Parlamentskorrespondenz Nr. 579 vom 06.08.2001

DIE ERSTE FRAU DES ÖSTERREICHISCHEN PARLAMENTS - PALLAS ATHENE

Der Brunnen vor dem Tore

Wien (PK) - Schon lange bevor die ersten weiblichen Abgeordneten im Jahr 1919 in die konstituierende Nationalversammlung gewählt wurden, zog  s i e  die Blicke des Betrachters auf das männlich dominierte, neu erbaute Parlamentsgebäude auf sich. Im Laufe der Zeit wurde sie zu einer Symbolfigur des österreichischen Parlamentarismus – Pallas Athene, die Göttin der Weisheit, aber auch des Krieges und des Friedens.

In der griechischen Mythologie galt sie als die Lieblingstochter des Zeus, aus dessen Haupt sie geboren wurde. Der Mythos ihrer Geburt ist sehr alt, er war schon Homer bekannt, galt aber als anstößig. Pallas Athene ist im wahrsten Sinne des Wortes eine „Kopfgeburt“, denn Zeus erwartete einen Sprössling der allwissenden Metis, von dem ihm jedoch geweissagt worden war, dass er über Götter und Menschen herrschen würde. Da der Göttervater diese Bedrohung seiner Macht und seines Geschlechts verhindern wollte, verschlang er Metis sicherheitshalber, worauf er unerträgliche Kopfschmerzen bekam. Um den Schmerzen ein Ende zu bereiten, kam ihm die aus der Sicht der modernen Medizin unorthodoxe Idee, Hephaistos zu befehlen, ihm das Haupt mit einer Axt zu spalten. Sein darob erstaunter Sohn gehorchte, und im selben Augenblick entsprang Athene dem Kopf des Zeus unter Kriegsgeheul mit Helm, Speer und Spieß.  

Pallas Athene verkörpert den Typus der männergleichen, mit physischer Kraft und geistiger Energie begabten kämpferischen Jungfrau, worauf das Appellativ Pallas hinweist. Als Göttin der Weisheit, die mit kühlem und klaren Verstand vorgeht, soll sie Leitbild weiser, vorausschauender und für das Gemeinwohl richtungweisender Entscheidungen der Volksvertretung sein. In dieser Funktion schützt sie insbesondere auch die Philosophen, Dichter und Redner. Kunst und Wissenschaft stehen damit unter ihrem Schutz. Ihr unterstehen aber auch die Handwerker, vor allem die Schmiede, die Spinner und Weber.

Das ihr heilige Tier ist die Eule, ihre Pflanze der Ölbaum. Sie ließ nämlich den ersten Ölbaum in Attika wachsen. Damit siegte sie über Poseidon, mit dem sie der Sage nach um die Vorherrschaft im Lande kämpfen musste. Es sollte demjenigen gehören, der das wertvollere Geschenk bot. Ein göttliches Entscheidungsgericht schätzte dabei den Ölbaum höher ein als den Quell, den Poseidon mit seinem Dreizack auf der Akropolis entspringen ließ.

Die Tatsache, dass Athene in gleicher Weise Kriegs- und Friedensgöttin war, wie dies auch durch die Art ihrer Geburt und ihres Äußeren versinnbildlicht ist, darf nicht unerwähnt bleiben. Im Gegensatz zum Kriegsgott Ares, der blutrünstiges Gemetzel vorzog, verstand sie sich auf Intrigen, auf strategische und diplomatische Kriegführung. Dementsprechend mischte sie gemäß der antiken Sagenwelt in Schlachten an vorderster Front mit. Dass sie im Kampf um Troja auf der Seite der Griechen stand, hängt wohl auch damit zusammen, dass Paris sich einst als Schiedsrichter eines Schönheitswettbewerbs, unbeeindruckt von versprochener Macht und Weisheit sowie zukünftigem Ruhm, gegen sie und Hera entschied und den goldenen Apfel Aphrodite, der Göttin der Schönheit und Liebe, zuerkannte. Athenes besonderen Schützlinge sind unter anderem Odysseus, Achilleus und Diomedes. Herakles schenkte ihr aus Dankbarkeit die goldenen Äpfel der Hesperiden und von Perseus erhielt sie für ihre Hilfe bei seinem Abenteuer mit Gorgo das Haupt der Medusa, das von da an die Ägis, den Ziegenfellschild, zierte und im Kampf panischen Schrecken verbreitete. Sie zeichnete sich auch im Kampf der Olympier gegen die Giganten aus, indem sie Enkelados in die Flucht schlug und Sizilien auf ihn schleuderte – sein feuriger Atem raucht heute noch aus dem Ätna.

Als Milderungsgrund für ihr kriegerisches Verhalten kann angeführt werden, dass sie für den Schutz der Staaten nach außen verantwortlich war. In ihrem Tätigkeitsfeld als Friedensgöttin sorgte sie für den inneren Frieden durch Einsetzung eines Gerichtshofes auf dem Areopag, womit ein wesentlicher Bezug zu rechtsstaatlichen Instanzen hergestellt werden kann. Ihr zu Füßen auf dem Brunnen vor dem Parlament befinden sich denn auch die Personifizierung der gesetzgebenden und der ausübenden Gewalt. Sie wacht somit über die Gewaltentrennung, eines der Grundprinzipien rechtsstaatlicher, demokratischer Verfassungen.

Die griechische Pallas Athene ist vermutlich auf eine minoische Hausgöttin, möglicherweise auf eine orientalische Göttin zurückzuführen. Darauf deutet auch die Schlange hin, mit der u. a. Phidias die Göttin auf der Akropolis gestaltet hat.

