12.56

Bundesministerin für EU und Verfassung im Bundeskanzleramt, betraut mit der Vertretung der Bundesministerin für Frauen, Familie, Jugend und Integration Mag. Karoline Edtstadler: Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren Abgeordnete! Hohes Haus! Geschätzte Zuseherinnen und Zuseher! Gäbe es die EU nicht, müssten wir sie jetzt gründen. Dieses Zitat stammt vom ehemaligen Bundes­kanzler Wolfgang Schüssel, und er hat es am 9. Mai dieses Jahres am Europatag in einem gemeinsamen Interview gesagt.

Als überzeugte Europäerin stimme ich ihm zu 100 Prozent zu, und als überzeugte Europäerin bin ich auch der festen Überzeugung, dass es genau diese Diskussion über diese Europäische Union hier in diesem Hohen Haus braucht.

Deshalb möchte ich mich eingangs dafür bedanken, dass das möglich ist, und gleichzeitig schon auch meiner Verwunderung darüber Ausdruck verleihen, dass manche eine Europaerklärung als Provokation oder als Ablenkungsmanöver sehen. Ich sage Ihnen: Für mich steht Europa an erster Stelle! (Beifall bei der ÖVP und bei Abgeordneten der Grünen. – Abg. Amesbauer: ... und für mich Österreich!)

Die letzten Monate, die letzten eineinhalb Jahre haben ganz deutlich die Stärken, aber auch die Schwächen der Europäischen Union zutage befördert. Wir haben erlebt, was es bedeutet, wenn von heute auf morgen Grenzbalken heruntergehen, von denen viele von uns, insbesondere der jungen Generation, gar nicht mehr wussten, dass sie jemals dort waren. Wir haben erlebt, was es bedeutet, wenn Facharbeiterinnen und Facharbei­ter aus den umliegenden Mitgliedstaaten nicht mehr ohne Hürden täglich nach Österreich einpendeln konnten. Wir haben auch erleben müssen, was es bedeutet, wenn Familien von einer Sekunde auf die andere ohne ihre 24-Stunden-BetreuerInnen für die Eltern und die Großeltern auskommen müssen. Und wir haben auch gesehen, was es heißt, wenn man zum Beispiel vom Salzburger Pinzgau plötzlich nicht mehr 45 Minuten, sondern 2 Stunden ins Krankenhaus nach Salzburg braucht, weil man nicht über das Deutsche Eck fahren kann. (Präsident Hofer übernimmt den Vorsitz.)

Vieles, meine sehr geehrten Damen und Herren, ist nicht perfekt gelaufen. Vieles hat aber auch gut funktioniert: Denken Sie an die zahlreichen Wirtschaftshilfen, an die Hilfsprogramme, an den 750 Milliarden Euro schweren Wiederaufbaufonds, der letztlich in einer Marathonsitzung aller Staats- und Regierungschefs beschlossen worden ist! (Abg. Hauser: ... kreditfinanziert! ... jedes europäische Gesetz gebrochen!) Denken Sie daran, dass es in ganz kurzer Zeit – und niemand hätte das für möglich gehalten – gelungen ist, Impfstoffe von mehreren Firmen auf den Markt zu bringen, zuzulassen, zu produzieren und den Menschen gratis zur Verfügung zu stellen! (Zwischenruf des Abg. Stefan.) All das ist schneller gegangen, als wir es am Anfang geglaubt haben.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, seit ich Europaministerin bin, hatte ich die Gelegenheit, viele Menschen aus allen Mitgliedstaaten der Europäischen Union kennen­zulernen. Ich hatte auch die Möglichkeit, viele Mitgliedstaaten zu bereisen, mir ein Bild vor Ort zu machen, und ich sage Ihnen: Ich bin immer wieder aufs Neue beeindruckt, wie dieser European Way of Life, diese Vision für ein Europa der Freiheit, des Friedens und des Wohlstandes auf diesem Kontinent seit Ende des Zweiten Weltkriegs kontinuierlich umgesetzt worden ist.

Bei allen Differenzen, die es immer wieder gibt, einen uns Werte wie Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte, und das ist unser gemeinsames Fundament der Zusammenarbeit. Ich sage Ihnen aber auch, es bewegt mich zutiefst, wenn man den Zustand der Europäischen Union im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts ganz nüchtern betrachtet, denn dann muss man sagen, dass diese Europäische Union einer Baustelle gleicht.

