Parlamentskorrespondenz Nr. 288 vom 05.05.1998

ÖSTERREICHISCHES PARLAMENT GEDENKT DER OPFER DES NS-TERRORS

Präsident Fischer: Gedenktag ist Absage an Gewalt und Rassismus

Wien (PK) - Gemäss einer Entschliessung des Nationalrates vom 11. November 1997 und einer gleichlautenden Entschliessung des Bundesrates vom 20. November 1997 beging das Hohe Haus heute erstmals den "Gedenktag gegen Gewalt und Rassismus im Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus". An der Veranstaltung nahmen der Bundespräsident, die Mitglieder beider Kammern des Parlaments, die Bundesregierung, die Vertreter des Diplomatischen Korps, die Repräsentanten der Religionsgemeinschaften, vor allem aber zahlreiche Überlebende des NS-Regimes teil.

In seiner Ansprache führte Nationalratspräsident Dr. Heinz FISCHER aus, der Gedenktag, welcher heute begangen werde, enthalte zwei Elemente. Einerseits das Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus, das lebendig bleiben müsse und nicht in Vergessenheit geraten dürfe. Andererseits als Botschaft für Gegenwart und Zukunft eine klare Absage an Gewalt und Rassismus.

Es sei nunmehr schon die zweite Generation, die sich mit den bohrenden, schmerzlichen und schwierigen Fragen beschäftigen müsse, wie dies alles habe geschehen können, wer dafür die Verantwortung trage und was wir für die Zukunft daraus lernen können. Niemand könne behaupten, dass auf all diese Fragen klare, umfassende, befriedigende und allgemein akzeptierte Antworten gegeben werden können, aber er, Fischer, denke denn doch, dass Österreich sich diesen Fragen heute offener, selbstkritischer, sensibler und mit mehr Verständnis stellen könne, als dies noch vor einigen Jahrzehnten der Fall gewesen sei.

Unmittelbar nach dem Krieg, so habe es den Eindruck, waren viele Opfer noch stumm vor Schmerz, viele Täter stumm aus Angst oder Selbstgerechtigkeit, während viele Mitläufer primär bemüht waren, zu verdrängen und zu vergessen. Vielleicht die grösser werdende zeitliche Distanz, zum Teil aber auch manche Ereignisse der 80er Jahre führten zu einem Dialog, in dem die Fragen mit grösserer Unbefangenheit gestellt und Antworten mit grösserer Sensibilität gegeben wurden. Und wenn die Frage auftauche, warum erst jetzt, so könne vielleicht keine zufriedenstellende Antwort gegeben, wohl aber die Feststellung gewagt werden: besser spät, als gar nicht.

Es sei wahr, dass Hitler und seine Truppen im März 1938 in einer Art und Weise willkommen geheissen wurden, für die wir uns heute zutiefst schämen, aber es sei nicht wahr, dass die gesamte österreichische Bevölkerung Hitler zujubelte. Daraus ergebe sich die nächste Feststellung: Die Österreicher und Österreicherinnen waren zwischen 1938 und 1945 nicht gesamthaft schuldig und nicht gesamthaft unschuldig, sondern es gab Millionen unterschiedlicher Biographien mit Helden- und mit Übeltaten, mit Zustimmung und Ablehnung, mit Mut und Feigheit. Es gab das gesamte Spannungsfeld zwischen Adolf Eichmann und Sr. Restituta, zwischen jenem österreichischen SS-Mann, der Anne Frank verhaftete, und jenen Widerstandskämpfern, die ihre Gegnerschaft zu Hitler mit ihrem Leben bezahlten. Solschenizin habe in einem seiner Bücher geschrieben, dass die Menschen nicht einfach nur gut oder böse sind, sondern dass die Grenze zwischen gut und böse oft mitten durch ein und dasselbe Herz eines Menschen und erst recht mitten durch das Herz eines Volkes verlaufe.

Das Resümee, so Fischer, müsse daher lauten: "Es kann keine Pauschalverurteilung, aber auch keinen Pauschalfreispruch geben. Wir müssen uns zu dem viel mühevolleren Weg des Differenzierens bekennen, dem Weg der individuellen Verantwortung, dem Weg des Um-Verzeihung-Bittens und des Verzeihens und vor allem auch zum Weg des Lernens für die Zukunft."

