Parlamentskorrespondenz Nr. 216 vom 04.05.1999

DAS PARLAMENT GEDENKT DER OPFER DES NATIONALSOZIALISMUS

Gegen das Vergessen: "Weisse Rose", "Visionen aus dem Inferno"

Wien (PK) - Im Jahr 1997 haben Nationalrat und Bundesrat in übereinstimmenden und einstimmigen Entschliessungen den 5. Mai, den Tag der Befreiung des Konzentrationslagers Mauthausen, zum Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus und zum Gedenktag gegen Rassismus und Gewalt erklärt. Ausserdem haben die Parlamentarier beschlossen, diesen Gedenktag alljährlich in besonderer Weise zu begehen. Im Vorjahr bildete eine Aufführung der Oper "Das Tagebuch der Anne Frank" von Grigori Frid im Reichsratssitzungssaal den künstlerischen Rahmen einer gemeinsamen Sitzung der beiden Häuser des Parlaments.

Auch heute gedachten die Abgeordneten und Bundesräte in Anwesenheit von Bundespräsident Dr. Klestil, von Bundeskanzler Mag. Klima und Vizekanzler Dr. Schüssel sowie Mitgliedern der Bundesregierung, Angehöriger des Diplomatischen Korps, Repräsentanten der Religionsgemeinschaften mit Kardinal König an der Spitze, Vertreter von Justiz, Wissenschaft und Kunst der Opfer des NS-Regimes. Mit besonderer Freude begrüsste Nationalratspräsident Dr. Heinz FISCHER Überlebende nationalsozialistischer Verfolgung und Angehörige hingerichteter Mitglieder der Widerstandsgruppe "Weisse Rose", die im Mittelpunkt des heutigen Gedenkens stand. Wie schon im Vorjahr bildete eine zeitgenössische Oper den künstlerischen Höhepunkt des Programms. Der aus Dresden stammende Komponist Udo Zimmermann dirigierte in dem zum Musiktheater umfunktionierten Reichsratssitzungssaal seine Kammeroper "Weisse Rose" in einer Produktion der Wiener Staatsoper mit Ildiko Raimondi und Hans Peter Kammerer in den Rollen von Sophie und Hans Scholl. Es spielte das Bühnenorchester der Österreichischen Bundestheater.

Überdies wird in der Säulenhalle eine Ausstellung des Malers Adolf Frankl (1903-1983) gezeigt. Der Künstler, ein Überlebender des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau, zeigt in seinen Werken, wohin Hass, Rassismus und Intoleranz führen, wobei sein erklärtes Ziel lautet, zu sozialem Frieden und zu Versöhnung beizutragen.

EINE BOTSCHAFT GEGEN DIKTATUR UND HASS

Nationalratspräsident Dr. Heinz FISCHER würdigte in seinen Begrüssungsworten die Widerstandsgruppe "Weisse Rose" und schilderte insbesondere das Schicksal der Geschwister Sophie und Hans Scholl, die 1943 im Alter von 22 bzw. 25 Jahren hingerichtet wurden, nachdem sie an der Universität München versucht hatten, Flugblätter zu deponieren, in denen sie zum passiven Widerstand gegen das NS-Regime aufriefen. Ihre Hoffnung, das Gewissen einer Nation aufzurütteln oder wenigstens ansprechen zu können, erfüllte sich ebenso wenig, wie die von Sophie Scholl in den letzten Stunden ihres Lebens geäußerte Hoffnung, daß ihre Hinrichtung wenigstens bei den Münchner Studenten ein gewisses Echo auslösen werde.

"Die Diktatur ging weiter. Der Krieg ging weiter. Das Morden ging weiter", sagte Präsident Fischer. "Und doch: Durch den Widerstand der Weissen Rose wurde ein moralisches Zeichen gesetzt, das bis heute Licht, Wärme und Hoffnung ausstrahlt, das nichts an Bedeutung verloren hat. Die Botschaft der 'Weissen Rose' ist eine Botschaft gegen die Diktatur und gegen den Hass, eine Botschaft gegen die Gleichschaltung und die Uniformierung der Meinungen, gegen die Ausschaltung kritischer Gedanken, die das Ziel jeder Diktatur ist und manchmal der Diktatur vorausgeht."

