Parlamentskorrespondenz Nr. 118 vom 14.03.2000

BUNDESKANZLER SCHÜSSEL: SANKTIONEN SCHADEN ÖSTERREICH UND DER EU

EU-Gipfel: Vision für dynamischste Wirtschaftsregion der Welt

Wien (PK) - Zentrales Thema der heutigen Sitzung des Hauptausschusses war die Vorbereitung des EU-Gipfels in Lissabon am 23. und 24. März. Bundeskanzler Dr. Wolfgang SCHÜSSEL bezeichnete die Weichenstellungen für wirtschaftliche und soziale Reformen der Union als das Hauptthema des Gipfels. Es sei das ambitionierte Ziel der portugiesischen Ratspräsidentschaft, die Union innerhalb von zehn Jahren zu einem der dynamischsten und am stärksten wachsenden Wirtschaftsräume der Welt zu machen. Schüssel nannte als konkrete Schwerpunkte Arbeitsplätze und Innovation, vor allem in Richtung Informationsgesellschaft, die Erhöhung der Wettbewerbsfähigkeit, die Erhaltung des europäischen Sozialmodells und die Förderung der kleinen und mittleren Unternehmen.

Dazu sei kein neuer Prozess erforderlich, sagte der Bundeskanzler. Es soll auf Basis bestehender Programme, wie Luxemburg und Cardiff, vorgegangen werden. Mit Mexiko, Lome, Mercosur und Südafrika stehen auch eine Reihe außenpolitischer Themen auf dem Programm. Die Regierungskonferenz und die Weiterentwicklung der Sicherheits- und Verteidigungsunion sind in Lissabon nicht im Vordergrund. Über die Maßnahmen der 14 und die österreichische Position werde am ersten Abend zu sprechen sein. Hiezu bekräftigte der Bundeskanzler seine Auffassung, die Maßnahmen seien nicht gerechtfertigt, weil Österreich europäisches Recht nicht verletzt habe und Maßnahmen auf politischen Verdacht hin in der Literatur nicht vorgesehen seien. Es wäre gut für das Land, vor dem Gipfel in Lissabon eine gemeinsame Entschliessung zu verabschieden, sagte der Regierungschef. Über den Text dieser vom Nationalrat zu verabschiedenden Entschließung fand daraufhin eine lebhafte Debatte statt, in der die SP-Abgeordneten EDLINGER und Dr. CAP meinten, die Kernfrage der Sanktionen sei eine politisch-moralische, nämlich die Beteiligung einer rechtspopulistischen Partei an der Regierung eines Mitgliedslandes der Wertegemeinschaft EU. Die VP-Sprecher Dr. KHOL, Dr. SPINDELEGGER und Dr. FASSLABAND sowie Mag. HAUPT (FP) bezweifelten hingegen die Rechtmäßigkeit von Maßnahmen gegen ein EU-Mitgliedsland, ohne das betroffene Land zu konsultieren und ohne die Parlamente mit den Vorwürfen zu befassen. Die Koalitionsparteien verlangten einen "Schulterschluss" aller Parlamentsfraktionen in der "Causa Prima" und warfen der SPÖ vor, ihre Initiative mit einem eigenen Antrag zu "unterlaufen". 

In seinen Detailausführungen über das Arbeitsprogramm des EU-Gipfels führte Bundeskanzler Dr. SCHÜSSEL weiter aus, dass beabsichtigt sei, einen Aktionsplan für die Entwicklung der Informationsgesellschaft zu erstellen. Diskutiert werde auch über einen europäischen Forschungsraum, die raschere Liberalisierung bei Strom und Gas und die Liberalisierung der Finanz- und Kapitalmärkte. Darüber hinaus stehen auch eine europäische Bankenaufsicht und ein europäisches Patent zu Debatte.

Positiv besprach der Bundeskanzler auch die beabsichtigte Diskussion über Best-Practise-Modelle bei den öffentlichen Haushalten.

Dazu kommt die Frage der Modernisierung des Ausbildungssystems und das Gebot des lebenslangen Lernens und erstmals wird in Lissabon auch die Finanzierbarkeit des Sozial-, Gesundheits- und Pensionssystems angedacht, teilte Dr. Schüssel mit.

