10.36

Abgeordnete Mag. Beate Meinl-Reisinger, MES (NEOS): Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Mitglieder der Bundesregierung! Werte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Mitglieder des Europäischen Parlaments! Liebe Zuschauerin­nen und Zuschauer! Das Privileg in meinem Klub, mit der Erfahrung des Alters zu sprechen, hat normalerweise Helmut Brandstätter (Abg. Leichtfried: Na eher der Loacker, oder?), aber ich möchte mir erlauben, zu sagen, dass ich doch auch ein gewisses Alter habe. Ich bin noch in dem Wien aufgewachsen, nach dem, kurz danach, wenn man in den Osten gefahren ist, sozusagen die Welt aufgrund eines Eisernen Vorhangs zu Ende war. Der Fall des Eisernen Vor­hangs, der Fall der Berliner Mauer, das waren politisierende, prägende Ereignisse in meiner Kindheit und Jugend, und so auch der Beitritt Österreichs zur Europäischen Union.

Ich bin nicht alt genug, um Erfahrungen in einer Zeit gemacht zu haben, als die Völker Europas einander in blutigen Kriegen gegenübergestanden sind, über viele, viele Jahrhunderte. Es ist traurig, dass wir heute wieder einen bruta­len Angriffskrieg auf europäischem Boden erleben. Aber was ich sehen kann, auch mit meiner Erfahrung, ist, dass diese Überwindung dieser blutigen Kriege der europäischen Völker auch und gerade ein Effekt, ein Ergebnis dieses vereinten Europas, der Europäischen Union ist, das vor allem eines ist, und das dürfen wir nicht vergessen: ein Friedensprojekt. (Beifall bei den NEOS und bei Abgeordneten der ÖVP.)

Wir sind jetzt allerdings an einem Wendepunkt angekommen, nicht nur, aber gerade auch wegen dieses Krieges in der Ukraine, wegen des völker­rechtswidrigen Angriffskrieges Putins auf die Ukraine. Es ist kein Wunder, dass am Majdan, in Wien, in Georgien wie auch in der Republik Moldau Tau­sende, Zigtausende Menschen auf die Straße gegangen sind und auf die Straße gehen und mit einem Selbstbewusstsein und mit Stolz sagen: Wir wollen Teil dieser Europäischen Union sein! Die moldauische Präsidentin Maia Sandu hat jetzt am Wochenende mit ebensolchem Stolz gesagt, der Platz Mol­daus sei in der Europäischen Union. Das sollte uns zu denken geben, denn das ist der Raum des Friedens, aber auch der Freiheit und des Wohlstands.

Aber der Wendepunkt ist nicht nur in sicherheitspolitischer Hinsicht. Wenn wir nicht aufpassen, dann, glaube ich, werden uns bald – wenn es nicht schon längst auch passiert – andere Regionen der Welt um die Ohren fahren und dann werden wir als Europa nicht nur geostrategisch und sicherheitspolitisch, sondern vor allem auch wirtschaftlich in einer Bedeutungslosigkeit verschwinden.

Wenn ich mir anschaue, was in den USA passiert, welcher Fokus dort selbstverständlich auf China und jetzt auf diesem indopazifischen Raum liegt, und wenn ich Republikanern zuhöre, die sagen, Europa müsse sich selber um diese Angelegenheiten kümmern, sie kümmern sich um China, auch wenn ich mir anschaue, was gerade in Indien passiert, was in Afrika passiert, dann muss ich sagen, ich mache mir große Sorgen um die wirtschaftliche Schlagkraft und damit um die Sicherung der Freiheit, des Friedens und des Wohlstands unseres Kontinents.

Genau solch ein Wendepunkt bedeutet, dass man überdenken muss, wie wir schlagkräftiger werden, wie wir unseren Stolz und unser Selbstbewusst­sein als Europa zur Erhaltung des Friedens, der Freiheit und des Wohlstands auch in Zukunft einsetzen. Und da müssen wir doch ganz klar die Fragen stellen: Sind wir in Europa aktuell handlungsfähig genug? Sind wir entscheidungs­fähig genug? Sind wir auch verteidigungsfähig genug? – Ich meine, die Antwort darauf ist völlig klar: Das sind wir nicht!

