Parlamentskorrespondenz Nr. 704 vom 11.11.2002

DER TOD AM VORABEND DER REPUBLIK

Victor Adler (1852 - 1918)

Wien (PK) - An der Ecke der Wiener Ringstraße, die vom Parlament auf der einen und vom Palais Epstein auf der anderen Seite begrenzt wird, steht das Denkmal der Republik. Drei Büsten erinnern an Männer, die sich um die Errichtung der Republik verdient gemacht haben. In ihrer Mitte Victor Adler, zu seiner Linken (vom Betrachter aus gesehen) Jakob Reumann, zu seiner Rechten Ferdinand Hanusch. Alle drei zählen zu den bedeutendsten historischen Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts aus österreichischer Sicht.

Ein bewegtes Schicksal hat aber auch das "Denkmal der Republik" selbst. Im November 1928 aus Anlass des zehnten Jahrestags der Ausrufung der Republik feierlich enthüllt, war es in der Folgezeit alljährlich Ort einer eigenen sozialdemokratischen Feierstunde zum Gedenken an den November 1918. 1932 kam es dabei erstmals zu Auseinandersetzungen zwischen Sozialisten und der Staatsgewalt, 1933 wurden etliche Jungsozialisten verhaftet, die trotz polizeilichen Verbots dennoch der Republik gedachten.

Nur drei Monate später wurde das Denkmal im Zuge der Errichtung der Dollfuss-Diktatur sinnfälliger Weise verdeckt, um wenig später überhaupt abgetragen zu werden. Doch allzu sicher schienen sich die Protagonisten des sogenannten Austrofaschismus ihrer Macht selbst nicht zu sein, denn das Denkmal wurde lediglich abgebaut, seine Einzelteile kamen ins Depot. Rund zehn Jahre später, nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, konnte das Denkmal wieder aufgestellt werden und wurde abermals zu einem beliebten Treffpunkt republikanischer Kreise. Jedes Jahr im November erweist ein Kranz der sozialdemokratischen Parlamentsfraktion den Gründervätern der Republik die gebührende Reverenz.

Streng genommen hat Victor Adler die Republik, an deren Wiege er stand, gar nicht mehr erlebt. Er starb genau heute vor 84 Jahren, einen Tag vor Ausrufung derselben. Dennoch steht er, wie Viktor Klima 1997 bemerkte, "mit Recht im Mittelpunkt des Denkmals". Er war ihr maßgeblicher Wegbereiter und trug mit seiner besonnenen Art dazu bei, dass Österreich grobe Turbulenzen wie in anderen Staaten zu jener Zeit erspart blieben.

EIN SOHN AUS GUTEM HAUSE

Victor Adler wurde am 24. Juni 1852 in Prag als Sohn eines reichen jüdischen Geschäftsmannes geboren, der im Zuge der Ausweitung seiner Unternehmungen noch in den 50er Jahren des 19. Jahrhunderts mit seiner Familie in die Reichshaupt- und Residenzstadt Wien übersiedelte, wo er sein Vermögen durch Geldgeschäfte und Realitätenhandel noch einmal beachtlich vergrößern konnte. So besaß er 1867 mehrere Landgüter in allen Teilen der Monarchie und zahlreiche Zinshäuser in Wien. Als "Hausherr" war er somit einer der wenigen Wahlberechtigten in jenem Kurienparlament, welches sein Sohn später so vehement bekämpfen sollte.

Adler senior war denn auch ein klassischer österreichischer Monarchist, dem für die Erziehung seiner Kinder nur die besten Schulen gut genug waren. So trat Victor 1862 in das Schottengymnasium in der Wiener Innenstadt ein, wo er 1870 auch seine Reifeprüfung ablegen sollte.

Während Adler noch die Schulbank drückte, kam es zu einem grundlegenden gesellschaftlichen Wandel. Die Arbeiterschaft, die bereits 1848 erstmals auf ihre Bedürfnisse hingewiesen hatte, begann sich im Gefolge des Ausgleichs von 1867, der auch ein erstes Vereinsrecht zur Ausformung gebracht hatte, zu organisieren. Vor allem zwei Personen standen dabei Pate: der 23jährige Margaretner Andreas Scheu und der 38jährige Pole Hippolyt Tauschinski. Scheu organisierte die Arbeiterschaft durch konkrete Losungen, auf die auch durch Demonstrationen hingewiesen wurde. Schon 1870 landete Scheu daher als Hauptangeklagter eines Hochverratsprozess auf der Anklagebank.

