Parlamentskorrespondenz Nr. 721 vom 12.11.1998

12. NOVEMBER: GRÜNDUNGSTAG DER REPUBLIK ÖSTERREICH/ 4. Teil

Klestil: Gruppenegoismen dürfen gemeinsam Erreichtes nicht gefährden

Wien (PK) - Im Anschluss an die Auftragskomposition zum 80. Geburtstag der Republik "Sub umbra alarum tuarum" hält Bundespräsident Dr. Thomas KLESTIL seine Festansprache: Hohe Festversammlung!

In den Herbsttagen des Jahres 1918 erschien in einer Wiener Zeitung eine Karikatur, die besser als viele Worte die Problematik der damaligen Zeit festhielt, ja geradezu prophetisch die Tragödie der Ersten Republik vorwegnahm: In der Mitte dieser Zeichnung sieht man das Parlament, von rechts werfen Bauern und Zivilisten Steine auf die Volksvertretung, von links schiessen Arbeiter und ein Soldat mit einem Maschinengewehr auf das Hohe Haus.

Bürgerkrieg, Klassenkampf, Revolution und Reaktion, ungeklärte Grenzen, Flüchtlinge, Kriegsversehrte, ein Winter ohne Heizung, nichts zu essen ‑ das war das Szenario des 12. November 1918. Dazu kamen Nachbarn, die wenig oder keine Sympathie für Österreich hegten, und Siegermächte, die das kleine Land für die Fehler der grossen Monarchie bestrafen wollten.    

Seit jenem 12. November 1918 ‑ an dem die Erste Republik ausgerufen wurde ‑ sind genau 80 Jahren vergangen. Das bedeutet für einen Hochbetagten ein langes Menschenleben ‑ für die Geschichte eines Volkes aber bloss das Schicksal von drei, vier Generationen. In diesen 80 Jahren zwischen 1918 und 1998 gibt es freilich mehr Brüche und Zäsuren als in irgendeiner anderen Periode unserer 1000jährigen Geschichte:

Da war der radikale Bruch des Jahres 1918, durch den nach dem verlorenen Weltkrieg die kleine Alpenrepublik mit sechs Millionen Menschen als Rest der Donaumonarchie mit ihren 52 Millionen Menschen übrig geblieben war.

Da waren die schrecklichen Zäsuren der Jahre 1927 und 1934, als die Erste Republik in unversöhnliche Lager zerfiel, die einander blutig bekämpften, bis am Ende auch die Demokratie unterging.

Da war das Jahr 1938, als Österreich als Staat ausgelöscht wurde, als Hunderttausende in Vernichtungslagern verschwanden, im Krieg oder Bombenhagel starben und Unzählige vertrieben wurden.

Und dann kam die so entscheidende Wende des Jahres 1945, als Österreich aus den Trümmern wieder auferstand. Der Glaube an das neue Österreich aber war kein Mythos ‑ gelang doch damals jener Brückenschlag zwischen den beiden grossen politischen Lagern, der eine solide Basis für den erfolgreichen Wiederaufbau des kriegszerstörten Landes bildete. Und der Marshall-Plan hat dem damals noch besetzten Österreich jene dauerhafte Verankerung im demokratischen Lager des Westens gesichert, die in den folgenden Jahren auch unsere wirtschaftliche Integration in Europa ermöglichte.

Und da war natürlich die so bedeutende Zäsur des Jahres 1955, als Österreich durch den Staatsvertrag seine aussenpolitische Handlungsfreiheit wiedererlangte und zu einem voll souveränen Staat wurde. Spätestens seit dieser Zeit hat sich ein Österreich‑Bewusstsein entwickelt, das so stark war, dass niemand mehr unsere Eigenständigkeit und den Selbstbehauptungswillen unserer Nation ernsthaft in Frage stellte. Auf diesem festen Fundament konnte dann auch jenes klare Europabewusstsein wachsen, das in der Volksabstimmung über unseren EU‑Beitritt so eindrucksvoll zum Ausdruck kam.

Schliesslich gab es noch eine andere Zäsur, die unsere Position in Europa grundlegend veränderte: Ich spreche vom Herbst 1989, als der Kalte Krieg zu Ende ging und an unseren Grenzen der Eiserne Vorhang durchschnitten wurde. Österreich rückte vom Rand der freien Welt wieder in die Mitte des Kontinents und lebt seither in Frieden und Freundschaft mit allen seinen Nachbarn.

So schliesst sich auf eindrucksvolle Weise der Bogen der Geschichte. Ein Katastrophenjahrhundert verblasst und macht einem neuen europäischen Geist Platz: Hatten unsere Väter und Grossväter in blutigen Schlachten zweier verheerender Weltkriege gekämpft, so reichen ihre Kinder und Enkel heute unter der blauen Europafahne den einstigen Gegnern die Hände.