Der Gedenktag stelle eine Absage gegen Intoleranz, Fremdenhass, Gewalt und Rassismus dar. Und dies dürfe keine leere Formel sein, sondern müsse in die konkrete Politik Eingang finden. Die Zukunft Europas, das Zusammenleben der Völker müsse nach diesen Prinzipien gestaltet werden. Ein friedliches und schrittweises Näherrücken und Zusammenwachsen der Völker Europas im Rahmen der europäischen Integration sei eine der wirksamsten Konzeptionen gegen Gewalt und Rassismus, sagte Fischer, der in der Folge auf den Nationalfonds für die Opfer des Nationalsozialismus verwies, der in den 32 Monaten seines Bestehens bis heute an 20.934 Personen persönliche Schreiben mit einem einvernehmlich festgelegten Geldbetrag als symbolische Geste der Republik übermittelte, wofür es auch positive Resonanz gab, wie zahlreiche Briefe belegten. Und nur ein einziger solcher Brief hätte schon die grössten Anstrengungen gelohnt, zeigte sich der Präsident überzeugt.

Sodann kam Fischer auf Anne Frank zu sprechen, deren Tagebuch deshalb so erschütternd sei, "weil es so alltäglich ist, weil es so konkret ist, weil es so voll der Hoffnungen und voll des Zweifels ist, weil es - mit einem Wort - so menschlich ist". Adorno meinte bekanntlich, nach Auschwitz könne man keine Gedichte mehr schreiben. Mehr als 50 Jahre danach dürfe man aber den Mut haben zu sagen, auch nach Auschwitz sind Menschen herangewachsen, die wieder Gedichte schreiben können, die musizieren und Bilder malen können. "Worauf es ankommt, ist, dass sich Auschwitz, Mauthausen, Bergen Belsen und Ähnliches niemals wiederholen darf, niemals wiederholen kann, niemals wiederholen wird."

DAS TAGEBUCH DER ANNE FRANK

Anschliessend gelangte die Oper "Das Tagebuch der Anne Frank" von GRIGORI FRID zur österreichischen Erstaufführung. Die musikalische Leitung hatte dabei ASHER FISCH, Inszenierung und Bühnenbild stammten von ERWIN PIPLITS, die Rolle der Anne Frank wurde von ANAT EFRATY gesungen.

Fast wortgetreu hält sich das Libretto an die literarische Vorlage. In 21 kleinen Impressionen, die Tagebucheintragungen entsprechen, zeichnet Frid Lebensstationen der Anne Frank nach. Jedes Stück hat seinen eigenen Charakter, der von der Gemütsverfassung des jungen Mädchens bestimmt wird, die zwischen Angst und unerschütterlichem Glauben an das Gute schwankt. Von romantisch bis expressionistisch reicht auch die musikalische Spannbreite. Wie bei einem Liederzyklus mit instrumentalen Zwischenspielen reihen sich die Szenen aneinander.

Die Geschichte beginnt mit Annes 13. Geburtstag, an dem sie als "schönstes Geschenk" ein Tagebuch erhält. In der Folge bemerkt das Mädchen die immer grösser werdende Gefahr für die Familie durch die SS. Eine Vorladung ihres Vaters zur Gestapo ist der unmittelbare Auslöser zur heimlichen Übersiedlung in das Versteck, das Hinterhaus in der Prinsengracht. Die folgenden Monate sind gekennzeichnet durch ungebrochene Hoffnung auf Freiheit - so zitiert Anne zuversichtlich Radiomeldungen vom Vorrücken der Roten Armee - und immer wieder hochsteigende Angst vor Entdeckung. Die Oper endet mit Annes Reflexion über das Dasein in einer Welt der Dunkelheit, die "uns verschlingen will", wobei Anne sich als Teil aller an dieser dunklen Zeit leidenden Verfolgten und Opfer sieht, dabei aber auch die Stärke der Schwachen erkennend.

SOLIDARITÄT GEGEN JEDWEDE INTOLERANZ

Zum Abschluss der Veranstaltung sprach der Präsident des Bundesrates Ludwig BIERINGER. Anne Franks Tagebuch, die darin enthaltenen Worte der Hoffnung und Zuversicht dringen tief ins Herz jedes Menschen ein, legen Zeugnis ab von der den Menschen innewohnenden Kraft, auch in der Erfahrung von Leid, Unterdrückung und Verfolgung den Lebensmut und die Hoffnung nicht aufzugeben. Der Redner erinnerte daran, dass von den acht Untergetauchten nur Annes Vater die Deportation in das Konzentrationslager überlebte. Als er 1945 nach längeren Nachforschungen schliesslich die Nachricht vom Tod seiner beiden Töchter erhielt, muss für ihn noch einmal eine Welt zusammengebrochen sein. Trotz allem aber hatte er die Kraft, ein Zeichen des Lebensmutes zu setzen, indem er das Vermächtnis seiner Tochter erfüllte und ihre Tagebuchaufzeichnungen in Buchform publizierte.