Wir werfen diese Frage aktuell auf, weil sie sehr brennend ist, denn ich erlebe eine Bundesregierung, allen voran eine ÖVP, die wahrscheinlich aus Angst vor der FPÖ wie das Kaninchen vor der Schlange in den letzten Monaten auch immer wieder aus innenpolitischen Motiven nationalistische Slogans von sich gegeben hat, anstatt sich wirklich mit den proeuropäisch gesinnten, prodemokratisch gesinnten Partnerinnen und Partnern in der Europäi­schen Union gemeinsam darauf zu verständigen, dass wir die EU handlungsfähig und entscheidungsfähig machen.

Wir haben heute in der Früh schon gehört, wie sinnlos es ist, sich gesellschafts­politisch, wirtschaftspolitisch, übrigens auch sicherheitspolitisch, ausge­rechnet etwa an Ungarn ein Beispiel zu nehmen, an Viktor Orbán, der ja mit seinen Erpressungsversuchen, was jetzt auch die Sanktionen gegenüber Russland angeht, immer wieder zeigt, wie schwierig es geworden ist, in einer EU, die solch eine Kakofonie aus verschiedenen Mitgliedstaaten mit sich bringt, zu Entscheidungen zu kommen, und wir wollen nicht am Gängelband Putins und auch nicht am Gängelband von Viktor Orbán sein, wenn es darum geht, Europa handlungsfähig und entscheidungsfähig zu machen.

Es gibt Bereiche in der Europäischen Union, die noch immer dem Einstimmig­keitsprinzip unterliegen (Abg. Steger: Gott sei Dank!), in denen immer noch das Einstimmigkeitsprinzip gilt. Es mag vordergründig im Interesse Österreichs, eines kleinen Landes sein, zu sagen: Na ja, ich habe dort genauso Sitz und Stimme wie ein großes Land! – dieses Argument verstehe ich auch –, aber sehen Sie nicht auch, wenn wir beispielsweise eben auf geopolitische Auseinan­dersetzungen schauen, wie wenig strategiefähig wir in Europa durch diese Kako­fonie sind, wie notwendig es wäre, da jetzt entschlossen einen Schritt zu machen, wie ihn jetzt eine Reihe von Staaten macht? Deutschland, Frankreich, die Niederlande, Italien, Finnland, Slowenien, Spanien, Belgien, Luxemburg, also auch kleine Länder, haben sich zusammengetan und gesagt: Okay, ändern wir dieses Einstimmigkeitsprinzip zugunsten eines Mehrstimmigkeitsprin­zips – zugunsten einer Schlagkraft, eines Selbstbewusstseins, einer Entschei­dungsfähigkeit Europas!

Es wäre ein historischer Moment gewesen, wenn eine österreichische Bundes­regierung gesagt hätte: Jawohl, da sind wir dabei, das sind unsere Partner, denn die wollen uns stärker machen, die sehen den Stolz, den wir in Europa ha­ben, und auch die Notwendigkeit, uns in eine gute Zukunft zu führen! Und es sind nicht unsere Partner in Nationalismen, wie das ein Viktor Orbán macht, die am liebsten eine Festung Ungarn errichten wollen, oder auch die Nationalisten in den eigenen Reihen hier im Haus, wie die FPÖ, die am liebsten den Öxit möchte. Das sind nicht unsere Partner in einem star­ken Europa, sondern genau die genannten Länder sind es, die Europa und Österreich weiterentwickeln wollen, anstatt Österreich und Europa kleinzuhalten.

Zukunftsfähigkeit – ich mache mir große Sorgen um die Industrialisierung oder die Zukunft der Industrie in Europa, und ich glaube, mit mir auch sehr viele Ökonomen und Ökonominnen und auch viele Bürgerinnen und Bürger, die sehen, in welchem Spannungsverhältnis natürlich auch die notwendige ökologische Transformation zur Industrie in Europa steht. Aber auch diesbezüg­lich fahren uns die USA und China um die Ohren.

Wir diskutieren und der Kanzler macht irgendwie lustige Brumm-brumm-Auto­gipfel und in der Zwischenzeit finden technologische Revolutionen in China statt, was die Zukunft von Batterien angeht, die dann nicht mehr von Lithium abhängig sein werden. Die USA machen gerade als Antwort auf den europäischen Green Deal ein massives Subventionierungsprogramm für Solarenergie und erneuerbarer Energie und werden uns in diesem Be­reich um die Ohren fahren, wenn wir nicht in den nächsten Monaten ganz ent­schlossen und geschlossen und selbstbewusst die Weichen stellen, beides zu schaffen: die ökologische Transformation, die Energiewende mit dem Green Deal, aber selbstverständlich auch eine starke Industrie. (Beifall bei den NEOS sowie des MEP Gamon.)

