Das ist ein ganz wichtiges Signal an die russische Bevölkerung, deren Meinungsfreiheit gecancelt ist, dass diese Verfahren alle noch durchgeführt und nicht abgebrochen werden.
In diesem Sinne hoffe ich, dass wir bald eine europäische Friedensinitiative bekommen, sodass am Ende nicht nur die Waffenproduzenten die großen Gewinner sind. – Danke. (Beifall bei der SPÖ.)
9.23
Präsident Günter Kovacs: Herzlichen Dank, Herr Bundesrat.
Als Nächster zu Wort gemeldet ist Herr Bundesrat Dr. Johannes Hübner. – Bitte sehr, Herr Bundesrat.