Andiskutieren werden die Mitglieder des Gipfels auch sehr klare Ziele der Informationsgesellschaft. Es geht um Initiativen zur Telekom-Liberalisierung ab 2002, den Anschluss aller Schulen und öffentlichen Dienstleister ans Internet und um den Aufbau eines Internet II nach Vorbild der USA. Für interessant hält der Bundeskanzler die Absicht einer Harmonisierung der technischen Strukturen und die Entwicklung einer elektronischen Signatur sowie die Möglichkeit einer europäischen Standardisierung des Road-Pricing. Hinsichtlich der Vorgangsweise wird ins Auge gefasst, alljährlich im Frühjahr einen eigenen EU-Gipfel zu Wirtschafts-, Beschäftigungs- und Sozialthemen abzuhalten, sagte der Bundeskanzler.

Abgeordneter SCHIEDER (SP) bezeichnete die Ausführungen des Bundeskanzlers als interessant, bemängelte aber in Übereinstimmung mit den Grün-Abgeordneten Dr. LICHTENBERGER und Mag. LUNACEK, dass der Bundeskanzler darauf verzichtet hat, dem Hauptausschuss ein Papier zur österreichischen Position für den Gipfel vorzulegen.

Unterstützt von den Abgeordneten Dr. KHOL (VP) und Mag. SCHWEITZER (FP) reagierte Dr. SCHÜSSEL mit den Hinweis darauf, er habe sich exakt an die bisher übliche Vorgangsweise bei der Information des Hauptausschusses gehalten.

Abgeordneter Dr. KHOL (VP) erinnerte an den Entschliessungsantrag, den die ÖVP am Beginn der heutigen Sondersitzung des Nationalrates eingebracht hat. Darin spricht sie sich gegen die Maßnahmen der 14 aus, weist auf die Präambel des Regierungsübereinkommens hin, verlangt von der EU-Kommission, darauf zu achten, dass Österreich nicht diskriminiert wird und verlangt ein rechtsstaatliches Verfahren. Außerdem seien geeignete gerichtliche Schritte zu setzen, wenn österreichische Rechte verletzt wurden. Für die ÖVP steht ein Schulterschluss aller Fraktionen gegen die diskriminierenden und rechtswidrigen Maßnahmen der 14 zur Debatte.

Abgeordneter EDLINGER (SP) stellte klar, es habe keine Verhandlungen über den VP-Antrag gegeben, sah aber Handlungsbedarf, um gegen den Sanktionswettlauf in der EU aufzutreten. Anders als die ÖVP glaube er aber nicht, dass es sich bei den Sanktionen um eine juristische Frage handle, die Situation sei aus politischen Ursachen heraus entstanden. Die EU sei nicht nur eine Wirtschaftsgemeinschaft, sondern eine Wertegemeinschaft. Mit dem Versuch einer Reinwaschung von Personen werde die ÖVP den von ihr gewünschten Schulterschluss nicht erreichen. Ihm sei es bei seinem jüngsten Besuch in Brüssel gelungen, dass "klein karierte Sanktionen" gegen Schüler und Studenten eingestellt werden, berichtete Edlinger.

Hinsichtlich des EU-Gipfels drängte Edlinger darauf, die Komplexe Wachstumspolitik und soziale Absicherung im Konnex zu sehen, erkundigte sich nach der österreichischen Haltung zur Quantifizierung wirtschafts- und sozialpolitischer Ziele und unterstrich die Notwendigkeit der Koordination in den Bereichen Lohnpolitik und Steuerpolitik. Überdies verlangte er die soziale Staffelung von Transferleistungen. Schliesslich erkundigte sich Edlinger danach, ob die Bundesregierung mittelfristig die Budgetmittel für den Internetanschluss aller Schulen bereitgestellt hat.

Bundeskanzler Dr. SCHÜSSEL meinte, die Forderung nach einer Steigerung der Bildungsausgaben um bis zu 50 %  betreffe nicht Österreich, das schon jetzt sehr viel Geld in diesem Bereich aufwendet. Von der Formulierung quantitativer Ziele gehe die portugiesische Präsidentschaft mittlerweile ab.

Einmal mehr hielt der Bundeskanzler fest, dass die Maßnahmen der 14 rechtlich problematisch und politisch fragwürdig seien. Auch die ersten drei Maßnahmen seien unzumutbar. Es gehe nicht an, Österreicher bei der Besetzung von EU-Positionen zu  diskriminieren, sie nicht zu befördern oder österreichische Unternehmer nicht zu Messen einzuladen. Überdies seien in der heutigen Europäischen Union bilaterale Fragen nicht von europäischen Fragen zu trennen. In diesem Zusammenhang wies der Bundeskanzler darauf hin, dass bilaterale Konsultationen bereits stattgefunden haben, nachdem er dies verlangt habe. Eine Rechtsgemeinschaft wie die EU könne nicht auf Verdacht schwerwiegende Maßnahmen setzen, ohne dem Betroffenen das Recht auf Anhörung zu geben. "Es muss doch möglich sein, eine Formulierung zu finden, um die Maßnahmen der 14 gemeinsam zu verurteilen", sagte der Bundeskanzler. Dies wäre Rückenwind für ihn, um gegen die Maßnahmen in Lissabon anzukämpfen. "Ich möchte diese Sanktionen möglichst rasch wegbekommen, weil sie der EU und Österreich schwer schaden".

