Parlamentskorrespondenz Nr. 623 vom 09.09.2002

BOTSCHAFTER IN MOSKAU, HERRSCHER IM "KÖNIGREICH WALDBRUNNER"

Karl Waldbrunner (1906 - 1980)

Wien (PK) - Mit Karl Waldbrunner kam im März 1970 erstmals seit März 1933 wieder ein Mitglied der Sozialdemokratie auf den Präsidentensessel des Nationalrats. Wenngleich er dort nur 20 Monate residierte, leitete er damit eine Entwicklung ein, die sich bis zum heutigen Tage fortsetzt, stammen doch seit 1970 alle Nationalratspräsidenten aus den Reihen der SPÖ.

Waldbrunner wurde am 25. November 1906 in Wien geboren. Nachdem er die Realschule absolviert hatte, begann Waldbrunner an der Technischen Hochschule Elektronik zu studieren. Er trat der Sozialdemokratischen Partei bei und wurde alsbald führender Funktionär der Sozialistischen Studenten. Wiewohl Waldbrunner als Diplomingenieur eine ausgewiesene Fachkraft war, fand er im Österreich der Weltwirtschaftskrise keine Arbeit und emigrierte daher in die Sowjetunion, wo er als leitender Ingenieur tätig war. Erst 1937 gab es für ihn auch in Österreich wieder einen Posten, und bis 1945 war Waldbrunner in leitender Funktion bei den Stahlwerken Schoeller-Bleckmann beschäftigt.

Die Kontakte zur Sozialdemokratie hatte Waldbrunner nie abreißen lassen, und so verwundert es nicht, dass Karl Renner ihn im April 1945 als Unterstaatssekretär für Industrie, Gewerbe, Handel und Verkehr in sein Kabinett holte. Nach den ersten freien Wahlen der Zweiten Republik - bei welchen Waldbrunner in den Nationalrat gewählt wurde - avancierte Waldbrunner zum Staatssekretär für Wirtschaftsplanung. Dieses Amt übte er allerdings nur drei Monate lang aus, ehe er im März 1946 als österreichischer Botschafter nach Moskau ging, um dort Wege und Möglichkeiten zur Erlangung eines Staatsvertrages für Österreich auszuloten.

Nach den Neuwahlen kehrte Waldbrunner nach Österreich zurück und wurde im November 1949 Minister für Verkehr und verstaatlichte Betriebe, was er bis Dezember 1962 bleiben sollte. In jener Zeit sprachen Kommentatoren gerne vom "Königreich Waldbrunner", stand er doch über 13 Jahre lang dem Herzstück der österreichischen Industrie vor. Betriebe wie die VÖESt galten als internationale Visitkarte Österreichs, das "LD-Verfahren" genoss Weltachtung, und das Wirtschaftswunder war zu einem nicht geringem Teil der Leistung der österreichischen Verstaatlichten zu verdanken. Kein Wunder, dass Waldbrunner große Popularität genoss.

Diese spiegelte sich auch in seinem innerparteilichen Aufstieg wider, wurde Waldbrunner doch stellvertretender Parteiobmann der SPÖ und Bundesobmann des BSA. Ab 1960 war er überdies Präsident der Konferenz der Europäischen Verkehrsminister.

Im Dezember 1962 schied Waldbrunner aus der Regierung aus und wurde in der Nachfolge von Friedrich Hillegeist Zweiter Präsident des Nationalrates. Im März 1970 krönte sich seine Karriere mit dem zweithöchsten Amt im Staate, welches er bis zum Ende der Legislaturperiode im November 1971 bekleidete, ehe er sich 65jährig aus der Politik zurückzog. Waldbrunner starb am 5. Juni 1980 in Wien. Sein Bild im Empfangsalon des Parlaments stammt von Adalbert Pilch. (Schluss)