12. NOVEMBER: GRÜNDUNGSTAG DER REPUBLIK ÖSTERREICH/ 1. Teil
Gemeinsame Festsitzung des Nationalrates und des Bundesrates
Wien (PK) - Der Erste Weltkrieg geht für Österreich mit der Zustimmung zum Waffenstillstand am 3. November 1918 seinem Ende zu. Die Donaumonarchie löst sich auf, am 28.10. erfolgt die Proklamation der Tschechoslowakei, am 29.10. verlassen die jugoslawischen Völker den österreichisch-ungarischen Staatsverband, am 1.11. gibt sich Ungarn eine selbständige Regierung. Am 11. November legt Karl Renner dem Staatsrat den Gesetzentwurf über die Ausrufung der Republik vor, verzichtet Kaiser Karl I. auf jeden Anteil an den Staatsgeschäften, am Abend stirbt der Gründer und Einiger der Sozialdemokratie Viktor Adler. In diesen Tagen überschlagen sich die historischen Fakten.
In einer Zeit unsäglicher Not, aber auch grösster Wirren selbst am Tag des 12. November 1918 verabschiedet die Provisorische Nationalversammlung die Gesetze über die Staats- und Regierungsform von Deutschösterreich. Der Beschluss wird gefasst, den Staat "als Republik, das ist als freien Volksstaat einzurichten, dessen Gesetze vom Volk ausgehen und dessen Behörden ohne Ausnahme durch die Vertreter des Volkes eingesetzt werden".
80 Jahre danach gedenken heute der Nationalrat und der Bundesrat in einer gemeinsamen Festsitzung der Gründung der Republik Österreich. Alles, was Rang und Namen hat, ist in dem blumengeschmückten Sitzungssaal der Bundesversammlung zugegen. Bundeskanzler Mag. Viktor KLIMA, Vizekanzler Dr. Wolfgang SCHÜSSEL, das Ministerkollegium und die Staatssekretäre nehmen auf der Regierungsbank, die geladenen Gäste im Halbrund des Saales Platz.
Vom Balkon aus verfolgen die ehemaligen Bundespräsidenten und deren Gattinnen, das diplomatische Corps und die höchsten Würdenträger der gesetzlich anerkannten Religionsgemeinschaften sowie Spitzenfunktionäre der Interessenvertretungen die Festveranstaltung.
Die Zeremonie wird mit einer Fanfare von Michael Mautner nach einem Motiv aus "Sub umbra alarum tuarum" einbegleitet.
Bundespräsident Dr. Thomas KLESTIL nimmt - begleitet vom Präsidenten des Nationalrates und vom Präsidenten des Bundesrates - auf einem vor dem Präsidium aufgestellten Fauteuil Platz.
Der Präsident des Bundesrates Alfred GERSTL eröffnet mit seiner Ansprache die Festsitzung. Hiebei führt er wörtlich aus: Ich eröffne die heutige Festsitzung des Nationalrates und des Bundesrates zum Anlass der 80. Wiederkehr des Tages der Errichtung der Republik Österreich.
Respektvoll begrüsse ich in unserer Mitte den Herrn Bundespräsidenten Dr. Thomas Klestil.
Ich begrüsse den Herrn Bundeskanzler, Mag. Viktor Klima, den
Herrn Vizekanzler, Dr. Wolfgang Schüssel, die Mitglieder der
Bundesregierung und die Altbundespräsidenten Dr. Rudolf Kirchschläger und Dr. Kurt Waldheim.
Meinen Willkommensgruss entbiete ich den Vertretern der
Landesregierungen und Landtage.
Respektvoll begrüsse ich die Vertreter des diplomatischen Corps
und der Religionsgemeinschaften sowie alle übrigen Fest‑ und
Ehrengäste, die an unserer heutigen Festsitzung teilnehmen.
Hohe Festversammlung! Sehr geehrte Damen und Herren! An diesem Tag zu Ihnen zu sprechen, ist für mich mehr als ein Akt staatsbürgerlicher Gesinnung und ehrenvoller Verpflichtung. Es ist ein Tag der Rechenschaft und des Besinnens, dem sich jeder zu stellen hat, der in diesem Land politische Verantwortung trägt und Verantwortung wahrnimmt. Rechenschaft und Besinnen setzt aber bei jedem auch eine Reflexion seines eigenen Standpunktes voraus, den ich als Produkt der individuellen Formung durch das persönlich Erlebte und Rezipierte sehe.
