9.07

Abgeordnete Dr. Pamela Rendi-Wagner, MSc (SPÖ): Herr Präsident! Herr Bundes­kanzler! Sehr geehrte Frau Ministerin! Herr Staatssekretär! Sehr geehrte Damen und Herren! Die gute Nachricht ist: In Österreich wächst das Vermögen – trotz Corona, we­gen Corona, keiner weiß das so genau, und es ist auch völlig egal, weil die schlechte Nachricht gleichzeitig ist: Es profitieren nicht alle davon. Wie das Vermögen gestiegen ist, ist in Österreich gleichzeitig auch die Armut gestiegen. 1,5 Millionen Menschen in Österreich sind derzeit armutsgefährdet oder leben schon in Armut. Es sind vor allem Kinder, es sind ältere Frauen, es sind Alleinerzieherinnen und es sind Langzeitarbeitslo­se, die ganz besonders von Armut gefährdet und betroffen sind, deren Zahl in dieser Coronazeit noch gestiegen ist.

Aber auch immer mehr Menschen, die arbeiten gehen, die eine Arbeit haben, ein Ein­kommen haben, kommen immer mehr unter Druck. Das Problem ist längst nicht mehr das Problem einer kleinen Gruppe, es ist längst in der Mittelschicht unserer Gesellschaft angekommen. Immer mehr kommen mit ihrem Einkommen einfach nicht mehr über die Runden – vom sozialen Aufstieg ganz zu schweigen.

Diese Strickleiter des sozialen Aufstiegs, den es in den Siebziger-, Achtzigerjahren ge­geben hat, von dem wahrscheinlich zwei Drittel der hier anwesenden Abgeordneten pro­fitiert haben – so wie ich auch und wahrscheinlich auch Sie, Herr Bundeskanzler –, diese Strickleiter des sozialen Aufstiegs ist so gut wie gerissen, spätestens seit Corona. Laut Nationalbank und Arbeiterkammer besitzt aktuell das reichste 1 Prozent unserer Bevöl­kerung 40 Prozent des Vermögens in Österreich – 40 Prozent!

Corona hat diese Vermögensschieflage noch weiter verschärft. Es ist die hohe Arbeits­losigkeit, es ist der Wirtschaftseinbruch, weswegen sich die Vermögen in Österreich noch ungleicher verteilt haben. Reiche wurden reicher, Arme wurden ärmer. Sagen wir es, wie es ist: Diese Krise hat Gewinner, aber auch Verlierer produziert – viel mehr Ver­lierer als Gewinner –, und darüber müssen wir alle reden. (Beifall bei der SPÖ. – Zwi­schenruf des Abg. Michael Hammer.)

Warum? – Diese Ungleichheit, diese Ungerechtigkeit ist schlecht, sie ist gefährlich und sie ist ungesund. Sie ist nicht nur für die Abstiegs- und Armutsbetroffenen selbst gefähr­lich, sie ist für uns als Gesellschaft, für die Gesellschaft als Ganzes, für uns alle unge­sund. Sie bedroht nämlich eines, was uns so kostbar sein muss: unseren sozialen Frie­den in Österreich. Die Folge ist klar: Eine Gesellschaft, in der es nicht gerecht zugeht, wird auch wirtschaftlich weit hinter ihren Möglichkeiten zurückbleiben – das ist in Zeiten der Wirtschaftskrise ein großes Problem –, ja, sie wird am Ende von ihren inneren Kon­flikten zerrissen werden. Das ist die Folge der Ungleichheit.

Eine Frage muss dabei gestellt werden: Was ist uns unser sozialer Frieden wert? Was ist er Ihnen wert, Herr Bundeskanzler? Ich bin überzeugt davon, dass viele Vermögende bereit wären, einen Beitrag zum Erhalt genau dieses sozialen Friedens in Österreich zu leisten, mehr Beitrag zu leisten. (Abg. Wöginger: Zahlen eh schon Steuern! – Zwischen­ruf des Abg. Kassegger.) Vor ein paar Tagen hat der Vorstandsvorsitzende des immer­hin größten Versicherungskonzerns der Welt, der Allianz – Sie werden ihn kennen –, Oliver Bäte, der „Süddeutschen Zeitung“ ein sehr bemerkenswertes Interview gegeben. Er hat folgenden Satz gesagt: „Es geht nicht mehr gerecht zu.“ Weiters hat er gesagt: „Die Vermögensanhäufung findet im Moment vor allem über Erbschaften statt, nicht durch Einkommen. Aber wir besteuern immer stärker die Einkommen. [...] die Erb­schaftssteuer muss steigen.“ (Beifall bei der SPÖ. – Zwischenruf des Abg. Wöginger.)

Sie alle kennen auch die Aussagen des ehemaligen Erste-Group-Chefs Andreas Treichl, der – ich glaube, es war 2018 – gesagt hat: „Erben ist keine Leistung.“ (Abg. Kickl: Und was ist die Leistung des Staates ...?) Auch Hans Peter Haselsteiner hat vor zwei Jahren öffentlich gesagt, dass eine Vermögensteuer ein wichtiges Mittel zur Korrektur dieser Ungleichheit in der Gesellschaft wäre. (Abg. Loacker: ... war aber nicht dabei!) – Sie alle haben recht. (Zwischenruf des Abg. Wöginger.) Angesichts dieser Jahrhundertkrise ha­ben sie alle noch mehr recht, denn die Kosten dieser Krise sind enorm, sehr geehrte Damen und Herren, und diese Kosten werden bezahlt werden müssen. (Abg. Kasseg­ger: ... Staatsbürgerschaften verschenken!) Von wem werden diese Kosten aber bezahlt werden müssen – von wem? Herr Bundeskanzler, was sind Ihre Vorschläge dazu?

