9.08

Abgeordnete Dr. Pamela Rendi-Wagner, MSc (SPÖ): Herr Präsident! Sehr geehrter Herr Bundeskanzler! Sehr geehrte Damen und Herren! Bevor ich auf das Thema der Aktuellen Stunde eingehe, ist es mir persönlich und uns als Sozialdemokratie ein Anliegen (Ruf bei der ÖVP: Das ist jetzt ein Bewerbungs­gespräch!), Sie als Vizekanzler auch persönlich anzusprechen: Lieber Werner Kogler, wie geht es Ihnen heute eigentlich? Wie geht es Ihnen dabei, einer Regierung anzugehören, die damit in die Geschichte eingeht, die älteste Zeitung der Welt (Abg. Hörl: Wie geht’s der SPÖ, das ist die Frage!) heute zu Grabe zu tragen? (Beifall bei der SPÖ.)

Das ist die historische Leistung (Zwischenruf bei den Grünen) Ihrer Regie­rungsbeteiligung, und das ist eine Schande, lieber Werner Kogler. (Beifall bei der SPÖ. – Ruf bei der ÖVP: Themenverfehlung! – Abg. Wöginger: Wer hat dir denn das aufgeschrieben? – Abg. Steinacker: Das war irgendwie nicht ganz zum Thema! – Ruf bei der ÖVP: Ganz gesund war der Einstieg nicht!)

Es ist aktuell und es ist eine demokratiepolitische Schande (Abg. Steinacker: Wir haben eh eine eigene Debatte dazu!), liebe ÖVP und liebe Grüne. (Beifall bei der SPÖ sowie des Abg. Brandstätter. – Abg. Steinacker: Wir diskutieren es eh später!) Es sollte gerade in eurem Sinne sein, dass solche Dinge, die demokratie­schädigend sind (Zwischenrufe bei der ÖVP), die den Pluralismus unserer Medien­landschaft schwächen (Abg. Ottenschläger: Das ist ja unerhört!), nicht passieren. Das hätte ich mir persönlich als Bürgerin und als Politikerin von einer grünen Regierungsbeteiligung erwartet. (Beifall bei der SPÖ sowie des Abg. Amesbauer. – Abg. Laimer hält die heutige Ausgabe der „Wiener Zeitung“ mit der Überschrift „1703 2023“ auf der Titelseite in die Höhe. – Abg. Wöginger: Jetzt ist der Dosko ...! – Weitere Zwischenrufe bei der ÖVP.)

Ich möchte zum eigentlichen Thema der Aktuellen Stunde kommen und mit zwei Aussagen beginnen, die vor wenigen Tagen in der ORF-Sendung „Thema“ getätigt wurden. Ich bitte alle, wirklich zuzuhören, weil die Gesundheit auch Sie etwas angeht, liebe Damen und Herren. Es sind 9 Millionen Menschen von dieser Krise in den Spitälern und bei den Ärztinnen und Ärzten betroffen. (Beifall bei Abgeordneten der SPÖ.)

Ein Arzt schreibt vor wenigen Tagen anonym: Ich kann nicht länger hinnehmen, dass die Motiviertesten im Team, die Übermenschliches leisten, in einem Burn-out enden oder mit der Angst nach Hause gehen, Patienten umgebracht zu haben. – Zitatende. Ein Pfleger sagt: Es ist ein Gefühl von Hilflosigkeit. Wir rufen um Hilfe, aber nichts passiert. – Zitatende.

Sie rufen Sie um Hilfe, sehr geehrte Bundesregierung und sehr geehrte Damen und Herren! Das sind erschreckende Aussagen von Ärztinnen und Ärzten, von Pflegekräften, die Alarm schlagen.

Auch Österreichs Spitäler schlagen Alarm, zuletzt vor wenigen Tagen die Spitalsholding in der Steiermark. Aktuell sind in der Steiermark 622 Kranken­hausbetten gesperrt. (Abg. Hafenecker: ... Notstand in Wien! – Abg. Belakowitsch: Wien Ottakring!) Das bedeutet, jedes achte steirische Spitalsbett ist wegen Pflegekräftemangel, wegen Personalmangel gesperrt, und das sind 622 Spitals­betten, die in der Akutversorgung von schwerkranken und kranken Menschen in der Steiermark fehlen. (Abg. Belakowitsch: Wie viele sind es in Wien?)

