Parlamentskorrespondenz Nr. 199 vom 18.03.2004

THEMA SEKTEN IM FAMILIENAUSSCHUSS

Experte Müller sieht den Lebenshilfemarkt rasch wachsen

Wien (PK) - Während alte Gruppen wie die Zeugen Jehovas ihre Position halten und neue Gruppen wie Scientology und die Mun-Sekte ihre Angebote adaptieren und teilweise mit neuen Namen in Erscheinung treten, sei auf dem religiösen - und Lebenshilfemarkt, bei Esoterik, ostasiatischen Lehren und Gurus ein Boom zu verzeichnen, erfuhren die Mitglieder des Familienausschusses, als sie in ihrer heutigen Sitzung mit Bundesminister Herbert Haupt und dem Leiter der Bundesstelle für Sektenfragen diskutierten. Grundlage der Diskussion im Familienausschuss bildete der fünfte Bericht der Bundesstelle für Sektenfragen. 1.734 Personen haben sich im Jahr 2002 mit ihren Anliegen an die Sektenstelle gewandt, wobei in 631 Fällen über die Vermittlung von Sachinformation hinaus eine intensive psychosoziale Beratung erfolgte.

Insgesamt bezogen sich die Anfragen an die Sektenstelle auf 254 verschiedene Gruppierungen, darunter auch staatlich eingetragene religiöse Bekenntnisgemeinschaften. Das bei weitem größte Interesse der Anfragesteller galt dabei 2002 dem Satanismus, gefolgt von Scientology, den Zeugen Jehovas und der Holosophischen Gesellschaft. Dahinter rangieren Sahaja Yoga und der Bereich Esoterik - letzterer laut Bericht ein unüberschaubares Sammelbecken von Organisationen, kleinen Gruppierungen und EinzelanbieterInnen. Vor allem die so genannte Gebrauchsesoterik scheine in weiten Teilen der Bevölkerung bereits gut verankert zu sein, heißt es von Seiten der Sektenstelle.

DER LEBENSHILFEMARKT BOOMT

Der Leiter der Bundesstelle für Sektenfragen, German Müller, fasste einleitend die Hauptpunkte des Berichtes zusammen, indem er auf die große Zahl von Anfragen an die Bundesstelle sowie auf eine Tendenz zur Zersplitterung des religiösen Marktes durch das Auftreten immer neuer Gruppen aufmerksam machte. Die Szene sei dadurch gekennzeichnet, dass alte Gruppierungen wie die Zeugen Jehovas ihrer Position halten, neue Bewegungen wie die Scientology ihr Angebot an die veränderte Nachfrage anpassen und die Mun-Bewegung unter neuem Namen und mit neuen Themen (Friede, interreligiöser Dialog) in Erscheinung treten. Große Bedeutung habe ein Bereich, den Müller als "Lebenshilfemarkt" charakterisierte. Hier treten fernöstliche Anbieter, Guru-Bewegungen, christliche Fundamentalisten und Formen von Schamanismus auf, die, organisiert in kleinen Gruppen, oft dem Bedürfnis nach Geistheilung oder Leistungssteigerung nachkommen. Der Satanismus zerfalle in zwei unterschiedliche Bereiche, den "Ordenssatanismus" kleiner, geheimer Gruppen Erwachsener mit fester Ideologie und den sichtbaren Jugendsatanismus, der einen Protestaspekt gegen Eltern und Lehrer und einen Bedürfnisaspekt zeige, er spreche Menschen an, die wenig Selbstwertgefühl haben und zu wenig soziale Anerkennung bekommen.

German Müller berichtete von dem Trend, dass sich Sektenaussteiger vermehrt an die Bundesstelle wenden, was positiv sei, da diese Hilfe und Beratung für ihren Weg zurück in die Gesellschaft bekommen und zugleich die Bundesstelle Erkenntnisse über die verschiedenen Gruppen gewinnen könne. Dazu gehöre die Beobachtung, dass das Innenbild der Gruppen oft stark von dem Bild differiere, das sie nach außen hin inszeniere.

Ein besonderes aktuelles Problem seien Doppelqualifizierungen, also Ärzte, Pädagogen und Psychologen, die zugleich als Mitglieder bestimmter Gruppen arbeiten, was etwa für Patienten deshalb zum Problem werden könne, weil sie nicht wissen, ob der Arzt in einer bestimmten Situation als Mediziner oder als Geistheiler wirke.

Manche Gruppen, etwa die Scientologen, treten auch mit besonderen Angeboten für Kinder und Jugendliche in Erscheinung, sagte Müller.

Die Arbeit der Bundesstelle gehe mit den verschiedenen Gruppierungen um wie mit anderen Bürgern auch. "Wir bemühen uns, sie ernst zu nehmen, stellen aber klar, dass wir uns nicht vereinnahmen lassen", sagte Müller und fügte hinzu, dass seine Stelle berät und hilft, aber keine Partei ergreife. Sie gehe bei ihrer Arbeit von einem bedürfnisorientierten Ansatz aus. Die Gruppen bieten den Menschen scheinbar einfache Lösungen an, etwa nach dem Muster: Du musst nicht denken, nur fühlen. Die Menschen geben dafür viel, weil sie eine Lösung ihrer Probleme erwarten. Hier setze die Bundesstelle an, sie gebe Informationen, sei es für Betroffene, Fachstellen, Angehörige, Institutionen oder für Schüler, Studenten und Lehrer, die über das Thema Arbeiten verfassen.

