10.14

Abgeordnete Dr. Pamela Rendi-Wagner, MSc (SPÖ): Sehr geehrter Herr Bundes­präsident! Sehr geehrte Ehrengäste! Sehr geehrter Herr Nationalratspräsident! Herr Bundeskanzler! Herr Vizekanzler! Sehr geehrte Mitglieder der Bundesregierung! Hohes Haus! Und selbstverständlich: Sehr geehrte Damen und Herren! Auch ich möchte gleich zu Beginn meiner Rede Danke sagen: Danke Ihnen, Frau Bundeskanzlerin au­ßer Dienst Bierlein, Ihrem Vizekanzler Jabloner und natürlich Ihrer ExpertInnenregie­rung, denn es war Ihre Dialogbereitschaft, die vor rund acht Monaten nach einer Regie­rungskrise dafür gesorgt hat, dass das verloren gegangene Vertrauen zwischen Re­gierung und Parlament wiederhergestellt werden konnte (Beifall bei der SPÖ und bei Abgeordneten der Grünen) – ohne Hektik, mit Besonnenheit und stets auf Augenhöhe mit dem Parlament. Dafür danke ich Ihnen persönlich in höchstem Maße und herz­lichst, und ich wünsche Ihnen alles Gute für Ihre Zukunft, Frau Bundeskanzlerin außer Dienst! (Beifall bei SPÖ und Grünen sowie bei Abgeordneten von ÖVP und FPÖ.)

Heute, knapp vier Monate nach der Wahl, haben wir eine neue Bundesregierung, die zu meiner Freude aus sehr vielen Frauen besteht und die vor allem eines hat: eine Mehrheit in unserem Parlament, und das ist gut so. Das ist gut so, weil die Herausfor­derungen, die auf uns warten, die Herausforderungen, die schon da sind, groß, riesen­groß sind – groß in Österreich, groß in Europa und weltweit groß. Das zeigen nicht zuletzt die traurigen aktuellen Ereignisse im Nahen Osten, das zeigen auch die Bilder aus Australien.

Herr Bundeskanzler, Herr Vizekanzler und sehr geehrte Mitglieder der Bundesregie­rung, ich wünsche Ihnen allen viel Kraft bei der Bewältigung Ihrer neuen Aufgabe; es ist eine wichtige Aufgabe. Ich wünsche Ihnen für die kommenden Jahre vor allem auch, dass Sie mit dieser Verantwortung für Österreich stets respektvoll und immer mit Weit­sicht umgehen. Und ich wünsche mir von uns allen hier im Haus, ich wünsche mir vonseiten der Politik – das wünsche ich mir nicht nur, sondern das erwarte ich mir –, dass wir endlich konsequent und entschlossen gegen Rassismus und Sexismus in un­serer Gesellschaft, in der Politik auftreten. Dieser Hass und diese Menschenverach­tung sind inakzeptabel. Frau Bundesministerin (in Richtung Bundesministerin Zadić), wir stehen hinter Ihnen. (Beifall bei SPÖ und Grünen sowie bei Abgeordneten von ÖVP und NEOS.)

Ihr Regierungsprogramm liegt nun seit einigen Tagen vor, unser Standpunkt dazu ist weitgehend bekannt: ein schwarzes Regierungsprogramm mit türkiser Tarnfarbe – oder grüner Tarnfarbe, Pardon, ein schwarzes Regierungsprogramm mit grüner Tarn­farbe. (Allgemeine Heiterkeit. – Abg. Wurm: Freud’scher Versprecher! – Abg. Belako­witsch: So ganz falsch war es eh nicht! – Präsident Sobotka gibt das Glockenzei­chen.) Es ist ein schwarzes Regierungsprogramm mit grüner Tarnfarbe oder, wie poli­tische Kommentatoren schreiben, „mit grünen Farbtupfern“. Und es ist so, dass offen­bar über weite Strecken und in wesentlichen Fragen in diesem Regierungsprogramm fortgeschrieben und fortgesetzt wird, was unter Schwarz-Blau begonnen wurde. Die Medien in Österreich sprechen auch von einem schwarz-grünen Experiment, sie spre­chen auch von einem Wagnis, und das sehen wir auch so: Es ist ein Wagnis zulasten des sozialen Ausgleichs in Österreich.