Vor 80 Jahren haben die Abgeordneten der deutschsprachigen
Gebiete der österreichischen Reichshälfte mitten in den Trümmern
der auseinanderbrechenden Monarchie die Republik
Deutschösterreich als einen Bestandteil der hypothetisch
angenommenen "Deutschen Republik" proklamiert. Ohne klare Grenzen
zu besitzen, ausgeblutet und verstört, am Ende des Krieges, der
die alte Welt europaweit zerstört hatte, begann man den neuen
Staat zu schaffen.
Als die Koalitionsregierung 1920 zerbrach, hatte dieser neue
Staat seine von Hans Kelsen geformte Verfassung erarbeitet, waren
die gesetzlichen Grundlagen für eine neue, gerechtere
Sozialordnung geschaffen, hatte der Staat seine Grenzen, die im
Friedensvertrag von Saint-Germain geschrieben wurden.
In Frage gestellt und bedroht, konnten diese Grenzen nach 1945
bewahrt werden und schliesslich lange vor dem Fall des
Kommunismus Ausgangspunkt auch regionaler Aussenpolitik werden;
ich nenne hier unseren verewigten Herrn Landeshauptmann Josef
Krainer, der den Menschen in den Grenzregionen die Angst nahm und
Brücken bauen liess.
Angesichts der europäischen Integration und im Hinblick auf die
zu leistende EU‑Osterweiterung ist gerade auf die Brückenfunktion
der Grenzregionen besonders zu achten.
Das Sanierungswerk Ignaz Seipels schuf in der Ersten Republik die
Basis für lebensfähige, volkswirtschaftliche Rahmenbedingungen,
die Voraussetzungen für eine sozial gerechtere Gesellschaft zu
schaffen hatten.
Voraussetzung für das Beginnen dieses Sanierungswerkes war aber
jener Akt der internationalen Solidarität, der in den Genfer
Protokollen vertraglich fixiert wurde.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges bildete wieder die
internationale Solidarität die Basis für den wirtschaftlichen
Neubeginn. Im Marshall-Plan wurden jene Ressourcen geboten, die den
Aufbauwillen der Österreicher nicht ins Leere laufen liessen.
Die Erste Republik wurde geprägt vom Spannungsverhältnis der
Parteien, deren charismatischer Absolutheitsanspruch jenen
gesellschaftlichen Kräften den Weg ebnete, die unser Land in die
Katastrophe führten.
Der spezifische Lagerpatriotismus ersetzte die damals weitgehend fehlende Identität mit diesem Staat.
Die Aggressionsbereitschaft einer Generation, deren prägende
Erlebnisse die Schützengräben des Ersten Weltkrieges waren, die
Politik der radikalen Phrase und der arroganten Selbstgewissheit
stehen in einem charakteristischen Gegensatz zu jenen
Ereignissen, die man als echte Landmarken auf dem Weg zu einer
Konsolidierung des Staates anführen muss. Die Einigung in der Schulfrage, die Verfassungsnovellen, das konsensuale Klima über die Jahre auf der Ebene der Landesregierungen.
Die Gräber des Februar 1934 und die Ausgrenzung der
österreichischen Sozialdemokratie, die Ermordung von Dollfuss am 25.
Juli 1934 haben das Land und sein politisches Klima nachhaltig
katastrophal beeinflusst.
Dieser Weg in die Katastrophe war jedoch nur die eine Option. Die
andere, zukunftsweisende Option wäre das Miteinander gewesen. Es klingt an im Kompromiss um die Verfassungsnovelle 1929, im
Koalitionsangebot Seipels an seinen grossen Gegenspieler, Otto
Bauer, es manifestiert sich in der Kooperationsbereitschaft
sozialdemokratischer Funktionäre gegenüber der Regierung im
Herbst 1933.
Man begegnete diesem Suchen nach einer gemeinsamen Formel wieder
in den Märztagen 1938, als linke Funktionäre trotz allem bereit
waren, gemeinsam mit den Repräsentanten des Ständestaates die
deklarierte Volksbefragung Kurt von Schuschniggs zu unterstützen.
