Fachinfos - Fachdossiers 30.04.2019

Wie europäisch ist die Europawahl? Wahlkreis und SpitzenkandidatInnen

Das vorliegende Fachdossier beschäftigt sich mit dem Wahlverfahren zum Europäischen Parlament und die Nominierung der SpitzenkandidatInnen. (30.04.2019)

Wie europäisch ist die Europawahl? Europäischer Wahlkreis und Spitzenkandidaten und Spitzenkandidatinnen

Die Spitzenkandidaten und -kandidatinnen der europäischen politischen Parteien legen ihren Wahlkampf europaweit aus. Sie kandidieren für das Europäische Parlament (EP) und sind von den Europäischen Parteien zugleich für das Amt des Komissionspräsidenten/der Kommissionspräsidentin nominiert. Die Spitzenkandidaten und -kandidatinnen können jedoch nur in ihrem Herkunftsland direkt gewählt werden. Entscheidend für die Chancen auf das Amt des Komissionspräsidenten/der Kommissionspräsidentin ist aber ohnehin nicht das persönliche Ergebnis der Spitzenkandidaten und -kandidatinnen, sondern das Ergebnis, das ihre europäischen Parteien insgesamt erhalten. Deren Stärke resultiert aus den Mandaten, die ihre Mitgliedsparteien in den länderweise abgehaltenen Wahlen erzielen können.

Einheitliches Wahlverfahren

Diese Spannung zwischen nationalen und europäischen Prozessen prägt die Entwicklung des Wahlverfahrens zum EP. Die "Parlamentarische Versammlung" der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft setzte sich zunächst aus Delegierten der nationalen Parlamente zusammen. Der Gründungsvertrag zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft 1957 sah aber bereits die Einführung "allgemeiner unmittelbarer Wahlen nach einem einheitlichen Verfahren in allen Mitgliedstaaten" vor (Art. 138 Abs. 3 EWG-V). Mit dem Direktwahlakt 1976 wurde die unmittelbare Wahl der Mitglieder des EP eingeführt. Das erfolgte jedoch auf Basis nationaler Wahlen und Wahlvorschriften, für die im Direktwahlakt nur wenige allgemeine Grundsätze vorgegeben wurden. Der heute geltende Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) bildet nach wie vor diese zwei Optionen ab:

  • die Zukunftsvision eines europaweit einheitlichen Wahlverfahrens (des Jahres 1957) und
  • die vorläufige Lösung einer Direktwahl mit europäischen Grundsätzen für die nationalen Wahlvorschriften (von 1976) (Art. 223 Abs. 1 AEUV).

Europäischer Wahlkreis

Die Abgeordneten des EP haben dennoch mehrere Anläufe zur Schaffung eines einheitlichen Wahlverfahrens unternommen (mehr dazu: The Reform of the Electoral Law of the European Union (2015) und The history of European electoral reform and the Electoral Act 1976 [2016]). Erstmals wurde 1998 auch vorgeschlagen, 10 % der Sitze mittels transnationaler Listen zu besetzen. 2009 brachten EP-Abgeordnete eine legislative Initiative ein, um einen einheitlichen europäischen Wahlkreis für 25 EP-Sitze zu schaffen. Für diesen Wahlkreis sollten die europäischen Parteien (Bündnisse) Kandidaten-Listen aufstellen, die mit einer Zweitstimme wählbar wären. Diese legislative Initiative des Ausschusses für konstitutionelle Fragen fand 2011 im Plenum keine Mehrheit.

Europäische Spitzenkandidaten und -kandidatinnen ohne europäischen Wahlkreis

Erfolgreicher war ein eher pragmatischer Ansatz zur europaweiten Personalisierung der EP-Wahl 2014. Die Grundlage dafür war eine Neuerung des Vertrags von Lissabon: Der Europäische Rat muss demnach beim Vorschlag für das Amt des Kommissionspräsidenten/der Kommissionspräsidentin das Ergebnis der EP-Wahlen "berücksichtigen". Das EP hat daher 2013 mit Entschließung die europäischen Parteien aufgefordert, jeweils einen Spitzenkandidaten/eine Spitzenkandidatin für dieses Amt rechtzeitig zu nominieren. Diese/r soll "die Möglichkeit (haben), eine aussagekräftige EU-weite Wahlkampagne zu organisieren, die sich auf europäische Themen konzentriert".

Die EP-Wahl kann damit auch als Teil der  Wahl des Kommissionspräsidenten/der Kommissionspräsidentin kommuniziert werden. Allerdings kann der Spitzenkandidat/die Spitzenkandidatin nach wie vor ausschließlich auf einer nationalen Liste kandidieren und damit nur in einem Mitgliedsstaat direkt gewählt werden. Nur bei Schaffung eines europäischen einheitlichen Wahlkreises könnten die jeweiligen Spitzenkandidaten und -kandidatinnen grundsätzlich von allen Unionsbürgern und -bürgerinnen direkt gewählt werden. In seiner Entschließung zur Reform des Wahlrechts der EU vom November 2015 hielt das EP daher an einem einheitlichen Wahlkreis fest (siehe Erwägung Q und Vorschlag für einen neuen Art. 2a. im Wahlakt).