Gestatten Sie mir hier eine sehr persönliche Erinnerung: Es war vor drei Jahren, als ich ‑ anlässlich des 80. Jahrestages des Beginns der mörderischen Schlachten am Isonzo ‑ in Friaul mit dem italienischen Staatspräsidenten Oscar Luigi Scalfaro zusammentraf. Wir warfen damals gemeinsam Blumengebinde in das Wasser dieses Schicksals‑Flusses und gedachten gemeinsam Hunderttausender, die dort ihr Leben lassen mussten.

Die Lehre, die wir heute aus den schmerzhaften Erfahrungen der Geschichte ziehen können, ist klar: Wir dürfen in unseren Bemühungen nie erlahmen, damit ganz Europa künftighin zu einer Zone des Friedens und der Stabilität wird.

Und wir müssen anerkennen, dass auch unsere Nachbarn in Mitteleuropa ein historisches Anrecht darauf haben, am neuen, friedlichen und gemeinsamen Europa teilzunehmen. Es ist unsere historische Verpflichtung, ihnen auf diesem Weg zu helfen.

Darin liegt die grösste Herausforderung der Jahrtausendwende: den Prozess der europäischen Einigung voranzutreiben und schliesslich zu vollenden.

Meine Damen und Herren! Wenn wir heute von der Vergangenheit sprechen, dann dürfen wir auch nicht die Augen vor den Fehlern verschliessen, die wir Österreicher in den acht Jahrzehnten unserer Republik begangen haben. Wir können die Vergangenheit nicht ungeschehen machen, aber wir können aus ihr lernen:

Aus der Zäsur des Jahres 1918, dass ein kleines Volk nicht kleinmütig sein und sich nicht selbst aufgeben darf;

aus der Geschichte der Ersten Republik, dass sich in einer Demokratie die Teile nie für das Ganze halten dürfen;

aus den Jahrzehnten der Zweiten Republik, dass ein Volk durch gemeinsame Anstrengung Not und Elend überwinden und seine Ziele erreichen kann, wenn es nur an sich glaubt und einig ist.

Vor 80 Jahren haben viele Österreicher der vergangenen Grösse nachgetrauert. Sie fühlten sich durch äusseren Zwang zur Kleinheit verurteilt, die ihnen nicht lebensfähig erschien. Heute hingegen erleben wir das Paradoxon, dass sich viele unserer Landsleute angstvoll an diese Kleinheit klammern und im grösseren Europa mehr Risiken als Chancen sehen. Dabei wird oft der entscheidende Unterschied übersehen, dass wir in der europäischen Solidargemeinschaft demokratisch mitentscheiden und mitgestalten können.

Meine Damen und Herren! Die Geschichte eines Volkes lässt sich nicht durch Jahreszahlen eingrenzen. Der Beginn eines neuen Jahrhunderts ‑ oder gar eines Jahrtausends ‑ hat immer etwas Schicksalhaftes und Unheilvolles an sich, als würde sich ganz plötzlich ein Abgrund vor uns auftun. Doch diesmal ist das Gegenteil der Fall: Wir Österreicher haben heute festeren Boden unter unseren Füssen als je zuvor, und unser Land hat heute die besten Zukunftschancen seit der Gründung unserer Republik vor 80 Jahren.

Um diese Chancen zu nützen, brauchen wir freilich Selbstvertrauen in unsere Fähigkeiten und Mut zu Entscheidungen. Wir brauchen Zuversicht und den Willen zur Veränderung. Vor allem aber brauchen wir Gestaltungskraft:

Es gilt, gemeinsame Ziele über den politischen Alltag hinaus vorzugeben, Visionen zu entwickeln und die Dimension der Zukunft stets im Auge zu behalten.

Es gilt, das Gespräch und den politischen Dialog nie abreissen zu lassen. In der Demokratie kommt es sowohl darauf an, Mehrheiten zu gewinnen, wie auch Minderheiten eine Chance zur Mitarbeit zu geben.

Und wir müssen die Verantwortung für das Ganze stärken, damit nicht Einzelinteressen und Gruppenegoismus das solidarisch Erreichte gefährden können.

Ich möchte deshalb an diesem Festtag der Republik alle politisch Verantwortlichen in diesem Land aufrufen, über die mühselige Alltagsroutine nicht die grosse historische Dimension unserer Zukunft aus den Augen zu verlieren. Ziehen wir aus dem in 80 Jahren Erlebten und Erlittenen die richtigen Lehren und stellen wir gemeinsam die Weichen in das 21. Jahrhundert! - Es lebe unser Vaterland, die Republik Österreich!

Mit Intonierung der Österreichischen Bundeshymne wird der Festakt beendet. (Schluss)