Parlamentskorrespondenz Nr. 719 vom 12.11.1998

12. NOVEMBER: GRÜNDUNGSTAG DER REPUBLIK ÖSTERREICH/ 2. Teil

Dr. Fischer baut auf friedliche Zukunft für Österreich und Europa

Wien (PK) - Nach den "Geistlichen Liedern" von Anton Webern ergreift der Präsident des Nationalrates Dr. Heinz FISCHER das Wort:

Niemand hätte im November 1898 ‑ also vor genau 100 Jahren ‑ vermutet oder gar vorhergesehen, dass 20 Jahre später die grosse stolze Monarchie in Trümmern liegt und Österreich eine Republik mit knapp über 80.000 km2 und mit so trostlosen Zukunftsaussichten sein werde, so dass in fast allen politischen Lagern Zweifel an der Lebensfähigkeit dieses Staates herrschen sollten.

Niemand hätte im November 1918, vor 80 Jahren, vorhergesehen, dass 20 Jahre später Deutschland der Führerstaat eines Adolf Hitler sein werde und dass dieser Adolf Hitler im März 1938 auf dem Wiener Heldenplatz seine "Vollzugsmeldung vor der Geschichte" über die Heimholung Österreichs ins Deutsche Reich erstatten werde, nachdem Österreich schon einige Jahre vorher aufgehört hatte, eine Demokratie zu sein.

Niemand hat sich im November 1938, ein halbes Jahr nach dem Anschuss, also in den Tagen der sogenannten Reichskristallnacht und knapp nach dem Münchner Abkommen vorstellen können, dass Österreich 20 Jahre später, also 1958 wieder ein selbständiger demokratischer Staat sein werde, nachdem unser Land sieben Jahre als Ostmark des Deutschen Reiches und dann zehn Jahre als wiedererrichteter, aber vierfach besetzter Staat existieren musste.

Und niemand hat sich im Jahr 1978 vorstellen können, dass innerhalb der nächsten 20 Jahre das kommunistische System in ganz Europa mehr oder weniger lautlos wie ein Kartenhaus zusammenbrechen werde, dass Österreich der EU beitreten werde und dass z.B. in Südafrika ein langjähriger schwarzer Häftling von Robben Island zum Staatspräsidenten gewählt werden würde.

Man sieht daraus, meine Damen und Herren, dass die Geschichte ungeheure Dynamik entwickeln kann, sogenannte Schallmauern durchbricht, Fesseln sprengt, Festgefügtes durcheinanderwirbelt, aber auch ruhig dahinfliessen kann.

Deshalb müssen wir unser ganzes Augenmerk und unsere gemeinsamen Energien auf die Erfüllung unserer wesentlichen Zielsetzungen, auf die Lösung von Problemen, auf den Beginn des nächsten Jahrhunderts, auf die Zukunft unseres Landes und auf die Zukunft Europas richten.

Aber eines ist wahr: Es ist nicht leicht zu wissen, wohin man gehen soll, wenn man nicht weiss, woher man kommt.

Und insofern ist auch an einem Tag wie heute, also am 80. Geburtstag dieser unserer Republik, der Rückblick auf unsere Geschichte, das Bemühen um das Verständnis dieser Geschichte so wichtig.

Und so richten wir unser Augenmerk auf eine Geschichte, in der Richtiges und Falsches, Menschliches und Unmenschliches, Bewundernswertes und Verabscheuungswürdiges, also Ereignisse, die uns mit Stolz und solche, die uns mit Scham und mit Trauer erfüllen, oft sehr dicht beisammen gelegen sind.

Ich habe schon die sogenannte Reichskristallnacht vom November 1938, also vor genau 60 Jahren erwähnt, die man eigentlich Reichspogromnacht nennen muss, denn es war ein Pogrom mit Toten, mit körperlich verletzten und noch viel mehr in ihrer Menschenwürde und ihren Menschenrechten verletzten, entrechteten, bedrohten und vielen verhafteten jüdischen Mitbürgern, die übrigens im "Völkischen Beobachter" vom 11. November 1938 auf Seite 1 lesen mussten, dass den Juden ohnehin kein Haar gekrümmt wurde, aber dass die "endgültige Antwort" schon noch kommen werde.

