Parlamentskorrespondenz Nr. 237 vom 04.05.2000

BARTOSZEWSKIS REZEPT GEGEN DEN HASS: GÜTE, VERTRAUEN, MENSCHENLIEBE

Teil 2 der Rede des ehemaligen polnischen Außenministers

Wien (PK) - Professor Dr. Bartoszewski fährt fort:

Der Bundespräsident Österreichs von 1951 bis 1957, General Dr. Theodor Körner, hat kurz nach der Befreiung erklärt:

"Die menschliche Natur besitzt die wunderbare Eigenschaft, die angenehmen Erlebnisse in dauernder Erinnerung zu behalten, die unangenehmen dagegen mit der Zeit abzustreifen. Sie verblassen im Laufe der Jahre, man unterdrückt schließlich selbst die Erinnerung daran, ist froh, darüber nicht mehr sprechen zu müssen, bis sie schließlich im Bewußtsein ganz zurücktreten und nach und nach erlöschen. Diese für das Gemütsleben und das Nervensystem des Menschen erfreuliche Eigenschaft ist zugleich eine politische und kulturelle Gefahr, denn was der Faschismus der Menschheit angetan hat, darf nicht in Vergessenheit geraten."

Auch lange verheimlichte oder bewußt verdrängte Wahrheit kehrt unweigerlich zurück und zwingt zum Nachdenken. Schon in den sechziger Jahren hat Friedrich Heer, einer der kritischen Geister Österreichs, in harten Worten verlangt, sich an die Vergangenheit zu erinnern. In einer Publikation über Österreicher, die von den nationalsozialistischen Behörden zum Tode verurteilt worden waren, schrieb er:

"Die Toten sind tot und vergessen in Österreich – nicht in vielen anderen Ländern. Die Lebenden, die Überlebenden sind müde, treten ab, werden verdrängt. In dieser kritischen Stunde Österreichs, in der es darum geht, gesunde Kräfte für einen gesunden Selbstbehauptungswillen zu sammeln, zu wecken, treten nun einige Vergessene, Übersehene, Unbekannte, aber auch im kleinen und kleinsten Kreise Bekannte vor uns hin, Österreicher: Sozialisten, Katholiken, Kommunisten, einfache Menschen oft, zumeist Kinder des Volkes und der Arbeiterbewegung, Menschen, die für ihre Überzeugung gelebt haben und für sie gestorben sind."

Diese Menschen haben fest geglaubt, dass es ihre Pflicht ist, für Österreich das Risiko von Leiden auf sich zu nehmen und sogar zu sterben. Der österreichische Staat, ein freies Österreich, ein souveränes österreichisches Volk waren im Denken dieser Österreicher, der besten Söhne und Töchter ihres Vaterlandes, bestimmt keine historische "Missgeburt".

Aus der deutschen Ausgabe der israelisch-amerikanischen Holocaust-Enzyklopädie, eines Geschichtswerkes von weltweiter Bedeutung, erfahren wir:

„Bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs glich Mauthausen den anderen Konzentrationslagern in Deutschland. Abgesehen von der zermürbenden Arbeit in den Steinbrüchen waren die Bedingungen anfangs noch relativ gut. Mit Kriegsbeginn änderte sich das radikal, und binnen kürzester Zeit stieg die Zahl der Gefangenen von 994 Ende 1938 auf 1.666 im Dezember 1939 an.

Mauthausen wurde Konzentrationslager und Vernichtungszentrale für "unerwünschte politische Elemente" im Deutschen Reich und Oppositionelle im besetzten Ausland. Von Mitte 1940 an waren deutsche Häftlinge in der Minderheit. 7.500 spanische Republikaner wurden im Lager interniert sowie Mitglieder der Internationalen Brigaden, die im spanischen Bürgerkrieg gekämpft hatten.

Polen bildeten die größte nationale Häftlingsgruppe in Mauthausen. Die ersten polnischen Gefangenen trafen am 9. März 1940 ein, im selben Jahr folgten neun weitere Transporte. Alle wurden nach Gusen geschickt.

Im Herbst 1940 wurden die polnischen Studenten und Untergrundmitglieder aus den ersten Transporten ermordet. Die Lagerlisten führen 30.203 polnische Tote auf, darunter viele Juden. Insgesamt waren fast 50.000 Polen im ganzen Lagerkomplex. 1942 kam es zu einer weiteren einschneidenden Veränderung, bedingt durch die Entscheidung, die Lager in die Kriegswirtschaft miteinzubeziehen. Aufgrund des beträchtlichen Arbeitskräftemangels griff man auf die Lagerinsassen als Arbeitskräfte zurück. Ab Herbst 1943 wurden die Häftlinge von Mauthausen zur Arbeit für die regionale Rüstungsindustrie herangezogen: hauptsächlich zum Bau von Tunneln, in denen Raketen montiert und Flugzeugteile hergestellt werden sollten.

Es erübrigt sich zu erklären, dass diese gnadenlose Ausbeutung der wehrlosen Opfer der Gewalt gemäß der nationalsozialistischen Weltanschauung zu den normalen Bestandteilen der "ordentlichen Beschäftigungspolitik" des Dritten Reiches gehörte.