Abgeordneter Mag. SCHWEITZER (FP) wandte sich dann dem Hauptthema des Lissabonner Gipfels zu und gab seiner Überzeugung Ausdruck, dass die EU nur sehr wenig zu einer höheren Beschäftigung in Europa beitragen könne. Erklärungen der EU helfen den Arbeitslosen nicht, "Arbeitsmarktpolitik muss auf nationaler Ebene gemacht werden". Daher hat die Bundesregierung entsprechende Maßnahmen im Koalitionsabkommen vereinbart. Wichtige Ziele der EU sollten eine Harmonisierung der Steuersysteme im Sinne einer Ökologisierung sein. An die SPÖ appellierte Schweitzer, dem Antrag der Regierungsparteien gegen die Maßnahmen der 14 beizutreten, denn der Text, den sie selbst als Antrag einbringen werde, sei nicht geeignet, die Position Österreichs in der EU zu stärken.

Abgeordnete Dr. LICHTENBERGER (G) zeigte sich interessiert daran, wie sich Österreich in Lissabon zur Frage nach der Quantifizierung des Begriffs Vollbeschäftigung positionieren werde und wie sie die Risken der technischen Entwicklung für die Beschäftigung einschätze. Weiters erkundigte sie sich nach Möglichkeiten zur Besteuerung von Spekulationsgewinnen und zur Ökologisierung des Steuersystems. Kritik übte sie an fehlenden Konzepten zur Erreichung der Kyoto-Ziele und für nachhaltiges Wirtschaften.

Abgeordneter Dr. CAP (SP) führte die Frage einer gemeinsamen Strategie gegen die Sanktionen von EU-Mitgliedsstaaten auf die politische Kernfrage zurück, wie die EU als Wertegemeinschaft auf eine Regierungsbildung mit der FPÖ reagiere. Das ist keine juristische, sondern eine Wertediskussion. Der politisch-moralische Kern der Diskussion ist die Beteiligung einer rechtspopulistischen Partei an der Regierung eines EU-Mitgliedsstaates, sagte Dr. Cap und sprach sein Bedauern darüber aus, dass die wichtige Diskussion über die Informationsgesellschaft und eine Digitalisierungsstrategie Europas von dieser "Causa prima" überlagert werde.

Abgeordneter Dr. FASSLABEND (VP) unterstützte den Standpunkt der Regierung, statt der Quantifizierung von Zielen in der Wirtschafts- und Sozialpolitik konkretere Definitionen anzustreben. Abgeordneten Cap forderte Fasslabend auf, darüber nachzudenken, ob es einer Wertegemeinschaft zusteht, gegen eines ihrer Mitglieder vorzugehen, ohne den Betroffenen mit den Vorwürfen zu befassen. Er bedauere den Versuch der Sozialdemokraten, den Entschliessungsantrag der Regierungsparteien durch einen eigenen zu unterlaufen. Fasslabend hielt es für unverständlich, dass der SP-Antrag keinen Protest gegen die ungerechtfertigten Maßnahmen zum Ausdruck bringt.

Abgeordneter Mag. HAUPT (FP) betonte das souveräne Recht eines jeden Staates auf Regierungsbildung. Der Antrag der SPÖ lege darauf offenbar keinen Wert und enthalte auch kein Wort zur Diskriminierung von Österreichern durch die Sanktionen der 14.

In seinen weiteren Ausführungen unterstrich Haupt den Kampf gegen die Arbeitslosigkeit und für die soziale Absicherung älterer Menschen und trat dafür ein, das Subsidiaritätsprinzip in der Beschäftigungspolitik zu verstärken.

Abgeordnete REITSAMER (SP) erkundigte sich nach Maßnahmen gegen die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich in Europa und drängte darauf, Defizite im Arbeitnehmerschutz bei der Tele-Arbeit zu beseitigen.

Abgeordneter Dr. SPINDELEGGER (VP) kritisierte den SP-Antrag, der ein Monitoring gegen die österreichische Bundesregierung als Instrument gegen die Maßnahmen vorschlägt. Spindelegger sprach von einer skurrilen Idee und appellierte an die Opposition insgesamt, gegen Maßnahmen aufzutreten, die sich gegen das Land und gegen die Bevölkerung richten.