Die „Mehrheit der Österreicher sieht EU als gescheitert“: Diese Aussage stammt nicht von mir, sie findet sich in der Studie des European Council on Foreign Relations, durchgeführt im April und Mai dieses Jahres. Oder: „Nirgends ist das Image der EU schlechter als in Österreich.“ – Das besagt die aktuelle Eurobarometer-Umfrage.

Meine Damen und Herren, das lässt mich nicht kalt. Ich habe Tausende Menschen getroffen – virtuell, physisch, bei Sprechtagen in den Bundesländern, bei Diskussions­veranstaltungen –, und nach all diesen Gesprächen muss ich Ihnen sagen, ja, die Österreicherinnen und Österreicher haben recht, denn die großen Herausforderungen sind nach wie vor ungelöst. Denken Sie etwa an den unvollendeten Binnenmarkt: Unsere Wirtschaft braucht den Binnenmarkt so unglaublich dringend, um im globalen Wettbewerb bestehen zu können. Denken Sie an die Migrationsproblematik, die wir nur gemeinsam und entschieden auf europäischer Ebene lösen können, oder denken Sie an die Digitalisierung, wo wir, von Großkonzernen aus den USA und China getrieben, hinterherhinken!

Ja, die EU steht heute vor einer existenziellen Bedrohung. Sprechen wir diese Wahrheit aus und sprechen wir diese Wahrheit an! Reden wir darüber, und zwar ohne in alte Denkmuster zu verfallen, in Denkmuster, die etwa heißen: Wer kritisiert, ist antieuro­päisch! Wer kritisiert, hilft nur den EU-Gegnern! Wer kritisiert, ist ein Populist! (Zwischen­ruf der Abg. Steger.)

Ich bin davon überzeugt, wer heute noch so denkt, gefährdet Europa, wer heute noch so denkt, schafft Raum für antieuropäische Tendenzen und hat das Ohr nicht beim Bürger und bei der Bürgerin. Ich sage Ihnen, wir müssen die Europäische Union kritisieren, nicht weil wir antieuropäisch sind, sondern vielmehr weil wir proeuropäisch sind, und zu diesem proeuropäischen Weg sehe ich keine Alternative. Das setzt aber auch voraus, dass wir die Probleme ansprechen, dass wir über Lösungen diskutieren. Leicht wird das auch in Zukunft nicht sein, es wird nicht leicht, einen Konsens zu finden, aber es sollte sich lohnen. (Beifall bei der ÖVP und bei Abgeordneten der Grünen.)

Deshalb freue ich mich auch sehr, dass die Präsidentin der Europäischen Kommission Ursula von der Leyen die Idee von Emmanuel Macron, dem französischen Präsidenten, aufgegriffen hat und die Zukunftskonferenz für die Europäische Union ins Leben gerufen hat. Die österreichische Bundesregierung hat das von Anfang an begrüßt, und ich als Europaministerin habe mich auch immer dafür eingesetzt, dass diese Zukunftskonferenz möglichst schnell startet. Ich gebe zu, pandemiebedingt gab es auf europäischer Ebene eine Verzögerung von einem Jahr, aber am 9. Mai dieses Jahres, am Europatag – der auch der Muttertag war –, konnte diese Zukunftskonferenz auch auf europäischer Ebene gestartet werden.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, das ist die Chance, mitzudiskutieren, mitzu­denken und mitzugestalten, in der Gemeinde, in den Vereinen, in der Schule, in kleinen und in großen Konferenzen in ganz Österreich. Nur zu raunzen ist tatsächlich zu wenig. Wer nicht zufrieden ist, der sollte jetzt damit anfangen, mitzugestalten. Wer nicht zufrie­den ist, der sollte sich jetzt als Inputgeber hervortun, Veranstaltungen und Diskussions­veranstaltungen machen, jedenfalls daran teilnehmen, denn das ist die reale Chance, unsere gemeinsame Zukunft zu gestalten, die Probleme endlich klar und deutlich anzusprechen und auch überzeugte Lösungsansätze zu entwickeln.

Einige dieser Forderungen – die ziehe ich aus vielen Gesprächen, die ich schon geführt habe – möchte ich an dieser Stelle auch anführen: Ich fordere, dass die Wirtschaft nicht weiter gehemmt wird. Die EU ist Weltspitze, wenn es darum geht, Regulierungen zu entwerfen. Europa hat die Regeln, China und die USA haben den Gewinn. Daten- und Konsumentenschutz sind wesentlich, wenn es aber keine Arbeitsplätze mehr gibt, dann sind sie wohl weniger wert. Der Fokus muss endlich auf Innovation liegen. Wir brauchen dynamischere Märkte, sonst werden wir abgehängt. (Beifall bei der ÖVP sowie der Abgeordneten Maurer und Rössler.)