Noch heute laufen wir alle Gefahr, in der Betrachtung des März
1938 nur die vordergründigen Täter und deren Opfer zu sehen.
Die schweigende Mehrheit, die weder Täter und schon gar nicht
Opfer gewesen ist, hat den Rahmen für eine spezifische
österreichische Kollaboration mit der NS‑Macht gebildet.
Die direkte und indirekte Nutzniessung an der Ausplünderung und
Vertreibung der Opfer der sogenannten Nürnberger Rassengesetze
waren die Folge des in Jahrhunderten ansozialisierten und zur
Tradition gewordenen eliminatorischen Antijudaismus, der 1938 zu
den gewissenlosen Vorgängen bis hin zum Novemberpogrom führte,
und letztlich den industrialisierten Massenmord erst möglich
gemacht hat.
Viel zu lange hat die Opferthese, 1938 besetzt worden zu sein,
nach 1945 eine Politik ermöglicht, die den Ermordeten, den
Ausgeplünderten und gnadenlos Verfolgten das vorenthalten hat,
was Menschenrecht verlangt: Gerechtigkeit. Das Erlittene kann man nicht gutmachen, schon gar nicht "wiedergutmachen".
Die Gerechtigkeit ist aber die unabdingbare Basis für ein
menschenwürdiges Leben.
1938 war auch das Ende aller Impulse, eingebracht durch unsere
jüdischen Bürger, die zwischen 1918 und 1938 massgeblich
mitgeholfen hatten, Österreich an die Weltspitze der
Wissenschaft, Kunst und Kultur zu bringen.
Daraus lässt sich ermessen, wie gross umgekehrt die Befruchtung
gewesen ist, welche das geistige Leben jener Länder, welche die
vertriebenen österreichischen Wissenschafter und Künstler
aufgenommen haben, erfahren hat.
Ein aktuelles Beispiel hiefür ist der diesjährige Nobelpreisträger für Chemie, der aus Wien gebürtige Professor Walter Khon, der heute an der Universität von Santa Barbara in Kalifornien wirkt.
Wer in aller Welt kennt nicht die Namen der österreichischen
Physiker, wie Liese Meitner, Mariette Blau usw., oder unserer
berühmten Komponisten, Dichter und Mediziner.
So ist auch die Philosophie der angloamerikanischen Welt von
österreichischen Emigranten wie Wittgenstein und Popper ebenso
nachhaltig geprägt worden, wie die Sozialwissenschaft durch
vertriebene Soziologen wie Lazarsfeld und Jahoda.
Wie sehr durch das Wirken österreichischer Künstler und
Wissenschafter in den Ländern ihres Exils das
Verständnis für das damals zur Ostmark verwandelte Österreich
geweckt worden ist, das wird zumeist weniger beachtet, kann aber
gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Sie machen deutlich, dass es ein geistiges Österreich gab, das in Opposition zum Nationalsozialismus stand.
Als Österreich wiedererstanden war, war es beispielsweise im
Herbst 1945 eine von österreichischen Wissenschaftern im
Londoner Exil initiierte Konferenz, welche die Kontakte zwischen
Österreich und der wissenschaftlichen Welt wieder anbahnte.
Dass all diese Aktivitäten von offizieller österreichischer
Seite so wenig bedankt geblieben sind, dass keine offizielle
Initiative zur Zurückholung der Vertriebenen gesetzt worden ist,
das erscheint aus heutiger Sicht nicht nur moralisch, sondern
auch politisch falsch, da so auch der Verlust an geistigem
Potential endgültig gemacht worden ist.
Im Blick auf die Entwicklung der Republik Österreich ist eine
fast paradox anmutende Situation zu vermerken.
Die durch Parteienhader wirtschaftlich und politisch so instabile
Erste österreichische Republik hat zwischen 1918 und 1938 eine
unvergleichliche wissenschaftliche und künstlerische Blüte
hervorgebracht.
Der Zweiten österreichischen Republik ist es durch das
Miteinander zwar gelungen, ein stabiles, funktionsfähiges,
politisches System zu etablieren und wirtschaftliche Erfolge zu
erzielen, in kultureller und wissenschaftlicher Hinsicht konnte
sie an die geistige Blüte der Ersten Österreichischen Republik
nicht anschliessen.