Ich möchte Ihnen auch erklären und sagen, warum wir das so sehen. Wenn man sich Ihre geplanten Maßnahmen ansieht, so wird eines ganz schnell klar; es ist ein Grund­prinzip, das sich sozusagen durch Ihr Programm durchzieht: Menschen, die sehr viel verdienen – und ich rede hier von Menschen, die mehr als 1 Million Euro pro Jahr ver­dienen –, werden in Zukunft gemäß Ihrem Programm weniger Steuern zahlen als bis­her. Das gilt auch für Großkonzerne, das gilt auch bei großen Aktienspekulationen. Sie, sehr geehrte Bundesregierung, nehmen dafür sehr viel Geld in die Hand; es geht da um rund 2 Milliarden Euro, die Sie dafür in die Hand nehmen – dafür ist Geld da. Das Geld ist aber nicht da, wenn es darum geht, dass alle Kinder in Österreich gleich viel Familienbonus bekommen. Das Geld ist offenbar auch nicht da, wenn es darum geht, dass Menschen, die 45 Jahre hart gearbeitet haben, ohne Abschläge in Pension gehen dürfen. Und es findet sich auch kein Wort darüber in Ihrem Programm, wie wir die Mindestsicherung für die Schwächsten in unserer Gesellschaft in Zukunft ausgestalten werden, wie die Mindestsicherung für die Schwächsten in Zukunft aussehen wird. Auch das ist in Ihrem Regierungsprogramm nicht geregelt.

Gerade bei diesem Punkt, sehr geehrte Damen und Herren von den Grünen, frage ich mich, warum Sie diese Chance nicht genützt haben, um dem drohenden, großen Pro­blem der Kinderarmut in Österreich effektiv und nachhaltig zu begegnen und es zu be­kämpfen.

Meine Damen und Herren in der Bundesregierung, die Maßnahmen, die Sie in den nächsten fünf Jahren vorhaben, tragen nicht zu einem Mehr an sozialer Gerechtigkeit bei – nein, im Gegenteil. (Zwischenruf des Abg. Haubner.) Die soziale Schere in Ös­terreich droht durch Ihre Maßnahmen größer zu werden. Das ist nicht gerecht, das ist nicht fair, und es ist nicht der soziale Ausgleich, wie wir Sozialdemokratinnen und So­zialdemokraten ihn verstehen. Das zeigt eine nüchterne Analyse Ihres Regierungspro­gramms. Es gab während Ihrer Verhandlungen berechtigte Hoffnung, ja, es gab Hoff­nung auch auf unserer Seite, dass der Weg, der unter Schwarz-Blau eingeschlagen wurde, unter einer neuen Bundesregierung künftig ein Ende finden wird. Diese Hoff­nungen wurden enttäuscht.

Es gibt aber auch Maßnahmen, die zuversichtlich stimmen, die optimistisch stimmen, und das soll heute auch gesagt werden. Gerade betreffend den so wichtigen Kampf gegen die Klimakrise finden sich gute Ideen, gute Ansätze, und das soll heute auch Erwähnung finden. Zugegebenermaßen ist im Hinblick auf die konkrete Umsetzung dieser Klimaschutzmaßnahmen, im Hinblick auf die Finanzierung – Sie haben es er­wähnt, Herr Vizekanzler – aus unserer Sicht vieles vage, vieles offen, und es ergeben sich viele Fragen, aber der Wille zählt; und der Wille ist so notwendig in diesem Be­reich.

Wer dieser Tage den Fernseher anschaltet und die Bilder aus Australien sieht, dem stockt der Atem: Ein Kontinent brennt. Das sind Bilder und Tatsachen, die uns alle nicht unberührt lassen, das sind Bilder, die uns einmal mehr zeigen: Wir haben keine Zeit zu verlieren, der Kampf gegen die Klimakrise duldet keinen Aufschub. Auch wenn wir hier im Parlament fünf Parteien sind: Wir leben nicht in fünf verschiedenen Welten, wir leben in genau einer Welt – deswegen heißt es, in diesem Kampf gegen die Kli­makrise rasch und gemeinsam zu handeln. (Beifall bei der SPÖ und bei Abgeordneten der Grünen.)

Eines aber, sehr geehrte Damen und Herren, dürfen wir dabei nicht tun: diesen Kampf auf dem Rücken der Schwächsten in unserer Gesellschaft führen und dabei das so­ziale Augenmaß verlieren. Betreffend den Kampf gegen die Klimakrise ist es auch wichtig, etwas anderes zu erwähnen: Österreich wird diesen Kampf nicht alleine führen können, vor allem nicht erfolgreich alleine führen können. Dafür brauchen wir Europa, dafür brauchen wir die Europäische Union, und es muss eine starke Europäische Uni­on sein, eine handlungsfähige EU. Dazu muss sich die Union weiterentwickeln. Der Binnenmarkt alleine wird nicht reichen, um auch in Zukunft die entsprechende Hand­lungsfähigkeit und Stärke zu haben. Es braucht dazu – und ich glaube, das ist in Ihrem Programm von Ihnen auch so gefordert – eine wirksame Außen- und Sicherheitspolitik auf der europäischen Ebene.

