9.11

Abgeordnete Dr. Pamela Rendi-Wagner, MSc (SPÖ): Herr Präsident! Sehr geehrte Bundesregierung! Hohes Haus! Sehr geehrte Damen und Herren! Im Oktober waren über 420 000 Menschen in Österreich arbeitslos. Das sind knapp 70 000 Menschen mehr als im Vergleichszeitraum des Vorjahres. Seit 1946 gab es keinen Winter mit einer derart hohen Arbeitslosigkeit. Die Lage am österreichischen Arbeitsmarkt ist dramatisch, sie ist dramatisch für die betroffenen Menschen, die keinen Job haben und vor einer unsicheren Zukunft stehen, sie ist dramatisch für die Wirtschaft, weil diese Kaufkraft ja über die nächsten Monate und wahrscheinlich Jahre fehlt, und diese Lage ist dramatisch für uns als Land und als Gesellschaft.

Der zweite Lockdown – wir haben heute den ersten Tag dieses zweiten Lockdowns – wird diese Entwicklung und diese dramatische Situation noch weiter verschärfen. Es war schon vor dem zweiten Lockdown so, dass das Wifo, das Wirtschaftsforschungsinstitut, davon ausgegangen ist, dass aufgrund dieser sieben, acht Monate Coronazeit das Bruttoinlandsprodukt in Österreich um 6,8 Prozent sinken wird – 6,8 Prozent weniger BIP! Dieser Totallockdown, der heute startet, wird unsere Wirtschaft weiter einbrechen lassen und wird weiter Zehntausende, ja Hunderttausende Arbeitsplätze kosten. Eine aktuelle Prognose des Wifo geht von einem Risikoszenario aus, dem zufolge es in Österreich aufgrund des neuerlichen Lockdowns zu einem Einbruch von über 9 Prozent kommen wird. Das ist kein Lapperl!

Eines ist klar, sehr geehrte Damen und Herren, wir stehen heute und in den kommenden zwei Tagen hier und diskutieren über ein Haushaltsbudget, das so in dieser Form nicht halten wird und nicht halten kann. Offenbar fehlen, so wie auch im Corona­krisen­management, im Gesundheitskrisenmanagement, auch diesbezüglich die Vorausschau und die Voraussicht. Die wirtschaftliche Erholung für nächstes Jahr ist gemäß diesen aktuellen Prognosen de facto abgesagt, die Prognose hat die Erholung quasi aufge­saugt.

Die zweite Pleite- und Kündigungswelle der heimischen Wirtschaft hat schon begonnen, bevor der zweite Lockdown begonnen hat, nämlich vor einigen Monaten, vor allem in Bereichen der heimischen Großindustrie, aber auch im Bereich des Tourismus und der Gastronomie. Sie wird jetzt mit einer noch viel größeren Wucht über unser Land hinweg­rollen.

Wenn die Wirtschaftsforscher und die Ministerien mit Zahlen und Kurven hantieren und über Prognosen reden, dann müssen wir, die wir hier als Vertreterinnen und Vertreter der Menschen sitzen, immer eines wissen: Das sind Zahlen, hinter denen Menschen stehen, Schicksale stehen; das sind Familien, Kinder, Jugendliche, Frauen, Ältere. Und ja, hinter diesen Zahlen stehen auch Unternehmerinnen und Unternehmer, die in den letzten Monaten von heute auf morgen ihren kleinen oder auch größeren Betrieb schließen mussten. Ich habe viele von ihnen getroffen, einige haben letztes Jahr noch große Investitionen in ihre eigenen Betriebe, in ihr Hotel, in ihr Gasthaus getätigt, haben Kredite aufgenommen. Sie alle haben jetzt eine unsichere Zukunft vor sich. Ja, es sind auch Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die oft 30 Jahre für eine Firma gearbeitet haben, eine Firma, in der schon ihre Eltern gearbeitet haben oder ihr Großvater gearbeitet hat, eine Firma, in der ihre Kinder gerade die Lehre machen. Es sind junge Familien, die wie vom Blitz getroffen sind und nicht wissen, wie sie die Zukunft ihrer Kinder weiterhin finanzieren und gestalten können.