Bereits im Wahlkampf 1945, massiv im Hinblick auf die Wahlen
1949, stellte sich die Frage der politischen Re‑Integration jener
Menschen, die 1945 von den Wahlen als ehemalige
Nationalsozialisten ausgeschlossen waren.
In meinen Begegnungen sah ich die Not bei diesen Menschen, deren
Weltanschauung und häufig auch deren Gesundheit zerstört worden
waren. Diese Menschen benötigten die Hand, die ihnen entgegengestreckt signalisierte, dass auch sie zum Neubau Österreichs aufgerufen waren.
Ich meinte damit nicht jene Täter der NS‑Zeit, die individuelle
Schuld zu verantworten hatten.
Ich meinte und meine jene, die aus gläubigem Idealismus, aus
falsch verstandener Opposition oder durch Not als Mitläufer
Träger des NS‑Regimes geworden waren.
Deren Integration in die politische Landschaft der Zweiten
Republik ‑ gleichgültig in welcher politischen demokratischen
Option sie sich unserer Republik zuwandten ‑ wird häufig mit dem
"Wettrennen der Parteien um die Stimmen der Ehemaligen"
kritisiert und in Frage gestellt.
Aus dieser Kritik spricht zweierlei: Einerseits kommt damit zum
Ausdruck, dass man, um den Vorteil bei Wahlen zu nutzen, immer
rascher und undifferenzierter die Entnazifizierung vorantrieb.
Andererseits aber spricht daraus auch die Kritik an einer Politik, die Milde gegenüber den Tätern, grausam aber gegenüber den Opfern des braunen Regimes gewesen ist.
Um der "Normalität" willen schwieg man über die Opfer, entzog man
sich deren gerechten Forderungen und marginalisierte ihr
unermessliches Leid.
Diese Zweite Republik hat aber auch für alle sichtbar Wunderbares
geleistet.
Aus den Trümmern des Krieges wurde ein Staatswesen entwickelt,
dessen Wirtschaftskraft, dessen Sozialsystem, dessen Stabilität
nicht nur gemessen an der Ersten Republik, sondern auch gemessen
am westeuropäischen Standard, herausragend ist. Dies war möglich, weil die internationale Solidarität wirksam geholfen hat.
Dieser Solidarität verdanken wir neben der wirtschaftlichen
Gesundung die rasche Eingliederung als gleichberechtigter und
souveräner Staat.
In wirtschaftlicher und politischer Hinsicht dem demokratischen
Westen verbunden, konnte Österreich an der Grenze zum Eisernen
Vorhang politisch Brücken schlagen und humanitäre Hilfe leisten.
Heimat muss die Weite sein, sie darf niemals über die Enge
definiert werden, wie es mein steirischer Landsmann Hans Koren
formuliert hat.
Unsere Kultur ist zutiefst geprägt vom Austausch
unterschiedlichster Traditionen, kultureller Strömungen und
Ideen.
Vorstellungen, ein Europa der Reichen zu zementieren und die
Hilfe und Integration den ärmeren und schwächeren Staaten zu
verwehren, stellen das gesamte Konzept eines neuen und wirklich
modernen Europas, das am Ende dieses Jahrhunderts erstmals
Wirklichkeit zu werden scheint, in Frage.
Wir haben in den dreissiger Jahren erlebt, dass fehlende Kommunikation, Gefühlskälte und die scheinbar normative Kraft des Faktischen jenen eine Chance gab, deren radikaler Oppositionshabitus
blendete.
Unsere Demokratie ist 80 Jahre nach der Gründung so stark geworden, dass wir unsere Probleme offen und kontrovers diskutieren können, ohne den Staat in Frage zu stellen und ohne demagogisch verzerrte Hassbilder von Personen, Nationen, Religionen und Institutionen in Umlauf zu setzen.
Nützen wir diese Stärke und akzeptieren die Pluralität der Meinungen, hören wir wieder mehr aufeinander, damit nicht spezifische Gruppeninteressen zum Nachteil des Ganzen triumphieren.
Sorgen wir auch auf dieser Ebene für Gerechtigkeit, die der Boden
für Wärme und Optimismus ist, denn nichts wäre schrecklicher, als Angst vor der Zukunft.
Es lebe unser Vaterland, die Republik Österreich! (Fortsetzung)