Auswirkungen bei der Europawahl 2014

Im Rahmen der Europawahl 2014 nominierten erstmals fünf europäische Parteien ihre Kandidaten und Kandidatinnen für die Kommissionspräsidentschaft. In weiterer Folge wurde Jean-Claude Juncker, Kandidat der Europäischen Volkspartei, vom Europäischen Rat vorgeschlagen und mit breiter Mehrheit vom EP gewählt. Die Rolle des  EP im institutionellen Gefüge war damit gestärkt, die Besetzung des Kommissionsvorsitzes ein Stück weit transparenter gemacht.

Effekte des Spitzenkandidatenmodells auf die Wahlbeteiligung und Ursachen

Die Spitzenkandidaten und -kandidatinnen sollten dazu beitragen, die Bedeutung der EP-Wahl und der europäischen Parteien, welche ihre politischen Vorstellungen länderübergreifend formulieren, zu heben. Dies sollte vor allem in einer höheren Wahlbeteiligung sichtbar werden. Seit der ersten Direktwahl 1976, bei der die Wahlbeteiligung bei 62 % lag, war die Wahlbeteiligung von Wahl zu Wahl gesunken. Anders als erwartet konnte der Trend der sinkenden Wahlbeteiligung 2014 aber nicht gestoppt werden, die Wahlbeteiligung verringerte sich von 43 % im Jahre 2009 auf 42,54 % im Jahre 2014.

Die geringen Effekte des Spitzenkandidatenmodells auf die Wahlbeteiligung 2014 werden unterschiedlich eingeschätzt:

  • Thomas Christiansen konstatiert eine begrenzte Reichweite und Relevanz der Spitzenkandidaten und -kandidatinnen. Er macht dafür Sprachbarrieren und eine vorwiegend national fragmentierte Medienlandschaft verantwortlich. Die Spitzenkandidaten und -kandidatinnen seien inhaltlich schwer unterscheidbar gewesen. Den Grund dafür sieht Christiansen "in der Struktur der EU-Politik und der vorherrschenden Kultur des Kompromisses".
  • Thorsten Oppeland  (in Kaeding/ Switek [Hrsg.], Die Europawahl 2014 [2015]) hält in seiner Analyse fest: "Die meisten Parteien verschweigen nach wie vor ihre Zugehörigkeit zu Euro-Parteien und geben dem europäischen Spitzenkandidaten kaum einen Platz in der Wahlwerbung."
  • Johannes Müller Gómez und Wolfgang Wessels führen für die nach wie vor schwache europäische Ausrichtung der Wahlkampagnen folgende Gründe an: Zur Mobilisierung der WählerInnen würden die nationalen Parteien eher auf populäre nationale PolitikerInnen und innenpolitische Themen als auf die "fernen" EU-Angelegenheiten zurückgreifen. Die Europawahlen würden auch gerne als Test und Vorbereitung für die nächsten nationalen Wahlen genützt.

Europawahl 2019

Mit Beschluss vom 7. Februar 2018 bekräftigte das EP, dass es 2019 nur einen Kandidaten/eine Kandidatin für das Amt des Kommissionspräsidenten/der Kommissionspräsidentin akzeptieren würde, der/die zuvor im Europawahlkampf als europäische/r SpitzenkandidatIn aufgetreten sei. Dies hebe die demokratische Legitimation sowohl der europäischen Exekutive als auch des EP. Die Kommission fasste einen "Beschluss zur Stärkung des europäischen Charakters und der effizienten Durchführung der Wahlen 2019", der (im Motiventeil) auch die nationalen politischen Parteien auffordert, am "Beginn der Wahlkampagne bekannt zu geben, ob und mit welcher europäischen Partei sie verbunden sind und welchen Spitzenkandidaten sie unterstützen."

Sieben europäische Parteien haben diesmal SpitzenkandidatInnen bzw. Spitzenkandidaten-Teams nominiert, und zwar die Europäische Volkspartei - EVP (1), die Sozialdemokratische Partei Europas - S&D (1), die Allianz der Europäischen Konservativen und Reformisten - ACRE (1),  die Allianz der Liberalen und Demokraten - ALDE (7), die Europäische Grüne Partei - EGP (2), die Europäische Freie Allianz – EFA (1) und die Partei der Europäischen Linken - EL (2). Die Europawahl 2019 wird zeigen, welche Bedeutung den europäischen Spitzenkandidaten und -kandidatinnen im Verhältnis zu den nationalen Spitzenkandidat und -kandidatinnen zukommen wird.

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