Als die Anführer der jungen Bewegung 1870 vor dem Richter standen, da erhielten sie eine anonyme Spende, die zur ihrer Verteidigung aufgewandt werden sollte. Scheu erfuhr, dass diese von einem reichen Studenten stammte, der ihm helfen wolle. Dessen Name? Natürlich Victor Adler, der auf diese Art sein Eintrittsgeld in die Welt des Sozialismus geleistet hatte.

DEUTSCHNATIONALER STUDENT

Im Oktober 1870 immatrikulierte Victor Adler an der Wiener Universität und inskribierte an der medizinischen Fakultät. Seine beiden Freunde Pernerstorfer und Friedjung entschieden sich für die Geschichtswissenschaft, doch der Zirkel blieb beisammen und machte das (alte) Café Griensteidl zu seinem Hauptquartier. Und wie es sich für stramme Studenten jener Tage gehörte, traten sie auch einer Verbindung bei. Der "Arminia", deren Leitung Georg Schönerer und Ferdinand Kronawetter innehatten, die in jenen Tagen noch als fortschrittlich und demokratisch galten. Wie schon in der Schule wurde Adler - wenn auch mitunter auf subtile Weise - seine jüdische Herkunft vorgehalten, was ihn dem Deutschnationalismus nach und nach entfremdete.

Zudem lernte er im "Griensteidl" einen jungen Lyriker, Siegfried Lipiner, dem späteren Leiter der Parlamentsbibliothek, kennen, der ihn im Hause Braun einführte - wo Adler seine künftige Ehefrau kennenlernen sollte. Adler, der sein Studium 1876 beendet hatte, ehelichte Emma Braun wenig später, und 1879 wurde Friedrich Wolfgang geboren, benannt nach den Dioskuren der deutschen Literatur, Schiller und Goethe. Emmas Bruder Heinrich stand der Sozialdemokratie nahe, und so begann sich auch Adler mehr und mehr in diese Richtung zu bewegen. Verstärkt wurde seine diesbezügliche politische Präferenz durch die Erfahrungen, die Adler als junger Arzt am Wienerberg machte, wo er das ganze Elend der dortigen Ziegelarbeiter kennenlernte. Zunächst aber eröffnete Adler in seinem Wohnhaus eine Praxis, die er 1892 einem jungen Kollegen überlassen sollte, als er, zum Berufspolitiker avanciert, keine Zeit mehr für den Arztberuf hatte. Die Praxis in der Berggasse 19 übernahm niemand anderer als Sigmund Freud.

Adlers Hinwendungsprozess zur Sozialdemokratie war kein abrupter. Zwar begann er ab etwa 1881 regelmäßigen Kontakt zu Größen der deutschen Arbeiterbewegung - mit denen vor allem Braun laufend verkehrte - zu halten, doch erst die Einführung des so genannten "Arierparagraphen" in seiner Verbindung zur Jahreswende 1882/83 veranlasste Adler endgültig, alle Verbindungen zum deutschnationalen Lager abzubrechen.

IN DER SOZIALISTISCHEN BEWEGUNG

Mitte der 80er Jahre des 19. Jahrhunderts entwickelte Adler eine intensive Brieffreundschaft zu zwei Leitfiguren des internationalen Sozialismus, zu Karl Kautsky und zu Friedrich Engels, der nach dem Tode Marxens zum unbestrittenen Führer der sozialistischen Internationale geworden war. Diese beiden bestärkten Adler darin, sich nicht auf Diskussionen im Kaffeehaus zu beschränken, sondern konkret an die Organisierung des Proletariats zu machen. Als sein Vater 1886 starb, gründete Adler mit dem Erbe seine erste Zeitung, die den programmatischen Titel "Gleichheit" erhielt.

Langsam machte die junge Bewegung Fortschritte. Im April 1887 trat sie erstmals mit einer Massenveranstaltung an die Öffentlichkeit, wenig später wurde ein 15köpfiger Ausschuss gewählt, der aus dem losen Zusammenschluss auf Sicht eine Partei formen sollte. Adler übernahm in diesem Gremium den Vorsitz und trachtete danach, die in sich zerstrittenen Fraktionen allmählich mit einander zu versöhnen. Ein Jahr später, vom 30. Dezember 1888 bis zum 1. Januar 1889, konnte der erste Parteitag der so geeinten Sozialdemokratie in Hainfeld abgehalten werden. Jakob Reumann wurde zum zentralen Sekretär gekürt, und Victor Adler war der unbestrittene Sprecher der neuen Partei.

