Parlamentskorrespondenz Nr. 720 vom 12.11.1998

12. NOVEMBER: GRÜNDUNGSTAG DER REPUBLIK ÖSTERREICH/ 3. Teil

Klima: Soziale Gerechtigkeit und Friede für das Europa der Zukunft

Wien (PK) - Es folgt im Rahmen der Festsitzung eine weitere musikalische Darbietung aus dem Nonett Nr. 2 von Hanns Eisler.

In seiner Ansprache sagt Bundeskanzler Mag. Viktor KLIMA:

Herr Bundespräsident! Herr Präsident des Nationalrates! Herr Präsident des Bundesrates! Meine Damen und Herren Abgeordneten und Bundesräte! Werte Gäste! Hohe Festversammlung!

In seinem grossen historischen Werk "Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts" schreibt Eric Hobsbawm vom "Kurzen 20. Jahrhundert". Es beginnt mit dem Ersten Weltkrieg, der den Zusammenbruch der westlichen Zivilisation des 19. Jahrhunderts markiert und endet mit der Auflösung der Sowjetunion zwischen 1989 und 1991. Mit dem Zusammenbruch des kommunistischen Systems ist die Welt in eine neue Epoche eingetreten.

In diesem "Kurzen 20. Jahrhundert" hat sich die Welt in einem Tempo und Ausmass verändert wie in keinem Jahrhundert zuvor. Es war ein Jahrhundert der Extreme, im Positiven wie im Negativen.

In der Geschichte der Republik Österreich zwischen 1918 und 1998 spiegeln sich die Katastrophen und Errungenschaften des "Kurzen 20. Jahrhunderts" wider. Wenn wir uns heute zusammengefunden haben, um dieser acht Jahrzehnte zu gedenken ‑ eine Zeitspanne, die ein Menschenleben ausmacht ‑, dann können wir gleich am Anfang eines hervorheben: Österreich hat die Krisen und Katastrophen dieses Jahrhunderts nicht nur überstanden.

Wir sind heute eine Republik, an deren Lebensfähigkeit niemand zweifelt, die sich in den letzten Jahrzehnten emporgearbeitet hat zu den führenden Industrienationen der Welt, eine Republik, in der Solidarität, Menschenrechte und Toleranz Grundwerte des Zusammenlebens sind.

Das war vor 80 Jahren völlig anders. Viele Österreicherinnen und Österreicher können sich noch an die menschlichen Katastrophen und Tragödien der ersten Jahrzehnte des "Kurzen 20. Jahrhunderts" erinnern, von denen auch unser Land nicht verschont blieb. Sie erlebten, wie die politischen Gegensätze im Bürgerkrieg 1934 eskalierten.

Sie erlebten das Ende der Demokratie, die Ausschaltung politischer Gegner und die Umwandlung Österreichs in einen autoritären Ständestaat. Sie erlebten Massenarbeitslosigkeit und bittere Armut. Und sie erlebten den März 1938 und die Eingliederung Österreichs in die nationalsozialistische Diktatur mit allen ihren furchtbaren Folgen. Diese bitteren Jahre machten deutlich, wohin das Fehlen demokratischer Strukturen, wohin Hoffnungslosigkeit und Massenelend führen können: zu Bürgerkrieg, politischer Willkür, Krieg und Massenmord.

Für mich gehört zu den wichtigsten Lehren aus dem Scheitern der Ersten Republik, dass wir niemals wieder zulassen dürfen, dass sich die Politik selbst blockiert. Sei es durch eine unüberwindbare Polarisierung der Standpunkte, sei es, indem sie sich aus der Verantwortung stiehlt und die Menschen mit ihren Sorgen und Ängsten allein lässt. Das ist auch das Vermächtnis der Gründergeneration der Zweiten Republik, die sich über den Gräben von 1934 und 1938 hinweg die Hand zur Zusammenarbeit für ein neues demokratisches Österreich gereicht hat.

Hohes Haus! Die Bilder des 27. April 1945 ‑ der Tag, an dem die Unabhängigkeit Österreichs erklärt wurde ‑ zeigen jubelnde Menschen und tanzende Paare auf der Ringstrasse. Im Gegensatz zu 1918 haben die Österreicher den Neuanfang gemeinsam und geeint gefeiert, die Ärmel aufgekrempelt und mit der Arbeit für ein besseres Österreich begonnen.

Mit dem Staatsvertrag von 1955 wurde die Republik Österreich als freies und selbständiges Mitglied in die Staatengemeinschaft aufgenommen. Damit begann ein international bemerkenswertes Kapitel selbstbestimmter kontinuierlicher friedlicher Entwicklung, die unser Land zu einem sicheren und wohlhabenden Land und zu einem weltweit anerkannten und respektierten Partner, zu einer selbstbewusster Nation gemacht hat.

Aber ist unser Land auch für die Zukunft gerüstet? Der berechtigte Stolz auf das österreichische Erfolgsmodell darf nicht zu Selbstlob und Selbstzufriedenheit führen. Mit Selbstlob und Selbstzufriedenheit werden wir die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts nicht bewältigen. Zukunft ist kein automatisches Fortschreiben der Vergangenheit. Das Gestalten der Zukunft fordert die Innovationsfähigkeit dieser Gesellschaft.