56 Jahre später, unter geänderten Bedingungen, las Nationalratspräsident Fischer auch noch andere Botschaften aus den Gedanken der Mitglieder der Weissen Rose heraus und fragte:"Darf sich unser Bekenntnis gegen Gewalt, Diktatur, Rassismus und Krieg nur auf die Vergangenheit beziehen? Muß es nicht auch in der Gegenwart gelebt werden und für die Zukunft als Verpflichtung gelten?" - Fischer bejahte diese Frage und stellte fest: "Diktaturen haben keinen legitimen Platz in Europa am Beginn des 21. Jahrhunderts. Gewalt und Rassismus müssen geächtet werden. Der nationale Rechtsstaat muß zum europäischen Rechtsstaat, zum internationalen Rechtsstaat weiterentwickelt werden, die Vereinten Nationen sollten zu diesem Zweck gestärkt werden."

MILOSEVIC WIRD POLITISCH SCHEITERN

In diesem Zusammenhang stellte Fischer auch die sorgenvolle Frage, wie weit der Krieg zum Instrument der Durchsetzung von Humanität gemacht werden kann. Nicht, daß man die Ziele nicht teile, die erreicht werden sollen, die Sorge beruhe vielmehr auf der Befürchtung, daß die Mittel, die in einem solchen Fall angewendet werden müssen, sich einer politischen und humanitären Bewertung und Berechnung umso mehr entziehen, je länger die militärische Auseinandersetzung andauert.

"Ich bin überzeugt, daß wir alle aus der Geschichte lernen wollen; aber die Frage, wo eine Analogie vorliegt und wo ein Unterschied beachtet werden muß, ist nicht immer ganz leicht zu beantworten. Daher ist das Lernen aus der Geschichte kein passiver Prozeß, kein Kopieren und Wiederholen früherer Situationen und Entscheidungen, sondern erfordert aktive Auseinandersetzung mit der Geschichte, mit der Gegenwart und mit dem eigenen Gewissen, erfordert ein eigenes kritisches Urteil sowie die Fähigkeit zu demokratischer Willensbildung.

In diesem Sinn bin ich froh, in einem Land zu leben, in dem die schwierigen Fragen, die ich gerade angeschnitten habe, offen und frei diskutiert werden können. Ich bin aber stolz, in einem Land zu leben, in dem es eine gute Tradition und breite Übereinstimmung in Bezug auf humanitäre Hilfe für die Opfer der Tragödie am Balkan sowie natürlich auch dahingehend gibt, daß nach dem Ende der Vertreibungen, nach dem Ende der Bombardierungen und nach der Rückkehr der Vertriebenen große gemeinsame Anstrengungen notwendig sein werden, um auch am Balkan Friede, Demokratie und Menschenrechte wachsen zu lassen."

Schliesslich äusserte Präsident Fischer einen einfachen, aber tröstlichen Gedanken: "Hitler ist gescheitert. Stalin ist gescheitert. Mussolini ist gescheitert. Ceausescu ist gescheitert. Honecker ist gescheitert. Milosevic wird politisch scheitern. - Die Demokratie wird alle überleben."

Zuletzt kehrte Präsident Fischer zum Leitmotiv des Tages zurück und registrierte bei den Österreichern eine wachsende Bereitschaft und Sensibilität für die Befassung mit unserer Geschichte und mit den Irrtümern unserer Geschichte sowie wachsende Bereitschaft, sich mit den Wurzeln des Nationalsozialismus und seinen Begleiterscheinungen, wie zum Beispiel einer rücksichtslosen Brutalität der Sprache, auseinanderzusetzen.

Möge sich Europa im 21. Jahrhundert ohne Haß, ohne Krieg und ohne Feindschaft zwischen den Völkern und Nationen entwickeln, schloss Nationalratspräsident Fischer.

FREMDENFEINDLICHKEIT HAT IN EINEM VEREINTEN EUROPA KEINEN PLATZ

Der Präsident des Bundesrates JAUD führte in seiner Ansprache u.a. aus: Als es nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges und dem erst dadurch herbeigeführten Ende der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft galt, nicht nur die demokratische politische Ordnung, sondern auch das Menschenbild neu zu konstituieren, waren es Menschen wie die beiden Opfer in dem Stück "Die Weisse Rose", an deren Wirken, an deren Handeln und an deren Denken angeknüpft werden konnte. Menschen wie die Geschwister Hans und Sophie Scholl konnten - leider allzu oft nur posthum - als Zeugen dafür aufgerufen werden, dass es auch dem Hitler-Regime nicht gelungen war, in den Menschen den Wunsch nach einem Leben in Wahrheit, in Freiheit und in Würde zu ersticken, und dass selbst unter der Drohung der physischen Vernichtung Menschen den Mut gehabt hatten, sich zu diesem Wunsch zu bekennen.

