Parlamentskorrespondenz Nr. 721 vom 02.12.2002

FRANZ XAVER GABELSBERGER UND DIE PARLAMENTSSTENOGRAPHIE

Ein Münchner Beamter schreibt Parlamentsgeschichte

Wien (PK) - Als der Münchner Ministerialsekretär Franz Xaver Gabelsberger am Morgen des 4. Februar 1819 zur Eröffnung der  bayrischen Ständeversammlung eilte, ahnte er wohl kaum, dass er an diesem Tag im allerwörtlichsten Sinne Parlamentsgeschichte schreiben sollte. Politisch war die Ständeversammlung mit ihren adeligen Grundbesitzern und vom Herrscher ernannten Mitgliedern noch eine Institution des Ancien Regime, organisatorisch war der bayrische Landtag aber schon damals up to date. Der ehrgeizige König Max I. Joseph von Bayern nahm das englische Parlament zum Vorbild, richtete zwei Kammern ein und engagierte Stenographen, die die Reden mitschreiben und ein Wortprotokoll anfertigen sollten. Für Franz Xaver Gabelsberger, den im Jahr 1789 geborenen Sohn eines armen Instrumentenbauers, war das die Chance seines Lebens. Dank seiner exzellenten Handschrift war er bereits zum Sekretär der bayrischen Staatskanzlei aufgestiegen. Im Landtag konnte er nun die von ihm erfundene Schnellschrift einsetzen, die er "Redezeichenkunst" nannte. Mit ihren schönen, einprägsamen und leicht lesbaren Schriftzeichen, die sich flüssig verbinden ließen, bestand Gabelsberger die Bewährungsprobe als Stenograph im bayrischen Landtag und legte damit die Grundlagen für die deutsche Parlamentsstenographie.

Im vormärzlichen Österreich mit seinen rückständigen politischen Strukturen brauchte es noch einige Zeit, bis Gabelsbergers Kunst Verbreitung fand. Die Revolution des Jahres 1848, die Anfänge des Parlamentarismus und die endgültige Einrichtung des Reichsrates im Jahr 1860 eröffneten den Anhängern Gabelsbergers aber auch in Wien Betätigungsfelder als Parlaments-, Gerichts- und Pressestenographen. Es ist daher kein Zufall, wenn der Parlamentsbesucher in unmittelbarer Nähe des Hohen Hauses, an der Ecke Reichsratsstraße-Schmerlingplatz, einer Bronzebüste Franz Xaver Gabelsbergers begegnet. "Dem Schöpfer und Meister stenographischer Kunst" lautet die Inschrift im grauen Granitsockel des von Rudolf Schmidt gestalteten Denkmals, das im September 1966 enthüllt wurde.

KLEINE GESCHICHTE DER STENOGRAPHIE

Gabelsberger war nicht der erste Erfinder einer Schrift, die es erlaubt, mit einem Redner "Schritt" zu halten. Schon die alten Griechen benutzten besondere Zeichen, um bei Inschriften oder auf Münzen Platz zu sparen oder schneller schreiben zu können. Sie nannten diese Schriften Brachygraphie (Kurzschrift), Tachygraphie (Schnellschrift) und Stenographie (Engschrift). Das älteste Beispiel einer antiken Kurzschrift ist die Niederschrift der "Erinnerungen an Sokrates" des Athener Historikers Xenophon. Als berühmtester Stenograph der Antike gilt aber Marcus Tullius Tiro, der Sekretär Ciceros. Er ritzte seine "notae Tironianae" mit einem Metall- oder Elfenbeingriffel auf wachsüberzogene Holztafeln. Tiros Schrift und Schreibtechnik erlaubte es römischen Senatoren erstmals im Jahr 63 v. Chr., Reden ihrer Kollegen festzuhalten, wobei sie einander in einem modern anmutenden Turnus-System beim Schreiben abwechselten. Die höhere Schreibkunst (ars notaria) nach Tiro wurde in den römischen Schulen gelehrt und war im Altertum weit verbreitet. Auch Caesar hat sie beherrscht. Die Konzilien der frühen christlichen Kirche wurden ebenso in notae Tironianae protokolliert wie die Predigten des Augustinus. Bald schon hatten die Stenographen auch ihren eigenen Heiligen, Cassian von Imola. Er war "Noten"-Lehrer in Rom und wurde während der Christenverfolgungen unter Diokletian von seinen Schülern erstochen - mit Schreibgriffeln.

