11.55
Abgeordnete Mag. Beate Meinl-Reisinger, MES (NEOS): Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrter Herr Bundeskanzler! Herr Vizekanzler! Werte Mitglieder der Bundesregierung! Werte Kolleginnen und Kollegen! Werte Zuschauerinnen und Zuschauer! Ja, ich bin auch alt genug, um den Fall des Eisernen Vorhangs und auch den Fall der Berliner Mauer durchaus hautnah und auch schon sehr emotional – vielleicht nicht in der Tragweite der historischen Dimension, aber durchaus – miterlebt zu haben.
Es ist völlig klar, dass – ich habe meine Rede gestern am Abend geschrieben, ich hätte auf die Rede Putins Bezug genommen – man natürlich sagen muss, mit dem aggressiven Akt des Angriffs auf die Ukraine – aber auch schon in dieser Rede war das klar – hat er mit einem Strich diese Sicherheitsordnung, die politische Ordnung, die wir in Europa nach dem Fall des Eisernen Vorhangs erlebt haben, vom Tisch gewischt. Er hat einen Schlussstrich gezogen, und es ist geradezu naiv zu glauben, dass es da wieder ein Zurück zu dieser alten Ordnung gibt.
Er hat der Ukraine nichts anderes als das Recht auf Selbstbestimmung abgesprochen, schon in seiner Rede und selbstverständlich mit dem Aggressionskrieg, den er heute begonnen hat. Genau diese Selbstbestimmung, dieser Weg zur Selbstbestimmung, den die Ukraine mit der Majdanbewegung, mit der Annäherung an die Europäische Union in Richtung Westen, in Richtung Freiheit, in Richtung Marktwirtschaft, in Richtung Demokratie, in Richtung EU gegangen ist, ist es, der jetzt am Spiel steht. Damit ist dieser Angriff Putins aber nichts anderes als ein Angriff auf die gesamte westliche Welt und gerade auf die Europäische Union und die Werteordnung, die wir hier in dieser Europäischen Union haben und in der wir auch verbunden sind. Es geht um nichts weniger – da hat der ukrainische Präsident recht – als um die Sicherheit Europas. Die Sicherheit Europas und damit die Sicherheit Österreichs wird jetzt in der Ukraine entschieden. (Beifall bei NEOS, ÖVP und Grünen.)
Deshalb sage ich ganz klar: In dieser Frage gibt es keine Neutralität. Österreich als Teil der Europäischen Union muss ganz klar Stellung beziehen, sonst haben Putins Totalitarismus und Aggressionskrieg schon gewonnen.
An dieser Stelle möchte ich ganz klare Worte gegenüber denjenigen finden, die seit Jahren und Jahrzehnten willfährige Erfüllungsgehilfen von Desinformationskampagnen und auch Destabilisierungskampagnen aus Russland sind. Es sind übrigens die, die jetzt gerade Neutralität einfordern und kein Problem damit haben, mit Putin Freundschaftsabkommen abzuschließen. Es sind vor allem die Rechten in Europa und hier im Haus die FPÖ. Sie tragen diese Desinformationskampagnen weiter. Sie lassen sich aus Russland finanzieren. (Rufe bei der FPÖ: Lüge! – Weitere lebhafte Zwischenrufe bei der FPÖ.) Es sind die Rechten in Europa (Abg. Deimek: Das ist ein Skandal! – Abg. Martin Graf: Wer ist Geschäftspartner von ...?), die von Freiheit reden und offensichtlich ein sehr kindisches Verständnis von Freiheit haben (weitere Zwischenrufe bei der FPÖ), wenn es Ihnen darum geht, im Parlament keine Maske zu tragen. (Präsident Sobotka gibt das Glockenzeichen.) Dann aber, wenn die Freiheit wirklich am Spiel steht – Selbstbestimmung, Demokratie, Meinungsfreiheit, Pressefreiheit –, dann ducken Sie sich weg, dann vergessen Sie, dass Oppositionelle, dass Angehörige freier Medien vergiftet und ins Gefängnis gesteckt werden. Sie sind keine Vertreter der Freiheit, Sie sind Verräter der Freiheit! (Beifall bei NEOS, ÖVP und Grünen.)
Ihnen zur Seite stehen Teile der Linken, die aus einer modrigen Antikapitalismussehnsucht heraus stets parat stehen, gegenüber dem Totalitarismus blind zu sein (neuerliche Zwischenrufe bei der FPÖ), der an den Tag gelegt wird – ein wenig USA-Feindlichkeit hier, ein bisschen Putin-Relativieren (Zwischenruf des Abg. Amesbauer) auf der anderen Seite, und schon steht man Seite an Seite mit den rechten Recken, die man sonst so verachtet.