Die Antwort sollten Sie heute geben, denn eines wird sich mit Sicherheit nicht ausgehen: dass diese enormen Krisenkosten auf die Schultern der Arbeitnehmer, der Arbeitnehme­rinnen und der Pensionisten dieses Landes gelegt werden (Beifall bei der SPÖ – Abg. Wöginger: Kein einziger Pensionist hat weniger gekriegt, kein einziger!), auf die Schul­tern jener, die schon jetzt den Löwenanteil, nämlich 80 Prozent, der gesamten Steuern zahlen – 80 Prozent!

Auf die Frage: Wer zahlt die Kosten?, Herr Bundeskanzler, kann es eigentlich nur eine einzige Antwort geben. Wenn es in unserem Land gerecht zugehen soll, wenn der so­ziale Friede in Österreich gesichert sein soll, kann es nur eine Antwort geben, nämlich: Es müssen endlich alle, wirklich alle einen fairen Beitrag leisten (Zwischenruf des Abg. Wöginger); und dabei muss Folgendes gelten: Breitere Schultern sollen größere Lasten tragen! (Abg. Wöginger: Bodybuilder wahrscheinlich!) Wann, wenn nicht jetzt, sind Ab­gaben auf Millionen- und Milliardenvermögen, auf Erbschaften dringend notwendig? Wann, wenn nicht jetzt, das frage ich Sie, ist es notwendig, dass internationale Online­multis endlich ihre Verantwortung übernehmen? (Beifall bei der SPÖ.)

Es geht um Onlinemultis wie Amazon, die in Europa Steuerschlupflöcher nützen, um in Österreich Milliardengewinne zu machen – Gewinne, die wegen Corona letztes Jahr noch größer ausgefallen sind –, Onlinemultis, die aber keine Steuern in Österreich zah­len, keine Steuern in Europa zahlen, sondern letztes Jahr in Europa sogar eine Steuer­gutschrift bekommen haben. Das ist ungerecht. Es ist auch allen heimischen Unterneh­merinnen und Unternehmern gegenüber ungerecht, die jedes Jahr pünktlich ihre Abga­ben und Steuern leisten.

Diese Beiträge sind wichtig, sie sind notwendig für uns alle, damit wir trotz dieser enormen Krisenkosten Österreich für die Zukunft rüsten. Wir dürfen nicht darauf verges­sen, Österreich zukunftsfit zu machen. Warum? – Weil es auch in Zukunft notwendig sein wird, diesen Sozialstaat weiter zu stärken, um in Schulen, um in Kindergärten, in Spitäler, in Forschung und Entwicklung zu investieren, um die Wettbewerbsfähigkeit Ös­terreichs gegenüber anderen, mit uns konkurrierenden Ländern voranzutreiben. (Zwi­schenruf des Abg. Kassegger.) Ja, wir brauchen endlich ein Steuersystem, das für mehr Verteilungsgerechtigkeit in Österreich sorgt. (Beifall bei der SPÖ.)

Herr Bundeskanzler, es ist eindeutig zu wenig, die Heldinnen und Helden der Krise wochenlang zu beklatschen und am Ende der Krise genau diesen Heldinnen und Helden die dicke, fette Krisenrechnung zu servieren. Das wird sich nicht ausgehen, Herr Bun­deskanzler. (Beifall bei der SPÖ.)

Was wir jetzt in dieser postpandemischen Zeit so dringend brauchen, ist eine Wirt­schafts- und Sozialpolitik, die für alle in Österreich funktioniert, die unsere Gesellschaft von unten und aus der Mitte heraus wieder aufbaut, die sie hebt; ein Wachstum, das bei allen ankommt; eine Gerechtigkeit, die den sozialen Aufstieg wieder ermöglicht, die Zu­versicht und Optimismus für alle schafft; eine Verteilungsgerechtigkeit durch einen ab­gesicherten Sozialstaat, ja, eine Verteilungsgerechtigkeit durch anständige Löhne für die hart arbeitenden Menschen in Österreich, eine Verteilungsgerechtigkeit für ein soziales Netz, das niemanden in Österreich zurücklässt, mit einer anständigen Arbeitslosengeld­entschädigung, von der man auch leben kann. (Beifall bei der SPÖ.)

Sehr geehrte Damen und Herren, all das ist keine Frage der Ideologie – nein! –, sondern es ist eine Frage der Fairness, es ist eine Frage der Gerechtigkeit, es ist eine Frage der Vernunft und es ist eine Frage, wie viel wert uns unser sozialer Frieden in Österreich ist. Herr Bundeskanzler, Sie haben es in der Hand. – Vielen Dank. (Beifall bei der SPÖ.)

9.17

Präsident Mag. Wolfgang Sobotka: Zu einer einleitenden Stellungnahme zu Wort gemeldet ist der Herr Bundeskanzler. Ich darf ihm das Wort erteilen. – Bitte sehr. (Abg. Wöginger: Jetzt wissen wir, warum es nur 75 Prozent waren! – Abg. Belakowitsch: Bissl mehr Respekt, der Kanzler spricht! – Zwischenruf des Abg. Leichtfried.)