Fachinfos - Fachdossiers 20.05.2020

Wie europäisch ist die Europawahl? Wahlrechte und Wahloptionen

Das vorliegende Fachdossier erklärt das Wahlverfahren zum Europäischen Parlament und beschäftigt sich in diesem Zusammenhang mit der Sitzverteilung, Sperrklauseln und den nationalen Wahlrechten. (20.05.2020)

Wie europäisch ist die Europawahl? Nationale Wahlrechte und transnationale Wahloptionen

Die Sitzzuteilung erfolgt im Europäischen Parlament (EP) länderweise und es bestehen nach wie vor sehr unterschiedliche nationale Vorschriften im Wahlrecht der UnionsbürgerInnen. Ein erster Schritt in Richtung eines transnationalen Wählens wurde schon 1993 mit dem Recht von UnionsbürgerInnen, in ihrem Wohnsitzland an der Europawahl teilzunehmen, unternommen.

Wie viele Stimmen braucht es für ein Mandat im EP?

Das Prinzip der Gleichheit der Mitgliedstaaten steht im Spannungsverhältnis zum Prinzip des gleichen Wahlrechts der UnionsbürgerInnen. Die max. 751 Sitze im EP sind gemäß Art. 14 EUV nach dem Prinzip der „degressiven Proportionalität“ verteilt: Das Verhältnis zwischen der Bevölkerung und der Zahl von Sitzen jedes Mitgliedstaats muss in Abhängigkeit von seiner jeweiligen Bevölkerung so variieren, dass jedes Mitglied des EP aus einem bevölkerungsreicheren Mitgliedstaat mehr BürgerInnen vertritt als jedes Mitglied des EP aus einem bevölkerungsärmeren Mitgliedstaat, und umgekehrt dass je bevölkerungsreicher ein Mitgliedstaat ist, desto höher sein Anspruch auf eine große Zahl von Sitzen im EP ist. (Entschließung des Parlaments zur Zusammensetzung des Europäischen Parlaments vom 11. Oktober 2007 sowie jeweils Art. 1 der Beschlüsse des Europäischen Rates über die Zusammensetzung des Europäischen Parlaments vom 28. Juni 2013 und vom 28. Juni 2018 – maßgeblich bei Austritt Großbritanniens vor der EP-Wahl).

Kein Mitgliedstaat erhält gemäß Art. 14 EUV mehr als 96 Sitze, keiner weniger als sechs Sitze. Diese Lösung soll verschiedene Grundsätze bzw. Anforderungen miteinander vereinbaren: Das EP soll nicht zu viele Mitglieder haben, damit es effizient arbeiten kann. Die politische Pluralität auch der kleinen Mitgliedstaaten, insbesondere Mehrheit und Opposition, soll abgebildet werden. Deshalb akzeptieren die größeren Mitgliedstaaten im Sinne der Solidarität, unterrepräsentiert zu sein (siehe Ziffer 5 der erwähnten Entschließung des EP aus 2007). Im Ergebnis variiert also das Abgeordneten/Bevölkerungs-Verhältnis von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat.

Die österreichischen Abgeordneten zum Europäischen Parlament

Wie die Grafik "Verhältnis einer bzw. eines EU-Abgeordneten zu den Wahlberechtigten im Vergleich: Österreich und Deutschland" zeigt, sind die österreichischen WählerInnen als BürgerInnen eines kleinen Mitgliedstaates durch vergleichsweise viele Abgeordnete im EP vertreten: Gemessen an den zur EP-Wahl 2014 Wahlberechtigten vertritt ein/e österreichische Europaabgeordneter oder -abgeordnete mehr als 356.000 Wahlberechtigte, während ein/e deutsche/r Europaabgeordneter oder -abgeordnete mehr als 645.000 Wahlberechtigte repräsentiert.

Quelle: Bundesministerium für Inneres, Europawahl 2014 (Österreich); Statistisches Bundesamt, Statisches Jahrbuch 2018, Kap. 10.2 (Deutschland), Stand 4.4.2019, eigene Darstellung.

Sperrklauseln – Status quo

Ungleiches Stimmgewicht resultiert auch aus der Tatsache, dass in 15 Staaten ein formaler Mindestprozentsatz an Stimmen (sog. Sperrklausel) für die Zuteilung von Mandaten erforderlich ist und in den übrigen Mitgliedstaaten nicht. Stimmen, die für eine Wahlpartei abgegeben werden, die die notwendige Schwelle nicht erreicht, sind verloren. Die Sitze, die ohne Schwelle erreicht worden wären, gehen an die Wahlparteien, die die Schwelle erreicht haben. In Österreich gilt gemäß § 77 Abs. 2 EuWO eine Sperrklausel von 4 % der gültig abgegebenen Stimmen.