Wir müssen dieses Land verändern, ohne das aufzugeben, was uns stark gemacht hat. So haben Barrieren und Benachteiligungen für Frauen keinen Platz mehr. Wir müssen eine Gesellschaft verwirklichen, in der Frauen und Männer partnerschaftlich ihre Rechte und Pflichten teilen. Ich meine den sozialen Ausgleich, den sozialen Dialog, das Suchen von Lösungen, die ein Höchstmass an Gerechtigkeit für alle bringen. Dieser Weg, Politik zu machen, hat das Modell Österreich erfolgreich gemacht. Heute müssen wir dieses Modell modernisieren, zukunftsfähiger machen.

Politik muss Frauen und Männer in die Lage versetzen, ihre Chancen zu ergreifen. Das erfordert den Abbau von Barrieren, die den einzelnen daran hindern, seine Ideen zu verwirklichen. Ein gewisser Hang zur Bürokratisierung engt Menschen ein, engt ihren Freiraum ein, Chancen zu nutzen. Ich unterstelle zwar niemandem, der Vorschriften macht und neue erfindet, eine böse Absicht. Aber wenn der Wille, die Verhältnisse für die Menschen zu regeln, in Regulierungswut ausartet, dann ist gutgemeint das Gegenteil von gut.

Wir wollen gemeinsam eine neue Regulierungskultur, die den Schutz der Schwächeren vereint mit dem Schaffen neuer Freiräume. Eine neue Regulierungskultur, die neue Chancen möglich macht, statt sie zu verhindern. 

Hohes Haus! Ich halte wenig von den düsteren Prognosen, dass der Gesellschaft die Arbeit ausgeht. Arbeit ist und bleibt wichtig für die Position des einzelnen in der Gesellschaft, für seine Identität, für seine Selbstbestimmung. 

Es ist die Verantwortung der Politik und der Wirtschaft, der Arbeitnehmer und Arbeitgeber, den Wandel in der Arbeitswelt so zu gestalten, dass neue Arbeitsplätze entstehen, dass eine neue Vollbeschäftigung möglich wird. Wobei Wettbewerbsfähigkeit und soziale Verantwortung für mich keine Zielkonflikte sind. Erst die Verbindung von beidem schafft faires Wachstum.

Die Wettbewerbsfähigkeit der Zukunft liegt bei dem, der das Wissen und die Fähigkeiten der Menschen als wichtigsten Rohstoff begreift. Das bedeutet, unserer Jugend die bestmögliche Ausbildung zu ermöglichen und die Fort‑ und Weiterbildungsmöglichkeiten in der Arbeitswelt ständig zu verbessern.

Wissen gibt Sicherheit, Wissen schafft Mut. Es muss unser Ziel sein, als eine Gesellschaft in die Zukunft zu gehen, in der die Bereitschaft zum eigenständigen Handeln, der Mut zu Neuem und der Wille, Chancen zu nutzen, die neuen Tugenden sind.

Danach muss sich auch eine bessere Qualität der öffentlichen Leistungen orientieren. Leistungsfähige materielle und immaterielle Infrastrukturen, aber auch eine bürgernahe und effiziente Verwaltung sind heute wichtige Standortfaktoren. Die Menschen wollen den Staat als Helfer an ihrer Seite und nicht als Last auf ihren Schultern haben. Sie wollen den Staat als starken Partner und nicht als grossen Bruder. Ein starker Partner Staat, der sich vom Irrglauben an die Unerschöpflichkeit seiner Ressourcen verabschiedet hat und die begrenzten öffentlichen Mittel nach dem Grundsatz der sozialen Gerechtigkeit zielgerichtet einsetzt.  

Hohes Haus! Die Zukunftsfähigkeit unserer Landes ist nach dem überwältigenden Ja der Österreicherinnen und Österreicher zum Beitritt zur Europäischen Union untrennbar mit der Zukunftsfähigkeit Europas verbunden. Und Europa ist nur zukunftsfähig, wenn Trennlinien überwunden werden und ganz Europa eine Gemeinschaft der Stabilität, des Friedens und der sozialen Gerechtigkeit wird. Ich bin überzeugt, dass die österreichische Präsidentschaft Europa ein Stück auf diesem Weg weiterbringen wird.

Die Vielfalt unserer Kulturen, der soziale Ausgleich, die gerechte Verteilung des Wohlstands, das Bekenntnis zu Demokratie und Menschenrechten ‑ das ist es, was die europäischen Werte ausmacht, was das europäische Gesellschaftsmodell unverwechselbar macht. Unsere Aufgabe ist es, diese Werte zu schützen und zu verteidigen.

Der Glaube an dieses Österreich hat den Frauen und Männern in der zweiten Hälfte dieses "Kurzen 20. Jahrhunderts" die Kraft gegeben, Österreich aufzubauen.

Der Glaube an ein modernes, leistungsfähiges und soziales Österreich in einem geeinten Europa wird uns die Kraft für das 21. Jahrhundert geben. Die Zukunft liegt in unserer Hand! (Fortsetzung)