"In der zweiten Hälfte des Jahres 1944 stieg die Zahl der nach Mauthausen deportierten Gefangenen. Die Sterberate erreichte ein Höchstmaß. Zwischen Januar und Mai 1945 wiesen offizielle Lagerlisten 24.613 Tote auf. Die tatsächliche Ziffer lag jedoch weitaus höher, da der häufige Ortswechsel eine genaue Registrierung unmöglich machte. Transporte trafen aus 'evakuierten' Lagern ein: aus Groß-Rosen, Bergen-Belsen, Neuengamme, Buchenwald, Ravensbrück, Sachsenhausen und anderen kleineren Lagern. Ende März und April 1945 wurden die Häftlinge aus den Nebenlagern nach Mauthausen in Marsch gesetzt. Alle, die vor Schwäche nicht mehr laufen konnten, wurden durch Phenolinjektionen umgebracht und ihre Leichen auf dem Lagergelände verbrannt.

Das Hauptlager war mittlerweile völlig überfüllt und in einem chaotischen Zustand. Die Enge und die reduzierten Lebensmittelrationen beschleunigten den Tod vieler. Im Lagerhospital gab es Fälle von Kannibalismus. Die Kapazität des Krematoriums war erschöpft, so dass ein Massengrab für 20.000 Leichen ausserhalb des Lagerareals angelegt wurde.

Am 3. Mai 1945 wurde die Wache des Lagers einer Wiener Polizeieinheit übergeben. Einen Tag später wurde die Zwangsarbeit abgebrochen, und die SS-Offiziere verließen das Lager. Am selben Tag ermordete der für den 'Bunker' zuständige SS-Mann mit einer Ausnahme alle für Arbeiten im Bunker und im Krematorium eingeteilten Häftlinge. Am folgenden Vormittag um 11.30 Uhr rückten amerikanische Panzer an. Die Häftlinge öffneten die Tore, und das Lager wurde befreit."

Die Gesamtzahl derer, die das Lager Mauthausen durchliefen, wird mit 199.404 angegeben. Schätzungsweise gab es 119.000 Tote, darunmter 38.000 Juden, über 30.000 Polen – die Opfer von Schloss Hartheim in der Nähe von Linz inbegriffen. 

Als ehemaliger polnischer Polithäftling eines faschistischen Konzentrationslagers und als Historiker des Zweiten Weltkrieges möchte ich die ehrenvolle Gelegenheit, vor dem Hohen Haus zu sprechen zu dürfen, nutzen, um von ganzem Herzen jenen vielen Österreichern zu danken, die sich unermüdlich für das Gedenken an die Vergangenheit einsetzen. Dabei denke ich besonders an die Menschen aus dem Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes unter Leitung von Herrn Prof. Wolfgang Neugebauer, an die Österreichische Lagergemeinschaft Mauthausen, an Mauthausen-Aktiv Österreich, an das Gedenkdienstkomitee – Lokale Internationale Plattform St. Georgen und auch an die örtlichen Initiativen der Gemeinden Gusen, Langenstein und St. Georgen in Oberösterreich, an den Arbeitskreis für Heimat-, Denkmal- und Geschichtspflege mit Frau Martha Gammer an der Spitze.

Dankbarkeit von uns allen, die wir Zeugen jener Jahre sind, gebührt auch den österreichischen Historikern, Schriftstellern und Publizisten, die viel Zeit und Mühe darauf verwendet haben und weiterhin opfern, um ein tiefschürfendes, richtiges Bild der komplizierten Menschenschicksale zu zeichnen und zu verewigen. Hier könnte man viele Namen nennen, doch beschränke ich mich auf zwei davon – meines alten Freundes Simon Wiesenthal und Frau Prof. Erika Weinzierl, mit der mich jahrzehntelange wissenschaftliche Kontakte und beiderseitiges Vertrauen verbinden. Erinnern möchte ich auch an einen hervorragenden Österreicher, den steirischen Altlandeshauptmann Dr. Stepan, einen ehemaligen KZ-Häftling, mit dem ich Mitte der sechziger Jahre über unsere Lagererfahrungen sprechen konnte, und an die schon verstorbenen Freunde meiner Generation – in der Kriegszeit gezwungenermaßen Wehrmachtssoldaten – Dr. Kurt Skalnik und Dr. Wolfgang Kraus, durch die ich das Phänomen der österreichischen Identität und des tiefen österreichischen Patriotismus besser begreifen lernte.

In meiner Erinnerung bleiben auch die Namen der über 80 vom Institut Yad Vashem in Jerusalem als "Gerechte unter den Völkern der Welt" geehrten Österreicher, die bereit waren, ihr Leben aufs Spiel zu setzen, um andere, tödlich bedrohte "Nichtarier" zu retten.