Herr Bundespräsident! Meine Damen und Herren! Wann und warum hat eigentlich immer wieder auch das Falsche, das Unmenschliche, das Niedrige gesiegt? Gibt es dazu eine Erklärung? Gibt es dazu plausible Antworten? Ich glaube, dass das Unmenschliche und das Unbegreifbare insbesondere dann siegen konnten, wenn vorher der Boden dafür aufbereitet wurde, wenn vorher Hass gesät wurde, wenn man das menschliche Mass verloren hat, wenn Rassismus und Fanatismus gepredigt wurden und wenn man zugelassen hat, dass Gewalt über Recht triumphiert.

Daher müssen wir versuchen, uns jeweils für die entgegengesetzten Positionen zu entscheiden, müssen wir dafür eintreten, dass Hass und Fanatismus sich nicht entfalten können, dass Recht vor Gewalt geht, und zwar sowohl im nationalen als auch im internationalen Massstab, und das wird wiederum nur gelingen, wenn man begreift, dass Krieg und Gewalt nicht plötzlich wie ein Meteor vom Himmel herabfallen, sondern Konsequenz eines langen Vorlaufprozesses, lang andauernder Verhetzung, aber auch lang andauernder ungelöster Probleme sind.

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wenn wir in den vergangenen Jahrzehnten einen runden Geburtstag unserer Republik zum Anlass einer Feierstunde gemacht haben, dann richtete sich der historische Rückblick meistens auf die tragische Geschehnisse der Ersten Republik und auf die Zeit zwischen 1938 und 1945.

In der Zwischenzeit sind auch Entwicklungen, Errungenschaften oder Fehler der Zweiten Republik in verstärktem Masse zum Gegenstand historischer Reflexionen und Betrachtungen geworden.

Erst vor wenigen Wochen ist der Beschluss zur Einsetzung einer Historikerkommission gefasst worden und vor wenigen Tagen ist im österreichischen Nationalrat darüber diskutiert worden, wieso es eigentlich so war, dass Kunst‑ und Kulturgüter, deren Herkunft viele gekannt haben oder zumindest hätten kennen müssen, sich seit Jahrzehnten in staatlichen Sammlungen befunden haben, ohne Bemühungen zur Restitution, wie sie im heurigen Jahr unternommen wurden.

Es wurde auch diskutiert, warum wir auf Österreicherinnen und Österreicher, die aus Anlass der Machtübernahme Hitlers in Österreich bei Nacht und Nebel ihre Heimat verlassen mussten, nicht schon früher, mit den richtigen Worten und mit offenen Armen zugegangen sind ‑ gleichgültig, ob es hervorragende Wissenschafter oder sogenannte einfache Menschen waren.

Ich glaube, dass die Antwort auf diese und andere Fragen nicht nur aus historischen Fakten und politischen Konstellationen abgeleitet werden kann, sondern dass weiters auch psychologische Faktoren eine wichtige Rolle gespielt haben könnten. Offenbar gab es so etwas wie eine Art Unfähigkeit zu trauern, eine Unfähigkeit zurückzublicken, eine Unfähigkeit zu reden, teilweise sogar die Unfähigkeit zu klagen und anzuklagen. Auch ein Nationalrat, in dem KZ‑Opfer wie Jochmann und Figl, Migsch und Olah, Lackner und Gorbach Mitglieder gewesen sind, war offenbar nicht in der Lage, manche Dinge richtig zu artikulieren und in Angriff zu nehmen.

Daraus leite ich ab, dass es auch und gerade heute ‑ also ein bis zwei Generationen später ‑ wichtig ist, mit allen diesen Fragen aus unserer Geschichte in sensibler Weise umzugehen. Gleichzeitig freue ich mich jedes Mal, wenn unserer Republik bestätigt wird, richtige Schritte in dieser Richtung zu setzen, was auch das aufrichtige Bemühen vieler und vieler Institutionen ist.

Meine Damen und Herren! Ich habe versucht darzulegen, wieviel sich im 20. Jahrhundert oft in zwei Jahrzehnten verändert hat.

Was kann demnach von den nächsten zwei Jahrzehnten erwartet und über den Weg Österreichs bis zum 100. Geburtstag der Republik im Jahre 2018 gesagt werden?