Freilich muss dieses Beispiel auch daran gemahnen, dass die nationalsozialistische Gewaltherrschaft wie jede Diktatur nur deshalb Bestand haben konnte, weil es zu viele Menschen gab, die - aus unterschiedlichen Motiven - bereit waren, sich mit dem Leben in Lüge abzufinden.

Der Widerstand in Österreich, der eine spezifische Triebkraft im erwachenden österreichischen Nationalbewusstsein hatte, hat es zwar ebensowenig wie der deutsche Widerstand vermocht, die nationalsozialistische Gewaltherrschaft schon vor Kriegsende zu beseitigen - allein in Tirol hat die Widerstandsbewegung vor dem Eintreffen der alliierten Truppen die Regierungsgewalt übernommen -, aber in Österreich konnte nicht nur der Wieder- und Neuaufbau des demokratischen politischen Systems, sondern darüber hinaus auch der Wiederaufbau des Staates und die 1945, anders als 1918, bewusst gewollte Begründung der selbständigen staatlichen Existenz am Widerstand gegen den Nationalsozialismus und an den Opfern, welche so viele Männer und Frauen in den Konzentrationslagern und Gefängnissen des Hitler-Regimes für Österreich gebracht hatten, anknüpfen.

54 Jahre nach dem Ende der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft mag uns das Leben in der Grundrechtsdemokratie zur Selbstverständlichkeit geworden sein; umso wichtiger ist es, im Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus daran zu erinnern, dass es sich dabei eben nicht um eine Selbstverständlichkeit handelt, sondern um eine politische Lebensform, die bewusst gelebt werden muss, um sie immer wieder aufs neue zu erringen. Es ist die Verpflichtung aller Österreicherinnen und Österreicher, aber eine Verpflichtung besonders für uns, die wir politische Verantwortung übernommen haben, bereits im Anfang allen, zunächst zumeist schleichenden Bedrohungen des Lebens in Freiheit und Menschenwürde zeitgerecht zu begegnen.

Diese Aufforderung zur politischen Bewusstseinsbildung richtete Jaud besonders an die junge, heranwachsende Generation, die dazu ermutigt werden muss, eine aktive, mitgestaltende Rolle in unserer politischen Gemeinschaft zu übernehmen; die vor einer Haltung der politischen Gleichgültigkeit gewarnt werden muss, wie sie nur allzu oft den Nährboden für Gefährdungen des allen Menschen zukommenden Rechts auf ein Leben in Freiheit und Menschenwürde dargestellt hat.

"Wir müssen uns erinnern, sonst wird sich alles wiederholen." - Das mahnende Wort von Marguerite Duras gewinnt für den Bundesratspräsidenten erschreckende Aktualität, da man auch in unserer Gesellschaft Anzeichen von Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus und von Tendenzen der Ausgrenzung beobachten kann, wie sie sich auch der Nationalsozialismus nutzbar gemacht hat. Solchen Tendenzen mit aller Entschiedenheit entgegenzutreten, gebietet uns die Erinnerung, auch und gerade dann, fährt er fort, wenn diese Haltung umstritten ist. Fremdenfeindlichkeit darf in einem vereinigten Europa keinen Platz haben, "sonst wird sich alles wiederholen".

Der Präsident der Länderkammer betonte weiters, dass Völkermord und systematische Vertreibung in Europa auch am Ende dieses Jahrhunderts möglich sind, dass nur wenige hundert Kilometer von unseren Grenzen entfernt die Menschenwürde mit Füssen getreten wird, dass Menschen ihrer ethnischen Zugehörigkeit und ihres Wunsches nach einem Leben in Autonomie wegen verfolgt, vertrieben und ermordet werden; dass Gewalt zu einem Mittel der Politik gemacht wird. Die Erinnerung an den Mut und die Opferbereitschaft von Menschen, wie es die Geschwister Scholl waren, muss Leitlinie dafür sein, einen Beitrag zur Verwirklichung jenes grundrechtlichen Prinzips zu leisten, das in der Formulierung des Artikels 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte seit kurzem auch am Zentralportikus unseres Parlamentsgebäudes eingemeisselt ist: "Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen."