In Klöstern und Hofkanzleien stand Tiros Schrift bis ins Mittelalter hoch im Kurs, ehe sie gemeinsam mit dem Latein um 1100 aus den Urkunden verschwand. Vom 12. bis zum 16. Jahrhundert behalfen sich die mittelalterlichen "Geschwindschreiber" mit individuellen Kürzungen der normalen Langschrift. Die Wiederbesinnung auf die Kultur der Antike am Beginn der Neuzeit führte auch zur Entdeckung der Tironischen Noten durch den Humanisten Johannes Trithemius. Dies löste im England des 16. Jahrhunderts die Begründung einer bald weitverzweigten Kurzschriftlinie aus. 1588 erwarb der schottische Landarzt Timothy Bright ein Patent für seine "Kunst, kurz, schnell und geheim zu schreiben". Englische Diplomaten benutzten diese Schrift, um Notizen rasch festzuhalten und vertrauliche Mitteilungen zu machen. Auch die englischen Könige benutzten diese Geheimschrift. Als Vater der modernen englischen Stenographie gilt John Willis mit seiner "Kunst der Stenographie", die er ab 1602 entwickelte. Die Leistungsfähigkeit der englischen Kurzschrift wird deutlich, wenn man bedenkt, dass die schriftliche Überlieferung vieler Dramen William Shakespeares auf Stenographen zurückgeht, die bei Aufführungen im Globe Theatre mitschrieben - nicht nur aus Begeisterung für die Literatur, sondern vor allem, um mit Raubdrucken Geld zu verdienen. Auch die englischen Parlaments- und Pressestenographen des 18. Jahrhunderts verwendeten Willis' "geometrische Kurzschrift", die Wörter durch Stäbe und Beifügungen bezeichnete.

SUPERHIRN MIT STIFT UND BLOCK - FRANZ XAVER GABELSBERGER 

In den deutschen Ländern hinkte die Kurzschriftentwicklung zunächst um Jahrhunderte nach. Erst Ende des 18. Jahrhunderts schufen Friedrich Mosengeil in Deutschland und der österreichische Offizier Johann Kaspar Danzer nahezu gleichzeitig, aber unabhängig voneinander deutsche Varianten der englischen Kurzschrift. Danzer hatte 1786 eine von Samuel Taylor verbesserte Variante des geometrischen Systems in das Deutsche übernommen und seine Kurzschrift an der Theresianischen Militärakademie unterrichtet. Gabelsberger kannte diese Systeme, konnte sich mit ihren "unhandlichen Ecken und Winkeln" aber nicht anfreunden. Er kehrte zu den antiken Wurzeln der Stenographie zurück. "Wer Meister werden will in der Redezeichenkunst, muss zu den Römern in die Schule gehen", sagte Gabelsberger und studierte die "Tironischen Noten". Wie Ciceros Sekretär setzte Gabelsberger nicht auf ein abstraktes Schema von Einzelzeichen, sondern achtete auf die Erfordernisse der Hand und schuf eine flüssig zu schreibende Kurzschrift in Anlehnung an die deutsche Schreibschrift.

Gabelsbergers Erfindung setzte sich rasch durch. 1829 bescheinigte ihm die bayrischen Akademie der Wissenschaften, dass seine Redezeichenkunst "originell und bei hinreichender Kürze geläufiger, zuverlässiger und lesbarer als jede frühere anzusehen ist". 1834 publizierte Gabelsbergers seine 560 Seiten umfassende "Anleitung zur deutschen Redezeichenkunst oder Stenographie". 1840 wurde Gabelsberger Vorstand des Stenographendienstes des Bayrischen Landtages, bildete als Lehrer viele Schüler in seiner Stenographie aus und arbeitete Zeit seines Lebens an der Verbesserung der Redezeichenkunst. Nach seinem Tod im Jahr 1849 - Gabelsberger  erlag auf einer Münchner Straße einem Schlaganfall - würdigte ihn der Bayrische Landtag als einen Mann, "der das Wort zu fixieren verstand, von seltener Bescheidenheit war, nur für das höhere Interesse der Kunst lebte, nur dem Vaterland dienen wollte und nie etwas für sich verlangt hat".