Kommen wir aber wieder zu Europa! Putin hat zwei Kalküle: Das erste Kalkül ist, dass es niemand auf eine militärische Eskalation ankommen lassen wird, und das zweite Kalkül ist – und ich hoffe, dass das nicht aufgehen wird –, dass Europa wieder einmal nicht entschlossen, geschlossen, geeint und tatkräftig reagiert. In der Tat haben die letzten Wochen meines Erachtens wieder einmal gezeigt, wie naiv Europa – man muss jetzt sagen – in diesen Krieg taumelt, ein Krieg, den man am Verhandlungstisch verhindern wollte und noch weiter will – und das muss immer das Mittel sein, aber mit einem Kriegstreiber, der sich nicht an den Verhandlungstisch setzt, in einer Situation, in der wir kein Gewicht an diesem Verhandlungstisch haben. (Präsidentin Bures übernimmt den Vorsitz.)
Die letzten Wochen haben doch eines gezeigt: Die EU mag besorgt sein, aber sie ist passiv gewesen, um nicht zu sagen: irrelevant.
Einzelne Staatschefs wie Emmanuel Macron versuchen, voranzugehen, eine Lösung zu finden und auch durchaus eine Vermittlerrolle einzunehmen – und ich bin sehr dankbar, dass es diese Initiativen gibt –, aber es fehlte die entschlossene und geschlossene Verhandlungsmasse, das Gewicht. Ja, wir können Sanktionen verhängen, und die müssen auch sehr scharf sein – sie müssen für den Kreml spürbar sein; und sie werden auch weiter gehen müssen, dazu gibt es heute ja schon klare Aussagen von Baerbock, und dafür bin ich auch sehr dankbar –, doch Putin weiß, dass es selbst über diese Sanktionen nicht immer Einigkeit gegeben hat. Putin weiß noch mehr, nämlich dass es in Bezug auf die Frage der Sicherheits- und Verteidigungspolitik in Europa keine Einigung gibt, und daher sage ich auch: Schluss mit dieser Naivität! Am Verhandlungstisch zählt das militärische Potenzial mindestens genauso viel wie alle wirtschaftlichen Hebel.
Ich bin überzeugt davon, dass Europa am Scheideweg steht. Es entscheidet sich jetzt und in den nächsten Monaten und Jahren die Zukunft Europas: Entweder wir schaffen es jetzt, gemeinsam zusammenzustehen, für unsere eigenen Interessen einzutreten, handlungsfähig, entscheidungsfähig zu sein und damit auch selbstbewusst eine neue Sicherheits- und Verteidigungsarchitektur in Europa auf den Weg zu bringen, oder wir scheitern, wie die letzten Jahre auch gezeigt haben, an kleinlichen Egoismen, die über das große Ganze gestellt wurden.
Seit Jahren treten wir für ein gemeinsames EU-Heer und damit echte Wehrhaftigkeit ein. Wir haben dafür viel Kritik einstecken müssen, aber ich glaube, gerade heute ist der Zeitpunkt, genau das wieder zu besprechen. Es wird sich nicht von heute auf morgen verwirklichen lassen, aber wann, wenn nicht jetzt, muss Europa aufwachen? Und es muss doch gerade ein Anliegen derer sein, denen die Abhängigkeit sowohl von Russland, aber auch von den USA ein Dorn im Auge ist, selbstbewusst auch für militärische Interessen Europas einzutreten, für Handlungsfähigkeit, Verteidigungsfähigkeit und Wehrhaftigkeit.
Diesbezüglich hoffe ich, dass auch Österreich einen Schritt in diese Richtung unternehmen wird, aber ein Schritt dorthin bedeutet auch, einmal eines sicherzustellen, was unsere österreichische Bundesverfassung auch vorsieht und was nicht nur diese Bundesregierung, sondern auch die Bundesregierungen davor meines Erachtens in schändlicher Weise vernachlässigt haben. Dabei geht es um nichts weniger als eine der Kernaufgaben des Staates: Das ist die umfassende Landesverteidigung.
Die umfassende Landesverteidigung Österreichs bezieht sich nicht nur auf militärische Fragen, sondern auch auf wirtschaftliche Fragen und damit die Reduktion von Abhängigkeiten, auf zivile Fragen und auch auf geistige Fragen. So manche Relativierung und so mancher Geschichtsrevisionismus der letzten Tage zeigt mir schon auch, dass wir da viel Arbeit vor uns haben, diese umfassende Landesverteidigung auf den Weg zu bringen, aber ich bin auch dafür, dass wir als Österreich entschlossen gemeinsam an einer europäischen Verteidigungsfähigkeit arbeiten.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, es ist Zeit zu handeln! Wir stehen mit der Ukraine, aber wir tun das für die Freiheit, für Europa, für Österreich. – Danke. (Beifall bei NEOS, ÖVP und Grünen.)
12.03
Präsidentin Doris Bures: Nun hat sich Herr Bundeskanzler Karl Nehammer zu Wort gemeldet. – Bitte.