Da müssen Sie als Regierung liefern und dürfen sich nicht in irgendwelchen plumpen FPÖ-tauglichen Slogans verlieren, anstatt sich da völlig klar auf die Seite Europas und Österreichs zu stellen.

Oder schauen wir auf die Verteidigungsfähigkeit Europas: Es ist traurig, dass wir sehen müssen, dass das Konzept auch der vergangenen Jahrzehnte, dass wir durch eine Friedensdividende – mit einer Abrüstung unserer Ausgaben für das Heer einhergehend – unseren Sozialstaat, unsere Bildungspolitik finanzieren können, angesichts neoimperialistischer Machtgelüste eines Wladi­mir Putin nicht mehr funktioniert.

Er sagt ja, was er will, man muss diesen faschistischen Diktatoren zuhören, sie sagen ja genau, was sie wollen. Es geht ja nicht nur um die Ukraine, es geht um das Baltikum, es geht um die Destabilisierung Europas, unserer gesam­ten offenen Gesellschaft. Deshalb müssen wir als Österreich und selbst­verständlich auch als Europa wehrhaft sein.

Noch einmal: Die USA werden nicht immer zu Hilfe eilen können, wenn es da­rum geht, selbstbewusst unsere Freiheit, unseren Frieden in Europa zu sichern und unsere europäischen Bürgerinnen und Bürger zu schützen. Das müssen wir schon selber erledigen und da muss Österreich ein verläss­licher Partner werden.

Aber ich frage: Sind wir ein verlässlicher Partner, wenn Sie Scheingefechte führen, die Neutralität zur Identitätspolitik erheben, sich unter dem Vorwand der Neutralität in der EU an einer humanitären Minenräumung nicht beteiligen wollen? Dann kommen Sie aber drauf: Ha, ha, das machen wir eigentlich ohnehin unter der OSZE!, also kann ja das Argument Neutralität hier nur wirklich völlig fadenscheinig sein.

Österreich muss ein verlässlicher und entschlossener Partner beim Aufbau eines wirklich wehrhaften und verteidigungsfähigen Europas in Richtung eines europäischen Heeres sein.

Es gibt ja den Spruch: Either you sit at the table or you are on the menu!, also entweder Sie haben einen Platz am Verhandlungstisch als verlässlicher Partner oder Sie sind auf der Speisekarte zu finden und werden aufgefressen, so wie das ja übrigens in der Vergangenheit auch war. Für alle, die glauben, Neutralität schützt: Schauen Sie sich einmal die Aufmarschpläne des Warschauer Pakts an! Das neutrale Österreich wäre als Erstes gefallen! (Beifall bei den NEOS sowie des MEP Gamon.)

Ich glaube, wir sind an einem Wendepunkt angekommen und es ist notwendig, eine Bundesregierung und auch eine ÖVP, eine bürgerliche Kraft der Mitte zu haben, die weiterhin ganz entschlossen proeuropäisch ist. Ich sage Ihnen aber, ich habe große Sorge. Wenn ich sehe, wer Ihre Partner sind, dass auch Sie, Frau Edtstadler, oder auch der EVP-Vorsitzende Manfred Weber auf Einkaufstour unterwegs ist und sich gerne gemeinsam mit den Neo­faschisten in Italien ins Bett legen möchte, so frage ich mich ganz ehrlich: Ist das der Weg?

Wissen Sie, die Geschichte wiederholt sich wahrscheinlich nicht oder hoffentlich nicht, aber sie reimt sich, und dieser Reim, dass die Mitte, die bürgerliche Mitte, sich mit den Neofaschisten und Nationalisten wieder zusammentut, ist kein guter Reim für eine gute Zukunft in einem selbstbewussten und starken Europa. – Vielen Dank. (Beifall bei den NEOS sowie des MEP Gamon.)

10.47

Präsident Mag. Wolfgang Sobotka: Ich darf die Frau Bundesminister für EU-An­gelegenheiten Edtstadler auch bei uns begrüßen, aber zu Wort gemeldet hat sich die Frau Staatssekretär. – Bitte.