GABELSBERGERS ÖSTERREICHISCHE SCHÜLER

Auch in Österreich verhalf ein Beamter der Stenographie zum Durchbruch: Ignaz Jakob Heger, den Gabelsberger seinen "österreichischen Apostel" nannte, hatte in Olmütz und Wien Philosophie und Jus studiert, nach einer kurzen Verwaltungslaufbahn aber die Stenographie zu seinem Lebensberuf gemacht. Im Jahr 1840 brachte Heger auf einer landwirtschaftlichen Tagung in Brünn Gabelsbergers Stenographie erstmals in Österreich zum Einsatz. In der Folge wirkte er als Stenographielehrer und gründete in Wien eine eigene Schule. Seine große Stunde schlug im Revolutionsjahr 1848. Zunächst hatte Innenminister Franz von Pillersdorf an ein Engagement von Stenographen aus Berlin und nicht an Heger gedacht, als er daranging, einen Stenographendienst für den Konstituierenden Reichstag einzurichten. Ignaz Jakob Heger und seine Gabelsberger-Schüler stellten aber ihre Leistungsfähigkeit bei einer der turbulenten Sitzungen des revolutionären Sicherheitsausschusses, der täglich im Musikvereinssaal tagte, unter Beweis. Heger lieferte ein gutes Protokoll ab und erhielt den Auftrag, mit mindestens sechs Stenographen die Verhandlungen "auf das genaueste" aufnehmen und dafür zu sorgen, "dass das Protokoll spätestens drei Stunden nach den Verhandlungen an die Presse gelangt".

In den mehr als 75 Sitzungen vom 24. Juli bis Ende Oktober - zuletzt im belagerten Wien, in dem unter dem Vorsitz Franz Smolkas permanent tagenden Reichstag - leisteten Heger und seine Mitarbeiter historische Pionierarbeit. Sie mussten viele Widrigkeiten meistern: die schlechte Akustik in der Winterreitschule, chaotische, weil noch unroutiniert geleitete Verhandlungen, unvollständige Rednerlisten und Abgeordnete, die ihren Namen nicht nannten. Auch standen die ersten Parlamentsstenographen Österreichs vor den Herausforderungen eines Vielvölkerparlaments und nahmen sie an. Ignaz Jakob Heger adaptierte Gabelsbergers Stenographie für die wichtigsten slawischen Sprachen und initiierte im Reichstag eine wahrhaft zukunftweisende Praxis: Die Ausführungen nichtdeutscher Abgeordneter wurden in ihrer Muttersprache mitgeschrieben und für das Protokoll ins Deutsche übersetzt. Diesen Standard erreichte der spätere Reichsrat erst nach jahrzehntelangen Streitereien um das Recht der Abgeordneten, auch in ihrer (nichtdeutschen) Muttersprache protokolliert zu werden, viel zu spät, nämlich erst im Jahr 1917.

Im mährischen Kremsier, wohin der Reichstag nach der Eroberung Wiens durch die Truppen Schwarzenbergs verlegt worden war, verlagerte sich die verfassunggebende Arbeit des Reichstages in die Ausschüsse, was Heger und seinen Mitarbeitern eine Atempause und Gelegenheit gab, ihre ersten Erfahrungen beim Protokollieren von Plenardebatten für die Weiterentwicklung der Parlamentsstenographie zu nutzen. Ergebnis war eine Fülle von Kürzeln - die Basis der künftigen "Wiener Schule" der Gabelsberger-Stenographie.

Die gewaltsame Auflösung des Reichstages am 4. März 1849 bedeutete auch das Ende des ersten Stenographenbüros. Hoffnungen auf eine Rückkehr zum Konstitutionalismus erfüllten sich nicht - und Ignaz Jakob Heger, Autor mehrerer Bücher, Professor für Stenographie in deutscher und slawischer Sprache sowie Träger der Goldenen Medaille für Kunst und Wissenschaft starb bald darauf so, wie er den Großteil seines Lebens verbracht hatte - in bitterer Armut.

Hegers Wirken blieb aber nicht fruchtlos: In den fünfziger Jahren entstanden in Wien und in den Landeshauptstädten Stenographenvereinigungen, in denen Gabelsbergers Kunst für den wachsenden Bedarf der Wirtschaft, der Gerichte und der Verwaltung an Stenographen unterrichtet wurde. Der erste ökonomisch erfolgreiche österreichische Stenograph war Leopold Conn, der Gründer des "Zentralvereins der Stenographen des österreichischen Kaiserstaates zu Wien" und Herausgeber der Fachzeitschrift "Österreichische Blätter für Stenographie".

Als das politische Desaster des Neoabsolutismus immer offensichtlicher wurde, suchte Kaiser Franz Joseph am Ende der fünfziger Jahre nach einem geordnetem Übergang zu konstitutionellen Verhältnissen. Erster Schritt war die Einberufung des "Verstärkten Reichsrates" als Vorstufe eines künftigen Parlaments. Dadurch konnten die Wiener Stenographen wieder zu ihrer vornehmsten Disziplin, der Parlamentsstenographie zurückkehren: Leopold Conn richtete einen Stenographendienst ein und führte die amtliche Parlamentsberichterstattung ein, die "Reichsratskorrespondenz" (heute "Parlamentskorrespondenz"), indem er "starke Auszüge" der Sitzungsprotokolle in der "Wiener Zeitung" veröffentlichte.

