Parlamentskorrespondenz Nr. 470 vom 24.06.2002

DER QUERDENKER

Sokrates (469 - 399 v.Chr.) holte die Philosophie auf die Erde

Wien (PK) - Als bei seinem Prozess über "schuldig oder nicht schuldig" abgestimmt wurde, befanden ihn 280 Richter für schuldig, 221 immerhin für unschuldig. Bei der anschließenden Beratung über Art und Höhe der Strafe soll er selbst eine Geldbuße von 25 - nach einer anderen Quelle von 100 - Drachmen vorgeschlagen haben. Man kann sich die Empörung der Richter vorstellen - immerhin war der Angeklagte für schuldig befunden worden, ein gottloser Aufrührer und Verderber der Jugend zu sein. Da modifizierte er seinen Vorschlag: Auf Grund seiner Verdienste sollte er auf Lebenszeit vom Staat verköstigt werden. Der Antrag auf die Todesstrafe fand eine Mehrheit von 360 gegen 141 Stimmen.

Zeit seines Lebens war er ein Querkopf gewesen, dieser Sokrates, ein Provokateur und ein unbequemer Mensch. Cicero sagt, er habe die Philosophie vom Himmel auf die Erde heruntergeholt, weil ihn die Fragen der Menschen und ihres Lebens mehr interessierten als kosmologische Spekulation. Keine Zeile hat er hinterlassen - und doch gehört er zu den folgen- und einflussreichsten Denkern der Menschheitsgeschichte.

470 oder 469, ein Jahrzehnt nach der Schlacht von Salamis, wurde er in Athen geboren, als Sohn des Steinmetzes Sophroniskos und der Hebamme Phainarete. Der Beruf der Mutter sollte seine Haupt- und Lieblingsbeschäftigung prägen, das Denken und Nachfragen. Seine Methode, der "Wahrheit" ans Licht zu helfen, wird als "Maieutik", Hebammenkunst, bezeichnet.

Als Soldat soll er tapfer, im zivilen Leben anspruchslos und bescheiden gewesen sein. Es wird erzählt, dass er angesichts des Überangebots von Waren auf dem Markt von Athen gesagt habe: Wie viele Dinge gibt es doch, die ich nicht brauche! Im Sommer wie im Winter trug er den gleichen Mantel, er besaß weder Schuhe noch Sandalen. "Ein Sklave, den man so zu leben zwingen wollte, würde davonlaufen", sagte der Sophist Antiphon.

Nach allen Zeugnissen war er nicht schön im konventionellen Sinn. Klein und gedrungen, mit vorstehenden Augen und einer Knollennase glich er eher einem Waldschratt. Aber Plato spricht von seiner inneren Schönheit und nennt ihn den aufrechtesten Mann seiner Zeit.

Die in der Antike viel diskutierte Frage, ob die Ehe für Weise und Philosophen zuträglich sei, beantwortete Sokrates nicht befriedigend, aber weise: "Es tut dir leid, was immer du tust." Aus dieser Erkenntnis mag eigene Erfahrung sprechen: Seine resolute, oft als zänkisch beschriebene Ehefrau Xanthippe ist nicht nur aus Kreuzworträtseln bekannt. Sokratische Ironie klingt noch an, als Xanthippe sich darüber beklagt, dass er zu Unrecht in den Tod gehen müsse. "Wäre es dir lieber", fragt er seine Frau, "ich ginge zu Recht?"

Nicht nur bei seinem Prozess, auch mit seinem Philosophieren in den Jahren davor, hat er sich Unwillen und Ablehnung vieler Mitbürger redlich verdient. Als sein Schulfreund Chairephon vom Orakel in Delphi wissen wollte, wer unter den Menschen der weiseste sei, gab die sonst mehrdeutige Pythia eine scheinbar klare Antwort: "Von allen Menschen ist Sokrates der Weiseste."

Das wollte der Philosoph nicht so ohne weiteres auf sich sitzen lassen. Was konnte Apollon, der Herr des Orakels, mit seinem Spruch meinen? Sokrates machte sich an Menschen heran, die im Ruf der Weisheit standen, um so vielleicht das Orakel zu widerlegen - an sich schon ein ketzerisches Unterfangen. Sokrates fing bei einem Politiker an, mit dem Ergebnis, dass jener sich wohl weise vorkomme, es aber keineswegs sei. Ähnlich erging es ihm bei den Intellektuellen, bei Dichtern und Schriftstellern, bei den Handwerkern, die er auf ihre "Weisheit" abklopfte. Laut Platon (Apologie) kommt Sokrates zu den Ergebnis, dass nur der Gott weise sei, die menschliche Weisheit aber nur wenig wert sei oder gar nichts. Der Spruch des Orakels habe daher zu besagen, dass am weisesten sei, wer wie Sokrates erkannt hat, dass er, recht betrachtet, nichts wert ist, was seine Weisheit betrifft. Eine Erkenntnis, die nicht ganz korrekt zu dem Satz popularisiert wurde "ich weiß, dass ich nichts weiß".

Aus der Parteipolitik hat er sich herausgehalten. Politik hielt er für die Aufgabe, sich um die Seelen der Mitbürger zu kümmern und sie so "gut" wie möglich zu machen. Demgemäß sei das Wissen um "das Gute" die unverzichtbare Grundlage auch der Politik. Das Wertesystem in Athen war nach dem Peloponnesischen Krieg und der verheerenden Niederlage ganz schön durcheinander geraten. Wenn er aber ein Amt auszufüllen hatte, tat er es mit geradezu starrköpfiger Treue zu den Gesetzen, bis hin zur "Befehlsverweigerung" gegenüber den Mächtigen. Angebote der Freunde, ihm vor dem Prozess wie nach der Verhängung des Todesurteils zur Flucht (die auch seine Ankläger lieber gesehen hätten als den Schierlingsbecher) zu verhelfen, lehnte er konsequenter Weise ab.

Vor dem Tod hatte er keine Angst. Nach Platon gab er sich überzeugt, dass es für ihn das Beste war, zu sterben und damit aller Mühsal ledig zu sein. Der Tod sei entweder wie ein glückseliger, traumloser Schlaf - und es gebe wenig glücklichere Momente im Leben eines Menschen; oder er sei eine Wanderung an einen anderen Ort, an dem die früheren Verstorbenen versammelt wären - und wer würde sich nicht gern mit Orpheus, Hesiod und Homer unterhalten? "Jetzt ist es Zeit, fortzugehen", lässt Plato den Sokrates am Schluss der "Apologie" sagen. "Für mich zum Sterben, für euch zum Leben. Wer von uns dem besseren Los entgegengeht, ist allen unbekannt außer dem Gott."

Als er den Giftbecher bereits getrunken hatte, seine Beine erkalteten und er das Tuch schon über das Gesicht gezogen hatte, wandte er sich, das Tuch zurückschlagend, ein letztes Mal an seine Schüler: "Kriton, wir schulden dem Asklepios noch einen Hahn", sagte er, als seine letzten Worte. Dem Gott der Medizin ein Hahnenopfer zum Dank für die Genesung - von der "Krankheit" des Lebens?

Das Friesgemälde des Abgeordnetenhauses von August Eisenmenger zeigt Sokrates im Dialog mit Schülern. Eine Sokratesstatue von Franz Koch im Sitzungssaal des Herrenhauses wurde 1945 durch einen Bombentreffer zerstört. (Schluss)