Ich dramatisiere die Weltlage nicht, sie ist dramatisch. Die Instabilität im Nahen Osten, die sich immer weiter zuspitzt, ist eine Bedrohung für die Welt, sie kann aber auch wirklich gravierende und gefährliche Auswirkungen für uns und für Europa haben. Daher ist eine Friedenslösung im Nahen Osten das Gebot der Stunde, und was ich mir in diesem Zusammenhang so wünsche, ist, dass Europa und Österreich gerade in die­ser Friedenslösung eine aktive, eine starke Rolle einnehmen – und das auch können. (Beifall bei der SPÖ.)

Die Stärkung Europas ist wichtig und sie verlangt vor allem eines: Sie verlangt die Stär­kung der sozialen Säule auf europäischer Ebene, weil nämlich die Unterschiede, die derzeit bestehen, die sozialen Unterschiede – die Schieflagen – in Europa endlich klei­ner werden müssen. Soziale Ungleichheit ist gefährlich – sie hat eine Sprengkraft – für unser friedliches Zusammenleben auf unserem Kontinent.

Genau wir müssten es am besten wissen. Wir haben eine Geschichte, die uns das gelehrt hat, nämlich die europäische Geschichte. Wenn wir den Weg der Demokratie verlassen, dann führt dieser Weg geradewegs in den Konflikt, geradewegs in Richtung Gewalt. Da geht es nicht darum, über eine sogenannte unerlaubte Einmischung in in­nere Angelegenheiten etwa von Ungarn oder Polen zu diskutieren. Es geht um unsere Zukunft, unsere gemeinsame Zukunft in Europa, wenn wir von der Union fordern – und ich glaube, da bin ich mit Ihnen auf einer Linie –, dass eine schrittweise Abwendung auf der europäischen Ebene sehr hart sanktioniert wird. Falls ich das Regierungspro­gramm richtig lese, scheint die Regierung diesen Weg auch entschlossen so zu gehen. Unsere Unterstützung dafür hätten Sie jedenfalls. (Beifall bei der SPÖ und bei Abge­ordneten der Grünen.)

Umso mehr müssen wir nicht nur nach Europa schauen, sondern auch in Österreich Entwicklungen entgegentreten, durch die unsere Grund- und Freiheitsrechte infrage gestellt werden. Sehr geehrter Herr Bundespräsident, Sie haben vor vier Tagen bei der Angelobung der neuen Bundesregierung folgenden Satz gesagt: „Rot-weiß-rot heißt, die Grund- und Freiheitsrechte zu stärken und zu achten.“ – Herr Bundespräsident, wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten sind dabei Ihre Unterstützer. (Beifall bei der SPÖ sowie des Abg. Weratschnig.)

Sehr geehrte Damen und Herren, gehen wir acht Monate zurück, erinnern wir uns an den 27. Mai 2019. Damals sind wir uns hier im Hohen Haus – ja – mit Misstrauen ge­genübergestanden. Ich möchte Ihnen allen heute sagen: Versuchen wir, einander wie­der zu vertrauen! Ja, dieses Programm, das Sie vorgelegt haben, entspricht in vielen und in großen Teilen nicht unseren Vorstellungen, aber nein, das wird uns nicht an ei­ner respektvollen Zusammenarbeit auf Augenhöhe hindern. Wir werden allen Mitglie­dern der Bundesregierung selbstverständlich eine faire Chance für eine gute Zusam­menarbeit geben und Ihnen, Herr Bundeskanzler, wenn Sie so wollen, eine zweite Chance. (Zwischenrufe bei der ÖVP.)

Eine neue Bundesregierung, eine neue Gesetzgebungsperiode, ein neues Jahr – jeder Neuanfang ist auch eine Chance. Jeder Neuanfang ist eine Chance auf ein neues politisches Klima; ein neues politisches Klima, in dem man die Herausforderungen mit­einander angeht und löst und sich nicht unversöhnlich gegenübersteht. Es ist eine Chance auf einen Neuanfang in der politischen Auseinandersetzung – ja, hart in der Sache, ganz klar, aber mit einem wichtigen Ziel: unsere Demokratie und den Zusam­menhalt in unserer Gesellschaft zu stärken. Nutzen wir diese Chance aus Verantwor­tung für Österreich! – Vielen Dank. (Beifall bei der SPÖ und bei Abgeordneten der Grünen. – Abg. Rendi-Wagner begibt sich zur Regierungsbank und reicht Bundes­kanzler Kurz und Vizekanzler Kogler die Hand.)

10.28

Präsident Mag. Wolfgang Sobotka: Zu Wort gemeldet ist Abgeordneter Klubobmann Wöginger. – Bitte.