Als der Reichsrat aufgrund des Februarpatents als Zweikammerparlament eingerichtet wurde und am 1. Mai 1861 die erste Sitzung stattfand, nahmen Conn und seine Mitarbeiter ihre Arbeit als Parlamentsstenographen in aller Form auf. Sie erzielten mit dem Gabelsbergerschen System "Wiener Schule" so glänzende Erfolge, dass die Stenographiehistoriker von einem "Goldenes Zeitalter der Stenographie" sprechen, das in der Auszeichnung Leopold Conns mit dem Ritterkreuz des Franz Josephs-Ordens gipfelte. Rückschläge blieben freilich nicht aus. Als der Reichsrat von Juli 1865 bis Mai 1867 sistiert wurde, waren die Stenographen wiederum brotlos und mussten ihren Unterhalt bei Gerichten und in den Landtagen zu verdienen suchen. Das Stoßgebet der Stenographen soll damals gelautet haben: "Gott erhalte uns die Konstitution".

Anders als in vielen anderen Parlamenten wurden die österreichischen Parlamentsstenographen nicht fest angestellt, sondern stundenweise entlohnt, ohne jede soziale Absicherung. Der Kampf gegen ihren Status als intellektuelle Taglöhner begann in den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts. Die Forderungen lauteten auf feste Anstellung und eine den Qualifikationen entsprechende Entlohnung. In der Regel Akademiker oder Studenten juristischer und philosophischer Studienrichtungen hatten die Parlamentsstenographen gegen die Auffassung anzukämpfen, Stenografieren sei eine minder zu bewertende "mechanische" Tätigkeit. Tatsächlich zeichnen sich Parlamensstenographen damals wie heute durch die Fähigkeit aus, die gesprochene Sprache der aufgenommenen Reden in eine druckfähige Form zu bringen. Über hervorragende stenographische Fertigkeiten hinaus setzt dies umfassende politische, wirtschaftliche sowie rechtliche Kenntnisse und eine sehr gute Allgemeinbindung voraus. Schon Franz Xaver Gabelsberger hatte die komplexen intellektuellen Anforderungen herausgestellt, denen die Parlamentsstenographie zu entsprechen habe und ihr deshalb den Status einer akademischen Disziplin zugesprochen. Unterstützt von aufgeschlossenen Abgeordneten und dem legendären Reichsratspräsidenten Franz Smolka gelang es den österreichischen Parlamentsstenographen und den Redakteuren der Parlamentskorrespondenz schließlich in den neunziger Jahren, in den Beamtenstand übernommen zu werden. Die Gleichstellung mit den akademisch eingestuften Parlamentsbediensteten erreichten die Enkel Gabelsbergers in Österreich erst knapp vor dem Ersten Weltkrieg.

Gabelsbergers Redezeichenkunst war bis weit in das 20. Jahrhundert die Basis der Parlamentsstenographie in Österreich. Der Schulstreit zwischen Gabelsberger-Anhängern und Schülern anderer Systeme, vor allem jenen Wilhelm Stolzes und Ferdinand Schreys, mündete nach jahrzehntelangen Einigungsbemühungen im Jahr 1924 in der "Deutschen Einheitskurzschrift", die sich in der Folge rasch durchsetzte.

Die technischen Errungenschaften des 20. Jahrhunderts - vom Tonband bis zur digitalen Sprachaufzeichnung - haben den Beruf der ParlamentsstenografInnen zweifellos verändert. Ihre zentrale Aufgabe, die Verhandlungen wörtlich zu dokumentieren und aus gesprochener Sprache einen authentischen Text zu formulieren, ist aber immer noch dieselbe wie zu Zeiten Franz Xaver Gabelsbergers. Die Kunst seiner "Redezeichen", von denen viele in die Einheitskurzschrift übernommen wurden, spielt dabei immer noch eine große Rolle: Beim Festhalten von Zwischenrufen und anderen Vorgängen im Sitzungssaal, die kein Tonträger wiedergeben kann - und nicht zuletzt bei der Parlamentsberichterstattung, für die das mühsame Abhören stundenlanger Tonaufzeichnungen nicht in Frage kommt. (Schluss)