Wir gedenken heute der Opfer der NS-Zeit und des Zweiten Weltkrieges. Die kommenden Generationen dürfen nicht vergessen, dass sich dieser Krieg immer und ewig von den vorherigen Kriegen unterscheiden wird durch den geplanten Menschenmord: eine planmäßig durchgeführte Vernichtung von Millionen Menschen, das quälende psychische und physische Leid, das ihnen ohne Rücksicht auf Geschlecht und Alter angetan wurde, den langsamen Tod vor Hunger und Krankheiten in Konzentrationslagern und Ghettos, den gewaltsamen Tod bei Massenexekutionen und den Märtyrertod in den Gaskammern, die von deutschen Spezialisten zur Ausführung des staatlichen Aktionsprogramms des Dritten Reiches errichtet wurden.

Heute, an der Schwelle des neuen Jahrhunderts, an das wir große Hoffnungen für eine bessere Zukunft der Menschheit knüpfen dürfen, sind die Worte Auschwitz und Mauthausen für Millionen Menschen in aller Welt, sowohl Juden als auch Christen, zum Zeichen des Grauens und der letzten Warnung geworden – auch wenn seit jenen Ereignissen schon 55 Jahre und mehr vergangen sind.

Wir, Menschen guten Willens, die dem Andenken an die Opfer unsere Ehre erweisen möchten, wollen dieser Herausforderung gerecht werden. Wir fühlen uns verpflichtet, zu gedenken und nachzudenken. Verpflichtet zur Erinnerung an historische Fakten und an den Märtyrertod von Menschen. Zum Nachdenken über die menschliche Natur und über die Erziehungsmethoden der Menschen für eine bessere gemeinsame Zukunft. Die bittere Erfahrung lehrt uns, wie groß die Bedeutung des Fortschritts von Wissenschaft und Technik und der materiellen Kraft der Staaten ist. Die Erfahrung ist bitter, weil diese Kraft im 20. Jahrhundert gegen die Menschen gerichtet war. Wir müssen uns also auf eine gewisse universelle Wertordnung, auf einen ethischen Maßstab stützen, der sowohl die Juden als auch die Bekenner aller christlichen Kirchen verbindet – an die Zehn Gebote, die Gott Moses auf Sinai übergeben hat. Eines dieser Gebote heißt: „Du sollst nicht töten!“ Das soll nicht nur heißen: Du sollst kein Verbrechen begehen, sondern auch: Du sollst nicht zum Verbrechen aufwiegeln, du sollst das Verbrechen nicht akzeptieren, du sollst nicht gegen das Verbrechen gleichgültig bleiben. Wir alle sollten unsere Schlüsse daraus ziehen, vor allem diejenigen, die für die Gestaltung des Bewusstseins der neuen Generationen verantwortlich sind. Ich meine hier weltliche und geistliche Lehrer und Erzieher sowie diejenigen, die das Vorstellungsvermögen der Menschen über die Medien beeinflussen. Wenn der Nationalsozialismus ein Ausdruck des Triumphes von Hass und Verachtung war, die die einen Menschen anderen Menschen gegenüber hegten, dann gebietet das Testament seiner Opfer, nachzudenken über Methoden, wie man sich dem Hass, der Verachtung und dem Gefühl einer eingebildeten Überlegenheit einer Nation oder einer Menschengruppe gegenüber anderen Nationen oder Menschengruppen wirksam widersetzen kann. Wenn Auschwitz und Mauthausen der Triumph extremer Formen des Anitsemitismus und eines seinem Wesen nach menschenfeindlichen Rassenhasses waren, wie er von den Funktionären des damaligen deutschen NS-Staates gegenüber Juden, Roma und Sinti praktiziert wurde, dann muss das kategorische Gebot für die Nachkommen auf entschiedenem Widerstand gegen etwaige Symptome aller Erscheinungen und Gefahren von Fremdenfeindlichkeit und Xenophobie beruhen. Wir müssen uns von der Logik leiten lassen, mit der sich die zivilisierte Menschheit den Epidemien oder der Gefährdung der Umwelt widersetzt, von denen jeder Mensch plötzlich betroffen werden kann, auch wenn er es nicht ahnt.

Keiner von uns ist von der Pflicht befreit, Folgerungen daraus zu ziehen, was sich an vielen mehr oder weniger bekannten Orten Europas ereignet hat, an denen der Hass die Oberhand gewonnen hatte. Der Sieg des Hasses währte nur kurz, aber der Preis seines Triumphes war zu groß, als dass man die Praxis des Hasses heute aus Unwissenheit oder durch Vernachlässigung an irgendeinem Ort der Welt in den Beziehungen zwischen den Menschen, zwischen Nationen, ethnischen oder konfessionellen Gruppen, zulassen dürfte. Das Rezept dagegen lautet Güte, Vertrauen, Menschenliebe und die Kraft unserer Erfahrungen.

In diesem Sinne möchte ich hier die Überzeugung teilen, die Herr Bundespräsident Dr. Thomas Klestil im Februar dieses Jahres in den Worten zum Ausdruck gebracht hat, dass Österreich ein gutes Land ist – "mit positiven Menschen und einer weltoffenen Zukunftsgeneration".

(Schluss)