Parlamentskorrespondenz Nr. 779 vom 24.10.2003

REGIERUNG LEGT NATIONALRAT VERTRAG ZUR EU-ERWEITERUNG VOR

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Wien (PK) - Die Regierung hat dem Nationalrat nunmehr den Vertrag zwischen den 15 Mitgliedstaaten der Europäischen Union auf der einen Seite und Tschechien, Estland, Zypern, Lettland, Litauen, Ungarn, Malta, Polen, Slowenien und der Slowakei auf der anderen Seite über den Beitritt dieser 10 Länder zur Europäischen Union zur Ratifizierung vorgelegt (230 d.B.). Durch diesen Vertrag wird mit dem Tag des Beitritts, dem 1. Mai 2004, das gesamte EU-Recht für die neuen EU-Mitglieder verbindlich, wobei allerdings die dem Beitrittsvertrag angeschlossenen Beitrittsakte - zeitlich befristete - Übergangsregelungen enthalten. In diesen Beitrittsakten sind auch die weiteren Beitrittsbedingungen, etwa die Grundsätze des Beitritts und der Umfang der Vertretung der neuen Mitgliedstaaten in den Organen der Europäischen Union, verankert. Insgesamt umfassen der Beitrittsvertrag, die Beitrittsakte und die Schlussakte in der deutschen Version 4.872 Seiten.

Was die Übergangsregelungen anbelangt, sind für Österreich vor allem jene Bestimmungen von Bedeutung, die die Freizügigkeit der Arbeitnehmer und die Dienstleistungsfreiheit betreffen, des weiteren Übergangsfristen hinsichtlich der Besteuerung von Zigaretten, hinsichtlich des Erwerbs land- und forstwirtschaftlicher Betriebe und des Erwerbs von Zweitwohnsitzen in den neuen Mitgliedstaaten, hinsichtlich der Zulassung von Verkehrsunternehmen zum Güterkraftverkehr innerhalb eines Mitgliedstaates (Kabotage) und hinsichtlich einer Reihe von Umweltschutznormen.

MAXIMAL SIEBEN JAHRE BESCHRÄNKTER ZUGANG ZUM ARBEITSMARKT

So kann Österreich - wie auch jedes andere jetzige EU-Mitgliedsland - zur Sicherung des Gleichgewichts auf dem Arbeitsmarkt den Arbeitsmarktzugang von Bürgern der acht neuen mittel- und osteuropäischen EU-Mitglieder zunächst für einen Zeitraum von zwei Jahren und anschließend um drei weitere Jahre beschränken. Im Falle schwerwiegender Störungen des Arbeitsmarktes oder einer entsprechenden Gefahr kann diese Beschränkung in weiterer Folge um nochmals zwei Jahre - also insgesamt auf sieben Jahre - ausgedehnt werden. Eine Reziprozitätsklausel erlaubt dabei einem neuen EU-Mitgliedstaat, dessen Bürger in einem der jetzigen EU-Mitgliedstaaten nur eingeschränkten Zugang zum Arbeitsmarkt haben, dieselben Regelungen gegenüber den Staatsangehörigen dieses Mitgliedstaates zu erlassen. Ähnliche Übergangsbestimmungen gelten für die Erbringung gewisser grenzüberschreitender Dienstleistungen - etwa für das Baugewerbe, gärtnerische Dienstleistungen, die Reinigung von Gebäuden, die Hauskrankenpflege und das Sozialwesen -, allerdings beschränkt auf Österreich und Deutschland. Gegenüber Malta und Zypern gelten die Übergangsmaßnahmen im Bereich der Arbeitnehmerfreizügigkeit und der Dienstleistungsfreiheit nicht.