Die konservative Regierung unter Premier Taaffe sah dem Wachstum der Linken mit größter Sorge entgegen und beschloss zu reagieren. Im Juni 1889 wurde die "Gleichheit" behördlich verboten, doch nur drei Wochen später erschien erstmals "Die Arbeiter-Zeitung" als Nachfolgeblatt, das 1895 zur Tageszeitung werden und in dieser Form bis 1991 erscheinen sollte. Und am 1. Mai 1890 zeigte die Sozialdemokratie bei der ersten großen Maifeier - die seitdem ebenfalls eine Tradition geworden ist - ihre bereits beachtliche Stärke. Zwar lernten die führenden Funktionäre der Arbeiterbewegung in jenen Jahren beinahe alle Gefängnisse Österreichs von innen kennen, doch der Aufstieg der Partei war nicht mehr aufzuhalten.

FÜR DAS ALLGEMEINE UND GLEICHE WAHLRECHT

Zentrale Forderung der nächsten Jahre war für die Sozialdemokratie das allgemeine und gleiche Wahlrecht, das in zahllosen Versammlungen, bei Demonstrationen und in Presserzeugnissen immer und immer wieder ventiliert wurde. Ein erster kleiner Erfolg in dieser Hinsicht war 1896 die Schaffung einer fünften Kurie, in der sich die Partei doch gewisse Hoffnungen machen durfte, Kandidaten für das Parlament durchzubringen. Und so trat die Partei 1897 zu den Wahlen an und erzielte vor allem in Böhmen und in Galizien zum Teil beachtliche Erfolge. In Wien jedoch konnte kein Sitz errungen werden, weshalb die führenden Funktionäre der Partei auch weiterhin "außerparlamentarische Opposition" betreiben mussten.

Nach langen Jahren der Stagnation - bei den letzten Wahlen nach dem Kurienwahlrecht hatte die Sozialdemokratie einen Rückschlag erlitten - kam erst 1905 wieder Bewegung in die festgefahrenen Fronten. Die erste Revolution in Russland bedeutete auch für Österreich eine Radikalisierung der Lage, und die Sozialdemokratie setzte nun alles daran, um das allgemeine und gleiche Wahlrecht endlich durchzusetzen. Die großen Demonstrationen vom November 1905 verfehlten den Eindruck auf die Regierenden nicht, die nun endlich nachzugeben begannen. 1906 wurde das neue Wahlrecht beschlossen, 1907 erstmals nach diesem gewählt.

Adler konnte seine politischen Ideen freilich schon 1905 im Parlament vertreten, denn nach acht Jahren im Hohen Haus hatte sein Fraktionskollege Josef Hannich den für die Sozialdemokraten sicheren Wahlkreis Liberec (Reichenberg) für Adler freigemacht, der somit noch nach dem alten Kurienwahlrecht ins Hohe Haus eingezogen war. 1907 siegte er in den allgemeinen Wahlen eindrucksvoll und vertrat weiterhin Reichenberg im Reichsrat. Mit ihm zogen 86 sozialdemokratische Mandatare ins Hohe Haus ein, wodurch Adlers Partei zur stärksten Fraktion im Abgeordnetenhaus wurde.

In den folgenden Jahren prägten kriegerische Ereignisse den parlamentarischen Alltag. Die Annexion Bosniens 1908 und die Balkankriege 1912/13 zwangen die Sozialdemokratie zu einem differenzierten Kurs gegenüber der Monarchie, um deren Reformierung sie bis zur Vertagung des Parlaments im März 1914 so engagiert rang, dass Kritiker sie bereits die "K. u. k. privilegierte Sozialdemokratie" nannten. Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs bedeutete schließlich auch für die Partei Adlers eine Bewährungsprobe der besonderen Art.

IM KRIEG

Wie die meisten sozialdemokratischen Parteien in Europa schloss die österreichische Partei noch im August 1914 einen "Burgfrieden" mit der Regierung und erklärte sich bereit, alle Auffassungsunterschiede bis zum Kriegsende zu vertagen. Erst die enormen Verlustzahlen, beginnende Versorgungsengpässe und eine allgemeine Ernüchterung in der Bevölkerung veranlassten die Partei im April 1915 erstmals, ein wenig auf Distanz zur offiziellen Politik Österreichs zu gehen.