Die Lage ist mehr als ernst, und deswegen haben wir heute dieses wichtige Thema auch zum Thema der Aktuellen Stunde gemacht. Aber dass es dafür die Opposition braucht, um dieses brennende, emotionale, wichtige Thema hier in diesem Hohen Haus zu besprechen und auf die politische Agenda zu setzen, sagt auch viel über den Zustand der türkis-grünen Koalition aus. (Beifall bei der SPÖ. – Abg. Wöginger: Über Zustand brauchen Sie nicht reden!) Während nämlich Ärzte und Ärztinnen, Pfleger und Pflegerinnen und auch Patientinnen und Patienten Alarm schlagen, streiten Sie in der Regierung seit Wochen über Verbrennermotoren.

Viele Patientinnen und Patienten können in der Zwischenzeit nicht mehr adäquat versorgt werden, weil das Personal fehlt. (Abg. Wöginger: Und über was streiten Sie in der Partei? Wohin soll ich mich wenden?! Wahnsinn! Schmerzbefreit!) Sie müssen österreichweit in Ambulanzen viele Stunden warten, weil das Personal fehlt. Menschen, die eigentlich Spitalsbehandlung benötigen, weil sie schwer krank sind, können nicht aufgenommen werden und werden nach Hause geschickt. Operationen werden monatelang verschoben, weil die OP-Pflege­rinnen und -Pfleger fehlen. Und immer mehr Stationen werden geschlossen, auch Notaufnahmen, weil das Gesundheitspersonal fehlt. (Abg. Michael Hammer: In Wien, oder?) Das ist dramatisch.

Diese Entwicklung ist aber nicht überraschend, sie ist nicht neu. Die Alters­struktur des Gesundheitspersonals, sehr geehrter Herr Vizekanzler, sollte der Regierung nämlich nicht erst seit heute bekannt sein. Wenn man sich mit dieser Frage näher beschäftigt, was Sie, nehme ich an, schon tun und was ich von einem grünen Gesundheitsminister auch erwarte, dann sollte auch bekannt sein, dass die Pensionierungswelle bei den Pflegerinnen und Pflegern, bei den Ärztinnen und Ärzten irgendwann – und zwar jetzt! – kommen wird, schlagend wird und dass diese Menschen in der Versorgung fehlen werden.

Jetzt wissen wir alle – die Blauen haben es ja schon erwähnt; das ist ihr ein­ziges Thema –: Die Pandemie hat natürlich die Situation in den Spitälern zweifelsohne noch weiter verschärft, keine Frage, weil die Arbeitsbedingungen für die Kolleginnen und Kollegen durch Covid noch schwieriger geworden sind, für manche sogar so schwierig, dass sie ihre Leistung nicht mehr erbringen konnten, die Grenze der Leistbarkeit überschritten war und sie gezwungen waren – nicht freiwillig! –, ihren Beruf zu wechseln, weil es anders nicht mehr machbar war.

Die Wahrheit ist aber: Die Coronapandemie ist auf ein bereits ermüdetes Gesundheitspersonal getroffen und hat es endgültig erschöpft – das ist die Wahrheit. Seit Jahren ist gesundheitspolitisch nichts in diesem Bereich passiert, weil die versprochene Patientenmilliarde der schwarz-blauen Kassenzerschla­gung (Abg. Kassegger: Das war die Regierung und nicht die Pandemie!) – ja, ja – in Wirklichkeit ein Milliardenloch – ein Milliardenloch, sehr geehrte FPÖ! – in unser Gesundheitssystem, in die Sozialversicherung gerissen hat. (Beifall bei der SPÖ. – Abg. Kaniak: Was hat die Sozialversicherung mit den Spitälern zu tun, Frau Rendi-Wagner?)

Das ist das Geld der Versicherten, das ist das Geld der Patientinnen und Patien­ten, der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer (Zwischenruf des Abg. Lausch), und das ist das Geld, das jetzt für die Ärztinnen und Ärzte, für bessere Arbeits­bedingungen, für die Pflegerinnen und Pfleger in unserem Land fehlt. (Beifall bei der SPÖ.)