Ungarn, Tschechien, Polen, der Slowakei, Litauen, Estland, Lettland und Zypern wurden auf dem Gebiet des freien Kapitalverkehrs Übergangsregelungen für den Erwerb von Zweitwohnsitzen (auf fünf Jahre befristet) und/oder für den Erwerb von land- und forstwirtschaftlichen Flächen gewährt. Für letztere gilt in der Regel eine Übergangsfrist von sieben Jahren, die, für den Fall, dass nach diesen sieben Jahren der Markt für landwirtschaftliche Flächen im jeweiligen Mitgliedsstaat ernsthaft gestört ist oder solche ernsthaften Störungen drohen, von der EU-Kommission um weitere drei Jahre verlängert werden kann. Für Polen gibt es in diesem Zusammenhang Sonderregelungen. Die befristeten Erwerbsbeschränkungen dürfen jedoch keinesfalls strikter sein als sie es zum Zeitpunkt der Unterzeichnung des Beitrittsvertrages gewesen sind. Eine Reziprozitätsklausel gibt es hierbei nicht.

VORERST VORAUSSICHTLICH KEINE FREIE EINFUHR VON ZIGARETTEN

Im Bereich des Steuerrechts wurden Estland, Lettland, Litauen, Ungarn, Polen, Slowenien, Tschechien und der Slowakei mehrjährige Übergangsfristen - zum Teil bis Ende 2007, zum Teil bis Ende 2008 bzw. 2009 - zur schrittweisen Anpassung der Tabaksteuer, insbesondere für Zigaretten, an das Gemeinschaftssteuerrecht eingeräumt. Dadurch sollen abrupte, wirtschaftlich und politisch schwer zu bewältigende Preisanstiege vermieden werden. Um Markt verzerrende Handelsströme hintanzuhalten, sind im Gegenzug die jetzigen EU-Mitgliedstaaten für die jeweilige Dauer der Inanspruchnahme der Übergangsfrist ermächtigt, im privaten Reiseverkehr die derzeitigen Einfuhrbeschränkungen für Tabakwaren beizubehalten.

Übergangsmaßnahmen gibt es für die neuen EU-Mitglieder auch in Bezug auf EU-weit geltende Umweltschutznormen. Die Übergangsregelungen betreffen etwa die Modernisierung von Tankstellen zur Emissionsreduktion von flüchtigen Kohlenwasserstoffen, die Verringerung des Schwefelgehalts bestimmter Kraft- und Brennstoffe, die Reduktion von Verpackungsabfällen und das Erreichen von bestimmten Zielen der Wiederverwertung, Vorschriften für Abfalldeponien, die flächendeckende Errichtung von Kanalisations- sowie Kläranlagen, Qualitätsparameter für Trinkwasser und die Bekämpfung der industriellen Umweltbelastung.

AGRARBEREICH: SCHRITTWEISE STEIGERUNG DER DIREKTZAHLUNGEN

Gleichfalls Bestandteil der Übergangsregelungen sind die Vereinbarungen, die im Agrarbereich mit den neuen EU-Mitgliedstaaten getroffen wurden. Umfasst davon sind etwa Milch- und Zuckerquoten, Prämienhöchstgrenzen, Garantiehöchstschwellen, Referenzflächen und Referenzerträge, aber auch Tierschutz-, Pflanzenschutz- und Hygienevorschriften. Die Direktzahlungen, ein wesentliches Element der Gemeinsamen Agrarpolitik der EU, werden für die neuen Mitgliedstaaten schrittweise durch ein so genanntes "Phasing-in"-Modell eingeführt. Demzufolge erhalten die neuen Mitgliedstaaten in den Jahren 2004 bis 2007 25 %, 30 %, 35 % bzw. 40 % und ab 2008 jährlich je weitere 10 % der Direktzahlungen der derzeitigen Mitgliedstaaten, bis im Jahr 2013 100 % erreicht sind. Eine Aufstockung der EU-Agrarförderungen durch nationale Direktzahlungen ist bis zu einem Ausmaß von 30 % möglich, allerdings darf die Kombination von EU-Mitteln und "top-ups" das Niveau der EU-Direktzahlungen für die jetzigen EU-Mitgliedstaaten nicht übersteigen.