Arbeitslosigkeit verfestigt sich in Österreich von Tag zu Tag. Das ist eine hochgefährliche Entwicklung, weil es vor allem Menschen ab 50 sind, die in dieser Zeit praktisch chancenlos sind, einen neuen Job zu finden. Ich habe einige von ihnen getroffen, als ich in Spielberg in der Steiermark bei einer Betriebsversammlung von ATB war. Über 200 Leute wurden dort gekündigt – übrigens eine Firma, die in den letzten Monaten groß Staatshilfen aus Steuergeld bezogen und trotzdem über 200 Kündigungen ausge­sprochen hat und den Standort verlegen wird. Sie verlegen ihn einfach ins Billigausland, nach Polen, und hier werden die Österreicherinnen und Österreicher entlassen. Ich habe da viele Frauen getroffen, die drei Jahre vor ihrer Pension stehen. Die pure Verzweiflung spricht aus den Augen dieser Menschen, wenn man mit ihnen redet. – Ich weiß nicht, ob Sie das getan haben, Herr Bundesminister, es wäre auch Ihre Aufgabe, mit den Menschen und Betroffenen zu sprechen. (Beifall bei der SPÖ.)

Meine sehr geehrten Damen und Herren, neben einer vorausschauenden, neben einer hoffentlich bald funktionierenden Pandemiebekämpfung ist es die Hauptaufgabe unserer Bundesregierung, die Arbeitslosigkeit in unserem Land mit allen, mit wirklich allen gebotenen Mitteln zu bekämpfen. Das ist eine große Verantwortung, die endlich über­nommen werden muss. Unser Land braucht eine mutige, eine aktive, eine voraus­schauende Arbeitsmarktpolitik, braucht eine Arbeitsmarktpolitik, die heute und nicht erst morgen beginnen soll, Herr Bundesminister. (Beifall bei der SPÖ.)

Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und – das sage ich ganz bewusst – auch die kleinen und mittleren Unternehmen brauchen, weil sie sich alleingelassen fühlen, jetzt vor allem eines: Sie brauchen starke, aktive und mutige Mitkämpfer. Wer, wenn nicht wir und die Bundesregierung, müssten diese Mitkämpfer und Mitkämpferinnen sein?

Wenn das Budget die in Zahlen gegossene Politik ist – und das ist es in meinen Augen –, dann hat die Regierung mit diesem Budget eine Chance, nämlich die Chance, Mitkämpfer an der Seite der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, der Unternehmerinnen und der Unternehmer unseres Landes in dieser schwierigen Zeit zu sein. Die Regierung hätte die Chance, ein Budget vorzulegen, das quasi die in Zahlen gegossene Kampfansage gegen Arbeitslosigkeit ist. Schaut es danach aus, dass dieses vorgelegte Budget genau das ist? Sind das die Mittel, die Sie aufbringen, um die Arbeitslosigkeit in den nächsten Monaten und Jahren wirksam zu bekämpfen? – Nein, es schaut leider nicht danach aus, dass diese Chance, die jetzt besteht, von Ihnen genützt wird. Wenn Arbeitsplätze im großen Stil gestrichen werden oder gar ganze Standorte ins günstige Ausland, wie zum Beispiel nach Polen, verlagert werden sollen, dann kann man nicht zusehen, dann muss gehandelt werden, und zwar rasch.

Ich habe erst gestern wieder den Betriebsrat von MAN aus Steyr getroffen – ich war vor drei Wochen bei einem Warnstreik mit 2 000 oder gar 4 000 Beschäftigten und vielen Sympathisanten dort –, und er hat gesagt, sie haben die Verhandlungen mit der Ge­schäftsleitung abgebrochen, sie kommen nicht weiter, man kommt ihnen keinen Schritt entgegen. – Ich frage mich: Wo sind Sie, sehr geehrte Bundesregierung, um diese 2 000 und mehr Beschäftigten bei MAN zu unterstützen? (Beifall bei der SPÖ.)

All diese Handlungen Ihrerseits – es gibt welche hier und da – sind zaghaft. Das Budget, das vorgelegt wurde, zeigt Ansätze; diese Ansätze reichen aber nicht, sie werden der Dimension der größten Wirtschafts- und Arbeitsmarktkrise der Zweiten Republik einfach nicht gerecht. Ihre Vorhaben werden dieser Dimension nicht gerecht, sie sind zu wenig ambitioniert. Vor allem im Bereich Pflege und im Bereich Klimaschutz geht mehr, viel mehr. Es ist leider nicht die starke und mutige Zukunftsansage, die eines macht, die in der Bevölkerung Vertrauen schafft und ihr Unsicherheiten nimmt. Es bräuchte ein großes, mutiges, historisches und wirksames Konjunktur- und Beschäftigungspaket für Österreich, das die Wirtschaft stärkt und Arbeitsplätze schafft, sehr geehrte Damen und Herren. (Beifall bei der SPÖ.)

