Parlamentskorrespondenz Nr. 98 vom 18.02.2002

DIE HEIMSTATT FÜR DAS ERSTE MULTINATIONALE PARLAMENT

Der Sitzungssaal des ehemaligen Abgeordnetenhauses

Wien (PK) - Dr. Karl Renner, Staatskanzler (1918 bis 1920) der ganz jungen Ersten Republik und Bundespräsident (1945 bis 1950) der Zweiten Republik sagte einmal über den österreichischen Reichsrat, dieser sei ein "Völkerbund im Kleinen" gewesen. Die Institution, die hier getagt habe, sei "trotz ... ihrer Ergebnislosigkeit denkwürdig" gewesen.

Renner traf mit dieser Sicht der parlamentarischen Vertretung während der Monarchie wohl den Punkt. Denn das Abgeordnetenhaus des Reichsrats, in dem zuletzt 516 Abgeordnete saßen, war ein Vielvölkerparlament. Es waren dort acht Nationen (Deutsche, Tschechen, Polen, Slowenen, Kroaten, Italiener, Rumänen und Ruthenen) vertreten. Sie gehörten wiederum 33 Parteien an. Verhandlungssprache war Deutsch, verwendete ein Abgeordneter eine andere Sprache, musste er für eine Übersetzung sorgen.      

Wie schwierig sich die parlamentarische Arbeit und Diskussion gestaltete, kann man sich leicht vorstellen, zieht man auch den aufkeimenden und schließlich alles überschattenden Nationalismus in Betracht, der sich in dem Unvermögen manifestierte, für die jeweils andere nationale Gruppe Verständnis aufzubringen. Brigitte Hamann hat dies sehr eindrucksvoll in Ihrem Buch "Hitlers Wien" beschrieben, indem sie den LeserInnen anschaulich vor Augen führt, wie durch Mittel der Obstruktion und des Dauerredens parlamentarische Arbeit und Konsensfindung beinahe unmöglich gemacht wurde. Nationaler Hader erstickte sämtliche Aktivitäten. Hamann zeigt darin auch deutlich, wie wenig die Geschäftsordnung geeignet war, der Situation einigermaßen Herr zu werden. Schreiduelle, Handgreiflichkeiten, Lärmen mit Pultdeckeln waren an der Tagesordnung. Auch die Tintenfässer in den Pulten sollen zweckentfremdet verwendet worden sein. Man kann sich vorstellen, welch negativen Eindruck solche Szenen auf den jungen Hitler gemacht haben und welchen Einfluss diese Mosaiksteine politischer Erfahrung und Beobachtung auf die gedankliche Welt dieses Verbrechers hatten.

Die Parteien verloren im Zuge der nationalen Emotionalisierung die Fähigkeit und den Willen, die Interessen des Gesamtstaates zu wahren, und damit waren sie auch keine stabile, tragfähige Basis mehr für die Regierungen. Die Völker hatten ihre Bindung zur Monarchie verloren und im Abgeordnetenhaus widerspiegelte sich die Entwicklung, die nach 1848 und insbesondere nach dem Scheitern des Februarpatents 1861 und dem Dualismus seit 1867 ihren Lauf genommen hatte. Die Regierungen fanden kaum mehr eine Reichspartei hinter sich.

Trotz dieses Scheiterns des Reichsrats als Vielvölkerparlament wäre es falsch, die positiven Seiten dieser "Rekrutenschule der mittel- und südosteuropäischen Demokratien" (Renner) nicht zu sehen und zu beleuchten. Denn tatsächlich verbrachten bedeutende Staatsmänner ihre "Lehr- und Gesellenjahre" im Abgeordnetenhaus des Reichsrats, z.B. Masaryk in Prag, Daszynski in Warschau und Degasperi in Rom. Der vorletzte Präsident des Abgeordnetenhauses, Dr. Julius Sylvester, meinte einmal, die Nachfolgestaaten hätten nicht in wenigen Wochen ihren selbständigen Staat bilden können, wenn nicht die Gesetze, die sie vom alten Staat übernommen haben, im österreichischen Abgeordnetenhaus beraten und beschlossen worden wären. Sylvester weiter: "Dieses Parlament ist......zu Grabe gegangen und wird wohl nie wieder Auferstehung feiern. Einem allfälligem künftigen 'Völkerparlament' in oder außerhalb Europas kann es immerhin zur Lehre dienen."

Der Sitzungssaal des ehemaligen Abgeordnetenhauses ist einem griechischen Theater nachgebildet - im Grundriss ein überhöhter Halbkreis von 34 Metern Durchmesser und 22,5 Metern Tiefe. Die Höhe des Saals bis zur Glasdecke beträgt 15 Meter. Diese Glasdecke wurde in Böhmen angefertigt und während des Zweiten Weltkrieges nicht zerstört. Während der umfassenden Renovierung des Saales im Jahr 2001 mussten aber einige Glasteile ausgetauscht werden - eine Meisterleistung des Denkmalschutzes, da nur mehr wenige Firmen imstande sind, derartig aufwendige Stücke herzustellen.