Das Buch erschien unter dem Titel "Das Hinterhaus" 1947 in einer Erstauflage von nur 1.500 Exemplaren. Seitdem hat es viele Millionen Menschen in seinen Bann gezogen. Die Gesamtauflage dürfte bei rund 16 Millionen Stück liegen. Es sei die Echtheit des Erlebens, so der Präsident weiter, die sich in Anne Franks Tagebüchern niederschlage, es sei aber auch die individuelle Erfahrbarkeit von Leid und Verfolgung, die uns ihre Aufzeichnungen so nahegehen lassen. Am Schicksal dieses Mädchens werde das Leid, das die nationalsozialistische Gewaltherrschaft über eine ganze Generation von Kindern und Erwachsenen gebracht habe, viel unmittelbarer begreifbar als in den Untersuchungen der Historiker. Die Ermordnung von sechs Millionen Juden, darunter einer Million Kindern, sei eine Tatsache, die in ihrer ganzen Grauenhaftigkeit zu erfassen der menschliche Verstand gar nicht fähig ist. Zumindest ansatzweise erfahrbar sei dieses Grauen im Grunde nur dann, wenn man sich die Perspektive Abel Herzbergs zu eigen mache: "Nicht sechs Millionen Juden wurden ermordet, ein Jude wurde ermordet, und das ist sechs Millionen Mal geschehen".

So betrachtet ist auch jenes Leid in buchstäblichem Wortsinn unerlässlich, das sich hinter der zahlenmässigen Opferbilanz der NS-Herrschaft in Österreich verbirgt: Über 65.000 österreichische Juden sind in den Konzentrations- und Vernichtungslagern ermordet worden, 2.700 österreichische Antifaschisten sind als Widerstandskämpfer zum Tode verurteilt und hingerichtet worden, jeweils mehr als 16.000 Österreicher sind in Gestapo-Haft sowie als Häftlinge in Konzentrationslagern ums Leben gekommen.

Der Präsident illustrierte diese Zahlen sodann durch konkrete Schicksale aus seiner Salzburger Heimat, dabei die jüdischen Kaufleute Paul und Max Schwarz, den Kaplan Andres Rieser und den Walser Ortspfarrer Anton Raudaschl vorstellend. Bieringer erinnerte an die Entschliessung von National- und Bundesrat betreffend die Einführung des Gedenktages gegen Gewalt und Rassismus. An diesem Tag gedenke man der Opfer, die der Nationalsozialismus gefordert hat, der Todesopfer ebenso wie jener, die unter ihm gelitten, diese Zeit des Leidens aber überlebt und ihr weiteres Leben in den Dienst des Aufbaus einer demokratisch-rechtsstaatlich strukturierten politischen Gemeinschaft gestellt haben, die sie uns als ihr Vermächtnis hinterliessen.

Über das Gedenken und die Erinnerung hinaus, die wir den Opfern des NS-Regimes schulden, soll uns dieser Tag alljährlich aufs neue mahnend erinnern, dass auch unsere heutige Gesellschaft vor Gewalt und Rassismus keineswegs gefeit ist, so der Präsident weiter. Es gelte, diesen Gefahren auch dort, wo sie latent wirksam sind, stets aufs neue entgegenzutreten. Die Menschenrechte, denen wir uns alle verpflichtet fühlen, sind unteilbar und haben umfassende Geltung. Weder zum Teil noch zur Gänze dürfen sie irgendeinen Menschen wegen seiner ethnischen Zugehörigkeit, seiner politischen Überzeugung, seiner Religion oder aus welchem Grund auch immer entzogen werden. Wo dies dennoch geschieht oder versucht wird, sind wir zur Solidarität aufgerufen, erklärte Bieringer. Es bedürfe der politischen und sozialen Integration, um das Entstehen von durch die Gesellschaft verlaufenden Trenn- und Bruchlinien zu vermeiden. Diese Aufgabe der Integration und damit der Humanisierung, die sich unserer politischen Gemeinschaft stelle, mögen wir daher stets im Sinn tragen, schloss der Bundesratspräsident. (Schluss)