Immerhin war elf Delegierten der in jenem Monat abgehaltenen Parteikonferenz der neue Kurs zu wenig weitgehend. Sie schlossen sich im Kreis "Karl Marx" zusammen und versuchten, die Partei auf Friedenskurs zu bringen. Einer dieser Delegierten war Friedrich Adler, der Sohn des 63jährigen Parteiführers.

DER SOHN ALS ATTENTÄTER

Womit er freilich nicht rechnen konnte, war, dass sein Sohn am 21. Oktober 1916 den Ministerpräsidenten Karl Graf Stürgkh im Hotel Meißl & Schadn erschießen würde. Friedrich Adler, der vergeblich auf einen generellen Kurswechsel der Partei gehofft hatte, sah in seiner Tat eine Art letzte Aufrüttelung der Massen, um sie aus ihrer Apathie heraus zum Widerstand gegen die herrschende Politik zu bringen. Für Victor Adler, ohnehin nicht gerade von privaten Schicksalsschlägen verschont geblieben, bedeutete diese Tat einen weiteren schweren Schock.

Versuchte die Partei sich von Friedrich Adlers Aktion als der "Tat eines Wahnsinnigen" zu distanzieren, so zeigte sich anlässlich seines Prozesses im Mai 1917, wie sehr sich die politische Stimmung im Lande bereits gewandelt hatte. Viele sahen in Adler einen Helden, dem es um die Freiheit des Volkes zu tun gewesen sei, denn inzwischen war am 21. November 1916 Kaiser Franz Joseph gestorben, und die Februarrevolution in Russland hatte gezeigt, dass auch die absolute Macht nicht mehr völlig sicher im Sattel saß. Zudem hatten die Behörden aus dem negativen Echo auf ihre Willkürjustiz im Fall Battisti (er wurde, obwohl immuner Abgeordneter, von einem österreichischen Militärgericht zum Tod verurteilt und gehenkt) gelernt und versuchten nun, Adler mit legalen Mitteln zu verurteilen.

Adler junior aber nutzte die Bühne eines öffentlichen Prozesses zu einer umfassenden Abrechnung mit Regierung und Partei, die seine Sympathien in der Bevölkerung neuerlich anwachsen ließen. Und wenn er auch zum Tod verurteilt wurde, so zögerten die offiziellen Stellen aus Furcht vor den Folgen, dieses Urteil zu bestätigen. Wenig später wurde Adler von Kaiser Karl zu lebenslanger Haft begnadigt.

Im November 1917 kam die Partei zu ihrem ersten ordentlichen Parteitag seit Kriegsbeginn zusammen - und konstatierte einen merkbaren Linksruck. Die Stimmung war allerorten am Gären, und als dann noch während der Verhandlungen des Parteitags aus Russland die Kunde von der sozialistischen Revolution eintraf, war für die Sozialdemokraten der Stab über die Monarchie endgültig gebrochen.

DER ZUSAMMENBRUCH DER MONARCHIE

Streiks, Hungerrevolten und Massendesertionen taten ein übriges, um die Monarchie implodieren zu lassen. Im Sommer 1918 begannen die einzelnen Völker des Habsburgerimperiums, sich aus dem Staatsverband zu verabschieden, und die Versöhnungsappelle des Kaisers verhallten mehr und mehr ungehört. Als Karl Anfang Oktober 1918 die führenden Parlamentarier - darunter auch den bereits schwer kranken Adler - zu sich bat, um ihnen seine Pläne für eine Umgestaltung der Monarchie in einen Bundesstaat zu erläutern, stieß er auf keinerlei positive Resonanz mehr. Adler erklärte schlicht, der Faktor, der den Krieg begonnen habe, habe ihn auch zu beenden, der Slowene Korosec meinte zu den Plänen lapidar: "Zu spät!"

Die Sozialdemokratie, die wie die Monarchie in ihre einzelnen Bestandteile zerfallen war, ging angesichts der sich konstituierenden Nachfolgestaaten der Monarchie nunmehr daran, die künftigen Organe Österreichs in Zusammenarbeit mit den bürgerlichen Parteien zu kreieren. Am 21. Oktober 1918 versammelten sich die Abgeordneten der deutschsprachigen Gebiete der Monarchie im Niederösterreichischen Landhaus, um eine "Provisorische Nationalversammlung" zu bilden. Diese wiederum wählte einen 20köpfigen Vollzugsausschuss, der sich am 30. Oktober 1918 zur provisorischen Regierung, dem "Staatsrat", formierte. Dieses Gremium stand unter der Leitung von Karl Renner, der alsbald Staatskanzler geheißen wurde, und Victor Adler übernahm nun im Alter von 66 Jahren erstmals ein Regierungsamt. Er wurde Außenminister.