Das ist heute noch wichtiger geworden, heute beginnt der Totallockdown für unser Land (Ruf bei der ÖVP: Er hat schon begonnen!) – danke für diesen Hinweis, das freut ganz viele Österreicherinnen und Österreicher wirklich –: Wirtschaftlich, gesellschaftlich und im Bildungsbereich wird auf einen Nullpunkt runtergefahren. Deswegen ist diese Handlung, die Notwendigkeit eines ambitionierten und starken Sich-Einsetzens für Arbeitsplätze und Wirtschaft, noch wichtiger geworden. Es bräuchte eine große, eine historische Steuersenkung zur Sicherung der kleinen und mittleren Einkommen, um die Kaufkraft zu stärken, und eine Arbeitsmarktwende in Richtung Umschulung und Weiter­qualifizierung, nicht im kleinen, sondern im großen Stil und klug gedacht, vor allem Richtung Pflege. Das ist ein wichtiger Bereich, der sich in Ihrem Budget zu wenig wiederfindet. Es bräuchte einen Plan, um Lehrstellen zu schaffen und die Lehrstel­lenlücke zu schließen. Ja, es braucht auch einen Plan, wie es nach der Kurzarbeit weitergeht, eine Vorausschau auch in diesem Bereich wäre wichtig. Dazu braucht es Ambition und Mut.

Mir ist bewusst, dass durch die Wirtschaftshilfen, die jetzt durch diesen zweiten vollen Lockdown noch viel mehr werden, Ihr Budget sehr stark belastet ist, Herr Bundes­minister. Deshalb können Sie aber nicht entscheiden, eine Steuersenkung einfach zu verschieben, deswegen können Sie nicht sagen, Investitionen werden jetzt nur zaghaft gesetzt und das Arbeitsmarktbudget muss klein sein. (Abg. Hanger: Sie haben das Budget nicht gelesen, oder?) Ganz im Gegenteil: Sie müssten umso ambitionierter handeln und umso mutiger! Herr Finanzminister, das ist der falsche Weg, denn das treibt die Spirale immer weiter nach unten.

Falsch ist es auch, bei jenen zu sparen, die 45 Jahre lang gearbeitet haben: Deren Pen­sionen sollen still und heimlich um 10 Prozent gekürzt werden, mit dem Argument, man könne es sich nicht leisten, man müsse auf die Stabilität achten. Anstatt Solidar­abgaben für große Onlinekonzerne wie Amazon einzuführen, kürzt die Regierung als Erstes bei den Pensionistinnen und Pensionisten, die 45 Jahre lang gearbeitet haben. Das ist nicht nur nicht gerecht, das ist kaltherzig und wirtschaftlich unklug. (Beifall bei der SPÖ.)

Sehr geehrte Damen und Herren, ich möchte zum Schluss noch auf einen sehr wichtigen Bereich zu sprechen kommen, auf die Finanzierung der Spitäler. Corona hat uns gezeigt, wie verwundbar wir sind und wie sehr wir alle ein öffentliches, funktionierendes Spital­system brauchen. Unsere Spitäler, die Pflegerinnen und die Pfleger, die Ärztinnen und Ärzte sind in dieser Jahrhundertpandemie das Immunsystem unserer Gesellschaft, und ich finde es mehr als verantwortungslos, Herr Bundesminister, und fern jeglicher Ver­nunft, dass Sie in dieser größten Gesundheitskrise seit 100 Jahren in Ihrem Budget genau bei den Spitälern kürzen – aber es passiert. (Beifall bei der SPÖ.)

Diese Kürzung ist ein Anschlag auf unsere Spitäler, ein Anschlag auf unsere Gesundheit, und das inmitten der Pandemie. Ich appelliere daher dringend an die Bundesregierung, dieses Budgetloch auszugleichen. Wir werden dazu einen Antrag einbringen. – Vielen Dank. (Beifall bei der SPÖ.)

9.24

Präsident Mag. Wolfgang Sobotka: Zu Wort gemeldet ist Herr Abgeordneter Klubob­mann Wöginger. – Bitte.