Sperrklauseln bei der Europawahl 2024

Die Änderung des Direktwahlaktes von 2018, die erst nach Ratifikation durch alle Mitgliedsstaaten in Kraft treten wird, verpflichtet die Mitgliedstaaten mit mehr als 35 Sitzen in Zukunft zu einer Sperrklausel zwischen 2 und 5 %. Nach dem Brexit werden noch Deutschland, Spanien, Frankreich, Italien und Polen mehr als 35 Sitze im EP haben. Diese Änderung soll eine weitere Fragmentierung des EP verhindern. Sie stellt Deutschland vor besondere Herausforderungen. Das deutsche Bundesverfassungsgericht hat nämlich die in der deutschen Europawahlordnung gültige 3 %-Klausel mit Urteil vom 26.2.2014 aufgehoben: Aus Art. 3 Grundgesetz (Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit) folge, dass jede Stimme grundsätzlich den gleichen Zählwert und die gleiche rechtliche Erfolgschance haben müsse.

Die nachfolgende Tabelle zeigt die Sperrklauseln in den EU-Mitgliedstaaten. Belgien, Bulgarien, Dänemark, Deutschland, Estland, Finnland, Irland, Luxemburg, Malta, Niederlande, Portugal, Slowenien, Spanien und das Vereinigte Königreich besitzen keine Sperrklauseln.

Tabelle 1: "Sperrklauseln in den EU-Mitgliedstaaten"

Quelle: EPRS, Europawahl 2019: Nationale Bestimmungen; Eurostat, Ländercodes der EU; Stand 20.5.2019. 

Sperrklausel Länder
1,8% Zypern
3% Griechenland
4% Österreich, Italien, Schweden
5% Tschechien, Frankreich, Kroatien, Ungarn, Litauen, Lettland, Polen, Rumänien, Slowakei

Wählen und Kandidieren von Unionsbürgern und -bürgerinnen im Wohnsitzland

ÖsterreicherInnen wählen ÖsterreicherInnen. Dieser Grundsatz gilt nicht für die Europawahl (wie er auch nicht ausnahmslos für die Kommunalwahlen gilt). Trotz der nationalstaatlichen Abhaltung der Europawahl ist das aktive und passive Wahlrecht nicht auf ÖsterreicherInnen beschränkt. Die Richtlinie 93/109/EG 1993, geändert 2012, garantiert, dass UnionsbürgerInnen auch in dem Mitgliedsstaat, in dem sie wohnen, zur Wahl gehen und die in diesem Mitgliedstaat aufgestellten Kandidaten und Kandidatinnen wählen können. Sie dürfen auch in diesem Wohnsitz-Mitgliedstaat als Kandidaten und Kandidatinnen aufgestellt werden. Voraussetzung dafür ist, dass sie in ihrem Herkunftsland wahlberechtigt sind und sich im Wohnsitzland in die Europa-Wählerevidenz eintragen haben lassen.

Wahrnehmung des Wahlrechts im Wohnsitzland Österreich

Von diesem Recht hat in Österreich bisher nur ein kleiner Prozentsatz an Unionsbürgern und -bürgerinnen Gebrauch gemacht. Dies zeigt eine Gegenüberstellung der in der Europa-Wählerevidenz eingetragenen UnionsbürgerInnen mit den in Österreich lebenden Unionsbürgern und -bürgerinnen (von denen freilich nicht alle wahlberechtigt wären, z.B. weil sie zu jung sind): In Österreich ist die Anzahl der in die Europa-Wählerevidenz eingetragenen UnionsbürgerInnen zwischen 2014 und 2019 nur leicht gestiegen ist. Die Anzahl der UnionsbürgerInnen anderer Mitgliedstaaten, die in Österreich leben, hat sich hingegen stärker verändert und ist von knapp 519.000 auf ca. 730.000 BürgerInnen gestiegen (Stand 20.05.2019).

Distanzwahl

UnionsbürgerInnen, die nicht in dem Mitgliedsstaat wohnen, dessen Staatsbürgerschaft sie besitzen, haben demnach grundsätzlich zwei Optionen: Sie nehmen an der Wahl des Wohnsitzlandes oder sie nehmen an der Wahl des Herkunftslandes teil. Letzteres ist stark davon abhängig, welche Möglichkeiten zur Distanzwahl das Herkunftsland bietet. Ist eine Briefwahl möglich oder nicht? Die Möglichkeiten zur Distanzwahl sind in den Mitgliedstaat sehr unterschiedlich ausgestaltet. Ein in Österreich lebender Tscheche müsste z.B. nach wie vor zum Wählen nach Tschechien fahren, eine Estin könnte sogar online die estnischen Kandidaten und Kandidatinnen für das EP wählen.

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