Zum Unterschied von der Vergangenheit, die unveränderlich festgeschrieben ist, haben wir für die Zukunft noch Gestaltungsspielraum. Wir wissen, dass der Gestaltungsspielraum nicht unbegrenzt ist, aber wir haben immer wieder die Chance, zwischen zwei oder mehreren Optionen zu wählen und Entscheidungen zu treffen oder zu beeinflussen.

Wir haben die Chance, für eine demokratische, humane und soziale Gesellschaft einzutreten. Und zu den wichtigsten Entscheidungen wird es wohl gehören, an einer Ausweitung der Zone des Friedens und der Stabilität in Europa, wie es auch der Herr Aussenminister angesprochen hat, zu arbeiten.

Es kann nicht falsch sein, wenn wir darum bemüht sind, jene Zone des Friedens, der Stabilität und der wirtschaftlichen Kooperation, die heute 15 europäische Demokratien umfasst, schrittweise auszubauen.

Friede, Sicherheit und europäische Kooperation sind so wertvolle Güter, dass man sich wünschen darf und wünschen sollte, zum 100. Geburtstag dieser Republik nicht nur auf grosse und entscheidende Fortschritte in diesen Bereichen zurückblicken zu können, sondern ein neues, erweitertes friedliches Europa mit einer gemeinsamen Verfassung und einer verstärkten gemeinsamen Identität vorzufinden. Jedenfalls wäre das eine Vision, eine Zielvorstellung, für die es sich lohnt einzutreten.

Wir sind aber auch verpflichtet, dafür einzutreten, dass unser eigenes demokratisches System sich weiterentwickeln kann, es zu schützen und in Bewegung zu halten.

Natürlich ist es wahr, eine Binsenweisheit, dass die Demokratie niemals perfekt sein wird. Dementsprechend muss sie auch Kritik vertragen.

Ja, noch mehr, Demokratie lebt von der Kritik, vom Widerspruch und von der Gegenposition; aber das wiederum heisst nicht, dass der Inhalt von Kritik und Widerspruch automatisch als die höhere oder gar einzige Wahrheit akzeptiert werden muss.

Und tatsächlich gibt es vieles, worauf wir in Österreich stolz sein dürfen und worüber wir uns freuen können, und es muss erlaubt sein, am 80. Geburtstag auch auf die vielen positiven Seiten in unserer Bilanz zu verweisen, die vor allem dann deutlich sichtbar werden, wenn man die ersten 30 Jahre unserer Republik mit den letzten 40, 50 Jahren unserer Geschichte vergleicht.

Es ist nicht genügend Zeit, um auch kulturelle Entwicklungen zu beleuchten, um die Spannweite zwischen Bücherverbrennung und Freiheit der Kunst ins Auge zu fassen. Es ist aber kein Zufall, dass wir für die musikalische Umrahmung des heutigen Festaktes eine Komposition von Anton Webern aus 1918, ein tröstliches Nonett von Hanns Eisler aus den finsteren Stunden des Jahres 1938 und eine Auftragskomposition des österreichischen Komponisten Michael Mautner aus 1998 ausgewählt haben, die heute unsere Festsitzung musikalisch begleiten und ich möchte sowohl dem anwesenden Komponisten als auch den Musikern sehr herzlich danken.

Herr Bundespräsident! Meine Damen und Herren! Mein Dank in dieser Stunde gilt allen Bürgerinnen und Bürgern, die am Aufbau und an einer guten Entwicklung dieser Republik gearbeitet haben.

Mein Gruss gilt auch jenen Österreicherinnen und Österreichern, die derzeit - aus welchen Gründen auch immer - im Ausland tätig sind und auch allen ehemaligen Österreicherinnen und Österreichern, die im Ausland eine neue Heimat suchen mussten und auch gefunden haben, um der Diktatur und den Vernichtungslagern zu entkommen und die Österreich dennoch im Herzen behalten haben, wie wir aus vielen Zeitzeugnissen wissen.

Unsere gemeinsame Hoffnung richtet sich auf eine friedliche Zukunft der Republik Österreich und auf die Zukunft eines friedlichen Europa.

- Ich danke Ihnen. (Fortsetzung)