Die Saalwand hinter dem Präsidium ist in der Art eines antiken Szenariums mit einer Kollonade von Dreiviertelsäulen gestaltet, deren Gebälk in der Mitte durch einen Giebel abgeschlossen wird. Der figurale Schmuck aus Laaser Marmor darin stellt allegorisch den Ablauf der Tageszeiten dar. Die Nischen zwischen den Säulen beherbergen die Skulpturen römischer Staatsmänner, und zwar von Numa Pompilius, Cincinnatus, Maximus, Cato und Gaius Gracchus auf der linken Seite und Cicero, Manlius Torquatus, Augustus, Seneca und Konstantin auf der rechten Seite. Hansen wollte damit für das Abgeordnetenhaus die praktische Politik Roms versinnbildlichen, während er für den nicht mehr erhaltenen, aber gleich konzipierten Sitzungssaal des Herrenhauses griechische Staatsmänner vorgesehen hatte. Auf die Bedeutung und Lebensgeschichte dieser historischen Persönlichkeiten wird in nachfolgenden Beiträgen näher eingegangen werden.   

Über den Nischen zieht sich ein Fries, der von Prof. Eisenmenger gestaltet wurde. In 15 Einzelfeldern wird die Entstehung des staatlichen Lebens geschildert. Auch dieses wird Gegenstand einer eigenen und ausführlichen Betrachtung sein, weshalb hier nur kurz auf das mittlere Feld eingegangen wird. Es zeigt Perikles, der, von Künstlern umringt, die Prachtbauten anordnet. Der seine Pläne erläuternde Baumeister trägt die Gesichtszüge Hansens.

Interessant ist auch darauf hinzuweisen, dass sich - im Gegensatz zum heutigen Nationalratssitzungssaal - das Rednerpult für die Abgeordneten hinter der Regierungsbank befindet und die Redner somit zum Großteil nur räumlich und nicht auch politisch "hinter der Regierung" standen.

Wie im Plenarsaal des heutigen Nationalrates auch, sind gegenüber der Stirnwand im Halbrund zwei Galerien angebracht, wobei die mittlere Loge der ersten Etage für den Kaiser vorgesehen war, der dem Abgeordnetenhaus aber nie einen Besuch abgestattet hatte. Heute ist sie für den Bundespräsidenten reserviert. Die Logen rechts sind den DiplomatInnen vorbehalten, links den Angehörigen der Mitglieder des Präsidiums und der Bundesregierung. An den beiden äußeren Enden befinden sich die Logen für die JournalistInnen, die zweite Galerie ist etwas zurückversetzt und für das Publikum bestimmt.

Heute ist der Saal, auch Reichsratssaal genannt, für die Sitzungen der Bundesversammlung vorgesehen. Die Bundesversammlung, bestehend aus Nationalrat und Bundesrat, tritt insbesondere zur Angelobung des neuen Bundespräsidenten - oder vielleicht auch einmal einer Bundespräsidentin - zusammen. Gott sei Dank nicht aktuell ist die Bestimmung der Bundesverfassung hinsichtlich des Zusammentretens der Bundesversammlung zur Beschlussfassung über eine Kriegserklärung. Die Bundesversammlung hat aber auch die Funktion, über eine Anklage des Bundespräsidenten wegen Verletzung der Bundesverfassung oder, im Falle eines entsprechenden Beschlusses des Nationalrates, über die Durchführung einer Volksabstimmung zur Absetzung des Bundespräsidenten zu entscheiden.

Der Sitzungssaal des ehemaligen Abgeordnetenhauses dient aber auch dazu, Fest- oder Gedenksitzungen abzuhalten. Beispielsweise wurde anlässlich des 75. Jahrestages der Gründung der Ersten Republik und des 50 Jahrestages der Gründung der Zweiten Republik eine Gedenkveranstaltung abgehalten. Auch wurde der Ausschaltung des Parlaments im Jahr 1934 gedacht.

Dem Grundriss eines griechischen Theaters entsprechend, wurde der Saal bereits einige Male zu einem Theater umfunktioniert, wo den Gästen Beeindruckendes geboten wurde. Der behinderte Schauspieler Peter Radtke brachte beispielsweise, auf der Regierungsbank sitzend, am 12. Juni 1992 Franz Kafkas "Bericht für eine Akademie" - ein Ereignis, das auf Grund der Persönlichkeit des Schauspielers, der gebotenen Schauspielkunst und der Atmosphäre dieses Saales unvergleichlich und wohl auch unnachahmlich ist und bleibt.

Nachdem die Präsidiale des Nationalrates im Jahr 1997 beschlossen hatte, anlässlich der Befreiung des Konzentrationslagers Mauthausen am 5. Mai 1945 einen "Gedenktag gegen Gewalt und Rassismus" abzuhalten, wurde 1998 die österreichische Erstaufführung der Oper "Das Tagebuch der Anne Frank" von Grigori Frid mit der Opernsängerin Anat Efraty in diesem Saal gespielt. 1999 stand abermals eine Oper auf dem Programm, nämlich die Kammeroper "Weiße Rose" von Udo Zimmermann mit Ildiko Raimondi. Das Jahr darauf wurde der Gedenktag mit einer viel beachteten Rede des ehemaligen polnischen Außenministers Wladyslaw Bartoszewski begangen, der über Erfahrungen und Gedanken eines Auschwitz-Überlebenden sprach. Im Anschluss daran wurde das "Faction-Drama" "Pogrom - der Wirtschaftsthriller" aufgeführt, ein dramatisiertes Stenogramm einer "Besprechung über die Judenfrage", die am 12. November 1938 im Reichsluftfahrtministerium stattgefunden hatte.

Für die BesucherInnen des Parlamentsgebäudes bildet der Sitzungssaal des ehemaligen Abgeordnetenhauses den Höhepunkt ihres Rundganges durch das Haus, zumal es nur wenige Parlamente gibt, die derartiges in ihrem Inneren zu bieten haben. (Schluss)