Abgeordnete Mag. LUNACEK (G) warf ÖVP und FPÖ vor, den Ursache-Wirkungs-Zusammenhang bei den europäischen Sanktionen nicht zu erkennen. Die EU-Sanktionen seien berechtigt, weil sie ein politisches Anliegen ausdrücken. Europa will eine Partei nicht an der Regierung sehen, die rassistische Ansichten vertreten und die NS-Zeit verharmlost hat. Wichtige Anliegen auf dem Lissabonner EU-Gipfel sind für Lunacek eine verbindliche Koordinierung der nationalen Beschäftigungspolitik und mehr Chancengleichheit auf dem Arbeitsmarkt.

Abgeordneter Dr. ANTONI (SP) unterstützte die ehrgeizigen Ziele der portugiesischen Präsidentschaft im Bereich von Bildung und Tele-Learning. Er verlangte konkret, alle Schulen ans Internet anzuschließen und die Lehrer entsprechend zu schulen.

Auf die gestellten Detailfragen eingehend führte Bundeskanzler Dr. SCHÜSSEL aus: Eine Harmonisierung der Steuergesetze sei derzeit aussichtslos, auch die Kyoto-Ziele seien kein Hauptthema auf dem Lissabonner Gipfel; Österreich werde aber darauf achten, dass die Ökologie nicht zu kurz komme. Weiters werde Österreich auf eine Richtlinie für den elektronischen Geschäftsverkehr im Binnenmarkt sowie für den Fernabsatz von Finanzdienstleistungen und auf Veranlagungsvorschriften für Pensionsfonds drängen. Die angesprochene Computermilliarde sei für die laufende Gesetzgebungsperiode vorgesehen. Einen europäischen Lösungsansatz beim Road-Pricing forciere Österreich nicht, um beim Road-Pricing zuwarten zu können, wie Abgeordnete Dr. LICHTENBERGER (G) vermutete, sondern weil es um eine gemeinsame, breite Lösung und um ein exportfähiges neues Produkt gehe.

Schutzmechanismen der traditionellen Arbeitswelt können, so der Bundeskanzler, nicht 1:1 auf die Telearbeit übertragen werden, weil sie sich hemmend auf die Entwicklung dieses Sektors auswirken. Dieses Thema werde von den Sozialpartnern und von der Sozialpolitik breit diskutiert werden.

Zu den Maßnahmen der 14 sagte der Bundeskanzler schließlich, sie seien nicht gerechtfertigt, weil Österreich europäisches Recht nicht verletzt habe und in der gesamten Rechtsliteratur keinerlei Maßnahmen auf bloßen politischen Verdacht hin vorgesehen seien. Es wäre gut für das Land, vor dem Gipfel in Lissabon eine gemeinsame Entschliessung einzubringen.

Abschließend gab Außenministerin Dr. FERRERO-WALDNER Auskunft über das Vollbeschäftigungsziel der EU, das durch Best-practise-Modelle erreicht werden soll, wobei Österreich nicht für quantitative Ziele eintrete. Ein wichtiger Punkt sei die Förderung kleiner und mittlerer Unternehmern, um mehr Unternehmergeist zu  schaffen. Österreich habe gerade im Bereich der neuen Technologien großes Potential bei den KMU und enorme Beschäftigungschancen, unterstrich die Außenministerin. Für "e-Europe", die politische Initiative zur Nutzung der Informationstechnologie, sah die Außenministerin gute Grundlagen und erwartete die Fertigstellung eines konkreten Aktionsplans bis Juni dieses Jahres.

EU-PERSONALENTSCHEIDUNGEN

Außerdem nahmen die Mitglieder des Hauptausschusses folgende EU-Personalentscheidung der Bundesregierung zur Kenntnis: Nach dem Ausscheiden von Präsident Franz ROMEDER und Bürgermeister Dr. Josef DECHANT aus dem Ausschuss der Regionen wurden Bürgermeister Günther PUMBERGER (Eberschwang) und Anton KOCZUR (Groß Siegharts) als neue Außchussmitglieder nominiert. Dies entspricht einer Vereinbarung des Österreichischen Städtebundes und des Österreichischen Gemeindebundes.

Sodann unterbrach Nationalratspräsident Dr. Heinz FISCHER die Verhandlungen und kündigte ihre Weiterführung nach Schluss der Sondersitzung an (Fortsetzung).