Überschriften, Pressekonferenzen, viele Interviews des Gesundheitsministers sind rührend, ja nahezu rührend (Abg. Loacker: ... eure Funktionäre ...!), aber sie helfen keinem einzigen Patienten in unserem Land. Es braucht nämlich einen konkreten Plan, es braucht konkrete Maßnahmen, es braucht dringend mehr Gesundheitspersonal, mehr Kassenärztinnen und Kassenärzte, mehr Kinderärzte, Notärztinnen und ganz dringend mehr Pflegekräfte in den Pflegeheimen, aber auch in den Spitälern – 70 000 bis 100 000 Pflegekräfte, sagen die Expertinnen und Experten, in den nächsten Jahren bis 2030.

Um diesen wirklich drängenden Personalmangel zu bekämpfen, fordern wir konkret – und das nicht erst seit heute, schon seit sehr langer Zeit –:

Erstens: bessere Arbeitsbedingungen und bessere Bezahlung sowie Anerken­nung des Pflegeberufs als Schwerarbeit. Das ist das Mindeste. (Beifall bei der SPÖ.)

Zweitens: mehr Kassenverträge für Ärztinnen und Ärzte in ganz Österreich.

Drittens: Verdoppelung der Medizinstudienplätze und der Pflegeaus­bildungs­plätze.

Viertens: Ausbildungsgeld während der Pflegeausbildung, analog zu den Polizei­schülerinnen und -schülern – das macht die Ausbildung attraktiv, das macht den Beruf attraktiver; holen wir die jungen Menschen in die Pflege! (Beifall bei der SPÖ) –, aber auch Stipendien für Medizinerinnen und Mediziner, gekoppelt an eine Verpflichtung, für eine bestimmte Zeit im öffentlichen Versorgungsbereich tätig zu sein. (Abg. Schallmeiner: Was macht man da?)

Gleichzeitig muss man aber auch damit beginnen, sehr geehrte Bundesregierung, die Gesundheitsversorgung neu, zeitgemäß zu organisieren, neu zu gestalten, denn die Medizin hat sich in den letzten Jahren verändert, dramatisch verändert. Vieles, was früher mit mehrtägigen Spitalsaufenthalten und aufwendigen Operationen verbunden war, wird heute oft in Tageskliniken oder ambulant ganz schnell in ein paar Stunden erledigt. Und dem muss man Rechnung tragen.

Man muss vorausschauen, man muss schauen, was sich in den Spitälern und in der Medizin tut, und dem muss man Rechnung tragen – mit einer Stärkung der ambulanten, der wohnortnahen Versorgung in Form von zum Beispiel Primärversorgungszentren, Gesundheitszentren. Diese neuen Zentren bringen Patientinnen und Patienten längere Öffnungszeiten, weniger und kürzere Wege, weil wohnortnah, kürzere Wartezeiten und sie bringen auch bessere Arbeits­bedingungen für die jungen Ärztinnen und Ärzte.

Es ist die Aufgabe – es ist die Aufgabe! – dieser Bundesregierung, sich unmittelbar und sofort mit allen Beteiligten – und das ist im Gesundheitssystem und in der Versorgung nicht einfach, da gibt es viele –, mit allen neun Bundes­ländern, mit der Sozialversicherung, mit den Vertretern der Gesundheitsberufe, hinzusetzen und so lange zu diskutieren, so lange zu arbeiten, bis es eine Lösung für die österreichische Gesundheitsversorgung gibt. Das ist Ihre Verant­wortung. (Beifall bei der SPÖ.)

Dazu, sehr geehrter Herr Vizekanzler – bitte richten Sie das dem Gesundheits­minister aus! –, braucht es nicht nur die Bereitschaft, endlich einzuladen, alle an den Tisch zu holen, sondern dazu braucht es Mut zur Veränderung, Flexibilität, Kompromissbereitschaft und einen starken politischen Willen. (Abg. Hafenecker: Aber Sie waren ja auch schon Gesundheitsministerin!) Der fehlt Ihnen allerdings seit drei Jahren.

Und ja, es wird auch mehr finanzielle Mittel vom Finanzminister brauchen, und da sehe ich eher schwarz, Herr Vizekanzler. Die Zeit, zu handeln, ist aber jetzt, sehr geehrte Damen und Herren der Bundesregierung, jetzt und nicht morgen. – Danke schön. (Beifall bei der SPÖ.)

9.18

Präsident Mag. Wolfgang Sobotka: Zu Wort gemeldet hat sich der Herr Vize­kanzler. – Bitte.