SCHUTZ VON KINDERN UND JUGENDLICHEN IM VORDERGRUND 

Bundesminister Herbert Haupt lobte die Arbeit der Bundesstelle für Sektenfragen, der es gelinge, eine ausgewogene Balance zwischen der Autonomie der Menschen und ihrer Religionsfreiheit und der Aufgabe des Staates zu wahren, bei Gesetzesverletzung oder Gewaltanwendung zu intervenieren. Im Mittelpunkt stehen Beratung und Information. Angesichts einer sich ausdehnenden und zersplitternden Szene sei wichtig, kritisches Bewusstsein zu schaffen und öffentliche Diskussionen anzuregen, ohne in die Meinungs- und Religionsfreiheit einzugreifen.

Ein besonderes Anliegen des Bundesministers ist es, Menschen vor finanziellen Verstrickungen sowie vor Eingriffen in ihre Privatsphäre zu schützen. Im Vordergrund stehe der Schutz von Kindern und Jugendlichen, die besonders gefährdet seien, Gruppen oder Einzelpersonen unkritisch zu folgen. Daher widme sich die Beratungsstelle Schülern, die, sei es als Betroffene, sei es als Interessierte, von der Sektenstelle informiert werden. Auf diese Weise entstehen oft beeindruckende Schülerarbeiten zur Sektenproblematik, sagte Bundesminister Haupt.

LOB DER ABGEORDNETEN FÜR DIE ARBEIT DER BUNDESSTELLE FÜR SEKTENFRAGEN

Abgeordnete Andrea Kuntzl (S) schloss sich dem Dank und dem Lob für die Arbeit der Bundesstelle an, sprach aber zugleich ihr Bedauern darüber aus, dass dieser wichtige Bericht nicht auch im Plenum debattiert werde. German Müller leiste viel auf seinem Gebiet, es stelle sich daher die Kapazitätsfrage. Als zusätzliche Aufgaben nannte Kuntzl etwa ein Screening der Sektenszene und Präventionsmaßnahmen, um zu verhindern, dass Jugendliche unwillentlich oder unwissentlich in eine Sekte oder sektenähnliche Gruppierung geraten.

Abgeordneter Silvia Fuhrmann (V) fiel auf, dass sich mehr Frauen als Männer an die Bundesstelle wende, woran sie die Frage knüpfte, ob mehr Frauen als Männer von Sektenproblemen betroffen werden. Weitere Fragen galten dem Informationsangebot an Schulen und der Rolle der Medien.

Abgeordnete Barbara Rosenkranz (F) betonte die Notwendigkeit, die Grundfreiheiten zu wahren. Die Menschen haben das Recht, sich zu Überzeugungen zu bekennen, und seien sie für andere noch so eigenartig. Die Arbeit der Bundesstelle sei zu loben, weil es ihr nicht um Glaubensfragen und nicht um inhaltliche Fragen, sondern um den Umgang mit Menschen gehe. Rosenkranz konzentrierte sich auf Gefahren für Kinder und Jugendliche, die davor geschützt werden müssen, in Umwelten aufzuwachsen, die schädlich für ihre Entwicklung sind. In diesem Zusammenhang gab die Abgeordnete ihrer Überzeugung Ausdruck, dass funktionierende Familienstrukturen die Anfälligkeit für Sekten vermindern.

Abgeordnete Sabine Mandak (G) lobte das Fingerspitzengefühl Müllers, das es ihm erlaube, über die Szene zu informieren und zugleich den Kontakt zu den einzelnen Gruppen zu halten. Mandak registrierte eine gewisse Ostlastigkeit in der Arbeit der Bundesstelle und hielt es für problematisch, dass im Westen des Bundesgebietes oft nur kirchliche Beratungsstellen zur Verfügung stehen, an die sich Menschen, die der Kirche distanziert gegenüber stehen, auch dann nicht gerne wenden, wenn diese, wie Mandak betonte, hervorragend arbeiten.

Ausschussobfrau Ridi Steibl (V) erkundigte sich nach Zusammenhängen mit der Drogenproblematik und nach der Kooperation der Bundesstelle mit dem Innenministerium sowie nach der internationalen Zusammenarbeit.

German Müller beantwortete die Fragen, indem er darauf hinwies, dass die Bundesstelle an ihrer Kapazitätsgrenze arbeite. Einem Screening der religiösen Landschaft gegenüber zeigte sich der Leiter der Bundesstelle für Sektenfragen aus pragmatischen Gründen skeptisch, der Markt verändere sich sehr rasch, seine Stelle müsse sich dauernd neu orientieren - der Versuch eines Screenings wäre ein Fass ohne Boden.