DIE WEISSE ROSE

Im Mittelpunkt der Kammeroper von Udo Zimmermann stehen die Geschwister Hans und Sophie Scholl, die Exponenten einer christlichen Widerstandsgruppe, die von Frühsommer 1942 bis Februar 1943 mit Flugblättern in Süddeutschland und Österreich zum Widerstand gegen das NS-Regime aufriefen. Am 18. Februar 1943 wurden die beiden jungen Widerstandskämpfer bei einer Zettelaktion in der Münchner Universität verhaftet und nach einem Schnellverfahren vor einem Volksgerichtshof unter Vorsitz des berüchtigten Präsidenten Freisler hingerichtet.

Zimmermanns Kammeroper reflektiert in 16 Szenen für zwei Sänger und fünfzehn Instrumentalisten Gedanken und Gefühle des Geschwisterpaares in den letzten Stunden vor ihrem Tod. Der von Wolfgang Willaschek gemeinsam mit dem Komponisten erstellte Text basiert auf Briefen und Aufzeichnungen von Hans und Sophie Scholl sowie auf Gedichten von Tadeusz Rozewicz, Dietrich Bonhoeffer und Franz Fühmann.

Regisseur Michael Sturminger sowie Renate Martin und Andreas Donhauser, die die Ausstattung besorgten, wussten die architektonischen und optischen Möglichkeiten des historischen Reichsratssitzungssaales wirkungsvoll zu nutzen. Unvergesslich bleibt die Schlussszene in dem bis dahin völlig abgedunkelten Plenarsaal. Langsam wird die schwarze Abdeckung vom Glasdach gezogen und so ein fahles, allmählich sich ausbreitendes Dämmerlicht erzeugt, das anzeigt, dass die Stunde der Urteilsvollstreckung gekommen ist. Dennoch, Sophie und Hans beten um dieses erste Tageslicht, das zugleich ihr letztes sein wird: "Gib Licht meinen Augen, oder ich entschlafe des Todes". Dieses Licht weckt noch einmal ihre Hoffnung und gibt ihnen die Kraft, "aus der Ohnmacht aufzuwachen". Es ist die Zeit gekommen "zu bekennen" ... "die Stimme zu erheben" ... "keine Ruh' mehr zu geben". Denn, und das klingt wie das Programm der "Weissen Rose": "Ein Wort wird alle Schranken niederreissen!" - Zu spät für das mutige Geschwisterpaar, für das im Libretto nur noch zwei Fragen bleiben: "Habe ich als Soldat ein Recht auf den Erschiessungstod" und: "Sterbe ich durch den Strick oder durch das Fallbeil?" - Hans und Sophie Scholl wurden am 22. Februar 1943 mit der Guillotine hingerichtet. Am 19. April 1943 folgten ihnen die anderen Mitglieder der Gruppe, Professor Huber, Willi Graf und Alexander Schmorell auf demselben Weg in den Tod. Acht Mitglieder des Hamburger Kreises der "Weissen Rose" starben im Spätherbst 1943: Hans Konrad Leipelt, Greta Rothe, Reinhold Meyer, Frederick Geußenhainer sowie die Angehörigen Käthe Leipelt, Elisabeth Lange, Curt Ledien und Margarethe Mrosek.

VISIONEN AUS DEM INFERNO - KUNST GEGEN DAS VERGESSEN

Ebenfalls dem Gedenken an alle Opfer von Gewalt und Verfolgung durch den Nationalsozialismus dient eine Ausstellung des Malers Adolf Frankl in der Säulenhalle. Adolf Frankl (1903-1983) widmete sich als einer der wenigen Überlebenden des Konzentrationslagers Auschwitz-

Birkenau der bildnerischen Darstellung seiner schrecklichen Erlebnisse und schuf damit Zeitzeugnisse für die Nachwelt. Frankls Werk wendet sich vor allem an die Jugend, die die Ereignisse der NS-

Zeit nicht unmittelbar erlebt hat. Er zeigt mit Pinsel und Bleistift, wohin Hass, Rassismus und Intoleranz führen und trägt damit zum sozialen Frieden und zur Versöhnung bei. 70.000 Menschen haben Frankls Ausstellung "Visionen aus dem Inferno - Kunst gegen das Vergessen" in Wien, Berlin, München und Nürnberg besucht, weitere Präsentationen sind im Vatikan, in Braunau, Bratislava, Genf und Prag geplant.

Für Schüler und Schülerinnen aus ganz Österreich wird die Oper "Weisse Rose" am morgigen Mittwoch, dem 5. Mai, im Reichsratssitzungssaal neuerlich aufgeführt werden. (Schluss)