Da sie als Jungfrau verehrt wurde, trug sie auch den Beinamen „Parthenos“, woher auch der Name des Parthenontempels auf der Akropolis in Athen stammt, der wiederum Vorbild für die Säulenhalle des österreichische Parlamentsgebäudes war, die dem gestürzten Parthenontempel entspricht – gestürzt deshalb, weil die Wände der Säulenhalle außen und die Säulen innen sind.

So eng Pallas Athene auch im Bewusstsein der ÖsterreicherInnen mit dem Parlamentsgebäude verbunden ist, so war sie doch nur zweite Wahl. Nach Theophil Hansens Plan sollte der Monumentalbrunnen von einer allegorischen Darstellung der Austria, einer Versinnbildlichung Österreichs, dominiert werden. Politische Rücksichtnahme auf die starken nationalen Strömungen in der Monarchie zu dieser Zeit führte jedoch dazu, die Austria durch die Allegorie der Weisheit zu ersetzen. Verwirklicht wurde die 5,5 m hohe Statue erst nach Hansens Tod im Jahr 1902 durch den Bildhauer Carl Kundmann, der jedoch den Entwürfen des Parlamentsarchitekten folgte.

Als Vorbild für die Gestaltung der Göttin fungierte die so genannte „Athena Farnese“, die im Nationalmuseum in Neapel steht. Als Untergewand trägt sie den „Chiton“, darüber den schweren Mantel, „Peplos“ genannt. Auf der Brust der Göttin befindet sich die „Ägis“, das von Schlangen umsäumte goldfarbene Tierfell mit der „Gorgomedusa“ in der Mitte. Der Kopf ist mit dem ebenfalls gold gefärbten attischen Helm bedeckt, deren mittlerer Helmbuschhalter eine liegende Sphinx darstellt, die beiden anderen stellen geflügelte Pferde dar. In der rechten vorgestreckten Hand hält sie die kleine Siegesgöttin Nike aus Bronze auf einem goldfarbenen Globus. Nike ist jene griechische Göttin, die den Sieg überbringt, und zwar nicht nur im kriegerischen Sinn, sondern auch im friedlichen Wettstreit. Die linke Hand von Pallas Athene umfasst die Lanze, deren Spitze ebenfalls die Farbe des Edelmetalls trägt. Die Statue wurde aus 150 Kubikmeter weißem Marmor gestaltet, der aus dem kleinen Südtiroler Dorf Laas kommt. Für den Laaser Bergbau war dies der größte Auftrag in seiner Geschichte.

Pallas Athene steht auf einem Eulenkapitell, darunter, wie erwähnt, die beiden Allegorien "Vollzug der Gesetze" (links) und "Gesetzgebung" (rechts). Die gesetzgebende Gewalt hält eine Gesetzestafel in der Hand und hat ihren Kopf zur Ringstraße gewandt. Die ausübende Gewalt ist mit einem großen Richtschwert in der rechten Hand und mit der Waagschale in der linken Hand dargestellt, wobei nur eine Waagschale, durch eine Schnur mit dem Querbalken verbunden, erkennbar ist. Diese Art der Gestaltung mit den Waagschalen mag vielleicht so manchen dazu verleiten, die Skulptur mit der dritten Gewalt, der Gerichtsbarkeit, gleichzusetzen, wie es uns aus den verschiedensten Darstellung vertraut ist, wo Justitia das Verfahren vor Gericht verkörpern soll. Bei den Attributen zu seinem Entwurf für den "Vollzug der Gesetze" griff Hansen aber auf die mittelalterliche Scholastik zurück, auf eine Tradition und Lehre, in der die Gerechtigkeit als eine Kardinaltugend galt und man zwischen der allgemeinen Gerechtigkeit und der partikularen Gerechtigkeit unterschied. Letztere wurde in eine austeilende Gerechtigkeit, die Ehre, Geld, Würde und Verdienst vergibt, und in eine ausgleichende Gerechtigkeit, die alle Menschen gleich behandelt, unterteilt. Die Waage symbolisiert die Ebenbürtigkeit dieser beiden Formen der Gerechtigkeit.

In der Mitte der großen Brunnenschale aus Neuhauser Granit erhebt sich ein Zwischenpodest mit den allegorischen Personifikationen der Hauptflüsse der Monarchie, Donau, Inn, Moldau und Elbe. Damit soll auf den Geltungsbereich des Parlaments, nämlich auf alle im Reichsrat vertretenen Königreiche und Länder, hingewiesen werden und wohl auch auf die Verantwortung der Legislative und Exekutive für die Länder Cisleithaniens. Der Inn ist dem Vorbild antiker Flussgötter, mit nacktem Oberkörper und wallender Haar- und Barttracht, nachgebildet, die anderen drei Flüsse sind in weiblicher Form dargestellt und folgen antiken Aphroditebildnissen. Gleich rechts neben dem Inn posiert die Donau – ihm tief in die Augen blickend. Auf der dem Parlamentsgebäude zugewandten Seite findet man Elbe und Moldau, wobei die Moldau mit einem Lorbeerkranz geschmückt ist und ein Ruder in der Hand hält. Zwischen den Personifikationen der Flüsse tummeln sich geflügelte pausbackige nackte Eroten, die auf Delphinen reiten. Diese Tiere könnten ein auf Grund moderner wissenschaftlicher Erkenntnisse Symbol oder Auftrag für intelligente Entscheidungen sein, wenn auch sicherlich nicht ursprünglich von Hansen so gedacht.

Eine weitere Darstellung der Pallas Athene, gefertigt vom Bildhauer Alois Düll, befindet sich gemeinsam mit anderen olympischen GötterkollegInnen zwischen Apollon und Zeus im Oberen Vestibül.

(Schluss)