Der freie Warenverkehr ist, mit Ausnahme von Übergangsfristen bei der Marktzulassung von Human- und Tierarzneimitteln für Polen, Zypern, Litauen, Malta und Slowenien, nicht von den Übergangsbestimmungen betroffen.

ÖSTERREICH: 18 STATT BISHER 21 ABGEORDNETE IM EUROPÄISCHEN PARLAMENT

Für Österreich wirkt sich die EU-Erweiterung weiters dadurch aus, dass Österreich im Europäischen Parlament künftig nur noch mit 18 - anstelle bisher 21 - Abgeordneten vertreten sein wird, insgesamt umfasst das Europäische Parlament künftig 732 Abgeordnete. Auch von der neuen Stimmgewichtung im Rat, dem Gremium der jeweils zuständigen Regierungsmitglieder, ist Österreich betroffen, was bei Beschlüssen mit qualifizierter Mehrheit von Bedeutung ist: Österreich kommen ab 1. November 2004 10 von 321 Stimmen (bisher 4 von 87) zu.

Teil der Schlussakte zum Beitrittsvertrag ist die gemeinsame Erklärung von Tschechien und Österreich in Bezug auf die bilaterale Vereinbarung über das Atomkraftwerk Temelin - wie im Übrigen zahlreiche andere gemeinsame und einseitige Erklärungen der bestehenden und der neuen EU-Staaten. Diese Schlussakte sind zwar formalrechtlich nicht Bestandteil des Beitrittsvertrags, den Erklärungen kommt aber durch die formale Übereinkunft zumindest politische Bedeutung zu.

KOSTEN DER EU-ERWEITERUNG

Was die Kosten betrifft, leistet Österreich laut Erläuterungen im Jahr 2004 einen Beitrag von 110 Mill. € zur Finanzierung der EU-Erweiterung, im Jahr 2005 sind es 205 Mill. €, im Jahr 2006 239 Mill. €. Insgesamt werden die Mehrausgaben im EU-Haushalt für den Zeitraum 2004 bis 2006 mit 40,85 Mrd. € angegeben.

Damit der Vertrag zwischen den bestehenden und den neuen EU-Mitgliedern wie vorgesehen mit 1. Mai 2004 in Kraft treten kann, müssen die Ratifikationsurkunden sämtlicher Vertragsstaaten bis 30. April bei der italienischen Regierung hinterlegt werden. Sollten dies einer oder mehrere der neuen Mitgliedstaaten nicht bis zu diesem Datum schaffen, die übrigen neuen Mitgliedstaaten diese Frist jedoch einhalten können, tritt der Vertrag zur EU-Erweiterung dennoch in Kraft.

In Österreich ist die verfassungsrechtliche Grundlage für die Ratifikation des vorliegenden Beitrittsvertrages durch ein entsprechendes Bundesverfassungsgesetz gegeben, dem der Nationalrat und der Bundesrat bereits vor dem Sommer dieses Jahres einhellig zugestimmt haben.
 

BUNDESRAT WILL DIFFERENZIERTES EINSPRUCHSRECHT

Ein Gesetzesantrag des Bundesrates zielt auf eine Adaptierung des Einspruchsrechtes des Bundesrates gegen Gesetzesbeschlüsse des Nationalrates ab. Dem Bundesrat soll es in Zukunft ermöglicht werden, gegen einzelne in Sammelgesetzen zusammengefasste Gesetze bzw. Gesetzesänderungen Einspruch zu erheben - die vom Einspruch nicht umfassten Teile eines Sammelgesetzes könnten dann in Kraft treten. Derzeit kann der Bundesrat, wen er ein einzelnes Gesetz oder eine einzelne Gesetzesänderung in einem Sammelgesetz ablehnt, nur pauschal gegen das gesamte Sammelgesetz Einspruch erheben. (232 d.B.) (Schluss)