Der European Way of Life war immer auf sozialem Zusammenhalt und wirtschaftlicher Stärke aufgebaut. Das war unser Erfolgsrezept der letzten 70 Jahre, und das sollte es auch in Zukunft sein. Ich fordere ein echtes Bekenntnis zum Freihandel. Wir alle kennen die Probleme um Mercosur, und die österreichische Bundesregierung ist gegen das vorliegende Mercosur-Abkommen in der jetzigen Form, aber wir brauchen eine Lösung und wir brauchen auch Freihandel, auch mit Lateinamerika. Wir brauchen auch den Wettbewerb nicht zu scheuen. Am Ende werden wir mit EU-Freihandelsabkommen immer besser dastehen und davon profitieren. Warum? – Weil wir damit die Möglichkeit haben, die Rahmenbedingungen mitzugestalten und sie uns nicht von anderen diktieren zu lassen. (Beifall bei der ÖVP.)

Ich fordere, das Versprechen gegenüber den Ländern des Westbalkans endlich einzulösen. Es geht um die Glaubwürdigkeit der Europäischen Union. Es geht aber auch um die Sicherheit für die Europäische Union. Solange die Länder des Westbalkans nicht Teil der Europäischen Union sind, ist die Europäische Union nicht vollständig. Das wird noch ein langer Weg, aber auch dieser lange und steinige Weg wird sich lohnen, wenn wir diese Länder unterstützen. (Beifall bei der ÖVP sowie der Abgeordneten Disoski und Maurer.)

Ich fordere, die illegale Migration entschlossen zu beenden. Die Probleme der Welt lassen sich weder auf den griechischen Inseln noch auf den Booten im Mittelmeer lösen. Ja, meine sehr geehrten Damen und Herren, jeder auf der Welt sollte den Anspruch darauf haben, nach dem European Way of Life zu leben, aber bleiben wir realistisch, nicht jedem Menschen auf der Welt werden wir diesen European Way of Life in Europa ermöglichen können, und es ist wohl unsere Aufgabe, unsere Werte, unsere Haltung zu exportieren, damit auch in anderen Teilen der Welt eine Perspektive geschaffen werden kann. Das ist aus meiner Sicht die einzig gangbare Möglichkeit, diese Probleme zu lösen. (Präsident Hofer gibt das Glockenzeichen. – Abg. Deimek: Und aus! – Zwischen­ruf des Abg. Hafenecker.)

Ich fordere eine schlankere und eine schnellere Europäische Union, eine Europäische Union, die nicht ein Parlament hat, das zwischen zwei Sitzen hin- und herpendelt und für 27 Kommissare ein Portfolio zur Verfügung stellt. Wir müssen die Institutionen und Prozesse dynamisieren. Wir brauchen mehr Gewicht in der Außenpolitik. Wir müssen geeint mit Industrie und Wirtschaft entschieden gegen den Klimawandel ankämpfen, damit wir unser Ziel, im Jahr 2050 der erste klimaneutrale Kontinent zu sein, auch ein­halten können und das auch gewähren können. (Präsident Hofer gibt neuerlich das Glockenzeichen. – Abg. Schnedlitz: ... ganze Zeit auf die rote Lampe!)

Wir müssen mit einer Stimme sprechen und Europa als gemeinsame Stärke nutzen. Die großen Fragen können wir nur gemeinsam lösen, die kleineren können wir auch in den Regionen belassen. Reden wir jetzt über die Zukunft der Europäischen Union! Beteiligen Sie sich, reden Sie mit, wenn es darum geht, in der Zukunftskonferenz die Europäische Union der Zukunft zu gestalten! Es lebe die Republik Österreich in einem starken, geeinten, zukunftsorientierten Europa, in einer starken Europäischen Union, die die Bür­gerinnen und Bürger Österreichs entscheidend mitgestalten! – Vielen Dank. (Beifall bei der ÖVP und bei Abgeordneten der Grünen. – Zwischenrufe bei SPÖ und FPÖ.)

13.08

Präsident Ing. Norbert Hofer: Ich erteile nun der Bundesministerin für Klimaschutz, Umwelt, Energie, Mobilität, Innovation und Technologie das Wort. – Bitte, Frau Bundes­ministerin.