Die Prävention sollte am besten schon vor der Geburt der Kinder beginnen. Kinder brauchen kritisches Bewusstsein und Autonomie, wofür Müller eine gute Gesprächs- und Konfliktkultur in den Familien und von einem bestimmten Alter an auch Information über die verschiedenen Gruppen als Voraussetzung nannte.

Eine unterschiedliche Betroffenheit von Männern und Frauen konnte Müller generell nicht bestätigen, auch wenn sich zeige, dass der Satanismus eher Buben und Männer, Gothic eher Mädchen und Frauen anspreche.

Die Bundesstelle für Sektenfrage kooperiere mit dem Bildungsministerium und biete Informationen in den Schulen an, wird aber jeweils nur dann aktiv, wenn es verlangt wird oder erforderlich ist.

Abgeordnetem Hannes Missethon (V) erklärte Müller den Charakter von "Neue Akropolis", einer straff organisierten Gruppe, die vor allem in der Steiermark tätig sei. 

APPELL AN DIE MEDIEN: WENIGER SEX AND CRIME - MEHR AUFKLÄRUNG

Deutliche Aussagen richtete der Leiter der Bundesstelle für Sektenfragen an die Adresse der Medien, denen er einerseits Verharmlosung und andererseits undifferenzierte Darstellungen vorhielt. Er vermisste das aufklärerische Interesse der Medien und warf ihnen vor, vielfach auf Schwarz-Weiß-Geschichten zu setzen. Betroffene würden dadurch in ihrer Auffassung bestätigt, dass die Welt außerhalb der Grenzen ihrer Gruppe böse sei.

Die Frage nach einem Boom von Sekten und sektenähnlichen Gruppierungen beantwortete German Müller, indem er zeigte, dass manches gesellschaftsfähig geworden sei. Der am stärksten wachsende Bereich sei der Lebenshilfemarkt. Gesundheitsthermen werben mit esoterischen Angeboten, und während die institutionalisierte Religiosität abnehme, breiten sich neue Formen von Religiosität mit einer bemerkenswerten Beliebigkeit und individuellen Kombinierbarkeit der Inhalte aus, die Menschen klaubten sich Glaubensinhalte aus dem Angebot "wie Rosinen aus einem Kuchen".

Weiters informierte German Müller über das bestehende Beratungsnetz für Menschen, die Information oder Hilfe im Zusammenhang mit Sektenfragen in Anspruch nehmen wollen. Die Bundesstelle arbeite mit kirchlichen und staatlichen Stellen, insbesondere auch mit den Familienberatungsstellen zusammen. Internationale Kontakte bestehen mit Sektenberatungsstellen in Deutschland, der Schweiz, Belgien und Frankreich, die Bundesstelle bemühe sich auch um Kontakte zu den USA.

Zur Frage nach der Drogenproblematik ließ German Müller mit der Feststellung aufhorchen, dass es sich bei der Drogen- und der Sektenproblematik in mancher Weise um verwandte Phänomene handle, er sprach von stoffbezogenen und nicht stoffbezogenen Suchtformen.

In einer weiteren Beratungsrunde wandten sich die Abgeordneten Dietmar Keck (S), Christine Marek (V), Barbara Riener (V) Gabriele Binder (S), Hans Langreiter (V), Anna Höllerer (V), Gabriele Heinisch-Hosek (S), Notburga Schiefermair(V) mit Detailfragen an den Leiter der Bundesstelle für Sektenfragen. 

Hinsichtlich der Forderung nach dem Sperren von Suizidforen im Internet machte Müller auf rechtliche Probleme aufmerksam, gab einen detaillierteren Einblick in die Beratungs- und Unterstützungstätigkeit der Stelle für Betroffene und teilte den Abgeordneten die erstaunliche Feststellung mit, dass die Gefahr, von einer Sekte oder sektenähnlichen Gruppe abhängig zu werden, Menschen aller Bildungsschichten in gleichem Ausmaß treffe. Generell könne man sagen, dass Menschen in Umbruchsphasen ihres Lebens sowie im Zusammenhang mit der sozialen Isolation, die viele alte Menschen treffe, besonders anfällig für Sekten werden.

Bundesminister Herbert Haupt sagte der Bundesstelle für Sektenfragen eine ausreichende budgetäre Dotierung zu. Zu der speziellen Frage von Firmen, die unter dem Titel "Corporate Identity" Druck auf ihre Mitarbeiter ausüben, sah der Minister die Notwendigkeit, Vorkehrungen zu treffen und Arbeitnehmer zu informieren.

Besorgt zeigte sich der Minister über Nachrichten, dass Eltern oft die Letzten seien, die erfahren, dass ihre Kinder in eine Gruppe geraten sind, die deren Entwicklung nicht gut tue. Im Gesundheitsbereich werde es stark darauf ankommen, die klassische Partnerschaft zwischen Patient und Arzt wieder zu stärken und sich  ausreichend Zeit für Patientengespräche zu nehmen, um bestimmten Gruppen wieder das Wasser abzugraben. (Forts.)