LETZTE VORSTELLUNG

Die Berufung Adlers auf diesen Posten fußte auf einem gut kalkulierten Plan. Man hoffte ob Adlers internationaler Reputation bei den Siegermächten auf eine mildere Behandlung. Die Ereignisse überschlugen sich denn auch. Am 1. November 1918 stellten die Österreicher an allen Fronten die Kampfhandlungen ein, zwei Tage später war der Krieg für die Monarchie offiziell zu Ende. In Wien herrschten revolutionäre Zustände á la Russland, allerorten konstituierten sich Arbeiter- und Soldatenräte, und der Staatsrat sandte eine Note an den neuen deutschen Premier, in dem der Wunsch zum "Anschluss" Österreichs an das Deutsche Reich zum Ausdruck gebracht wurde.

Die diesbezügliche Rede vom 9. November 1918 sollte Adlers letzter politischer Akt sein. Am 10. November erlitt er einen Schwächeanfall, der seine Überführung in ein Sanatorium geboten erscheinen ließ. Dort erhielt er eine Morphiumkur, die ihn in einen Dämmerschlaf versetzte, aus dem er nur einmal kurz erwachte - um die Frage zu stellen, ob man ihn bei der Sitzung des Staatsrates entschuldigt habe. Diese war im übrigen anberaumt worden, um die Proklamation zur Ausrufung der Republik zu formulieren.

Und während einsam und verlassen Kaiser Karl an jenem 11. November seine Verzichtserklärung unterzeichnete, die einen Schlussstrich unter die Donaumonarchie setzte, starb in Wien der Einiger der österreichischen Arbeiterbewegung. Am folgenden Tag wurde im Parlament die Republik proklamiert, ein neues Kapitel in der Geschichte Österreichs hatte begonnen.

ERBE

Ganz Österreich - sogar seine vormals erbittertsten politischen Gegner - stimmten in den folgenden Tagen Loblieder auf den verschiedenen Adler an. Der kaiserliche Ministerpräsident Hussarek nannte Adler einen "Mann von echter staatsmännischer Begabung", im Organ der Christlichsozialen hieß es: "An der Bahre dieses Gegners kann die Christlichsoziale Partei, kann die Reichspost in ehrlicher Teilnahme mit achtungsvollem Gruße den Degen senken." Und die "Neue Freie Presse" trauerte um einen "tapferen Kämpfer", um einen "ganzen Mann": "An der Bahre Dr. Victor Adlers dürfen alle Parteiunterschiede schweigen und dem menschlichen Empfinden freien Lauf lassen." Rückblickend urteilte Julius Deutsch, der mit Adler im ersten Kabinett Renner gesessen war, Adlers Autorität hätte "zumindest den Zerfall der ersten großen Koalition 1920 durch sein Vermittlergeschick verhindern können", wäre er nicht zur Unzeit gestorben.

Der Bronzesarg mit den sterblichen Überresten des Parteiführers wurde im Favoritner Arbeiterheim aufgebahrt, wo tausende Arbeiter an der Leiche vorbeidefilierten. Am 15. November fand das Begräbnis statt, das viele Zeitzeugen an jenes von Kaiser Franz Joseph zwei Jahre zuvor erinnerte. Der Trauerzug bewegte sich durch Favoriten bis zum Ende der Gudrunstraße, von wo aus der Weg zum Zentralfriedhof beschritten wurde. Sein Grab fand Adler in der Nähe der Märzgefallenen von 1848, wo auch schon Engelbert Pernerstorfer ruhte. Zehn Jahre nach seinem Tod wurde das Denkmal der Republik enthüllt, überdies ehrte die Stadt Wien den langjährigen Parlamentarier mit der Benennung einer Verkehrsfläche und eines Gemeindebaus in Favoriten.

Bis zum heutigen Tag gilt Victor Adler als Leitfigur der Sozialdemokratie, auf die sich noch jeder seiner Nachfolger mehr oder weniger häufig berief. Innerhalb der SPÖ werden verdiente Funktionäre und langjährige Mitglieder mit der "Victor-Adler-Plakette" geehrt. An seinem Wohnhaus in Wien-Mariahilf ist eine Gedenktafel angebracht. (Schluss)