Parlamentskorrespondenz Nr. 313 vom 05.05.2004

KHOL: FAKTISCHE UNGLEICHBEHANDLUNG DER ROMA IST NOCH NICHT BEENDET

Wortlaut der Rede des Nationalratspräsidenten bei Gedenkveranstaltung

Wien (PK) - Der Präsident des Nationalrats Andreas Khol eröffnete heute die gemeinsame Veranstaltung von Nationalrat und Bundesrat "Gegen Gewalt und Rassismus im Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus". Wir bringen seine Rede im Wortlaut:

"Sehr verehrte Damen und Herren! Seit 1998 ist der 5. Mai für Österreich ein Tag besonderen Nachdenkens. In den Entschließungen von National- und Bundesrat vom November 1997 heißt es: 'Der 5. Mai - der Tag der Befreiung des Konzentrationslagers Mauthausen – möge in Österreich im Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus als Gedenktag gegen Gewalt und Rassismus begangen werden.' Heute wollen wir in diesem Auftrag jener Sinti und Roma gedenken, die Opfer des Nationalsozialismus wurden.

Die unfassbare Grausamkeit des nationalsozialistischen Rassenwahns, verbunden mit der mörderischen Präzision einer exakt arbeitenden Bürokratie des Todes, kostete auch hunderttausend so verächtlich genannten 'Zigeunern' das Leben. Sicher, die Roma und Sinti waren schon viel früher verfolgt, ausgestoßen, gequält und getötet worden. Doch nichts lässt sich mit dem anhaltenden, geplanten, über Jahre durchgezogenen Massenmord der Nationalsozialisten vergleichen. Sofort mit der sogenannten Machtübernahme setzte die systematische Diskriminierung und Verfolgung der Sinti und Roma ein. Waren die Nürnberger Rassengesetze formal gegen die Juden gerichtet, so wurden sie auch bald zur Diskriminierung der Roma und Sinti verwendet. Ab 1936 kam es in mehreren Wellen zu Einweisungen von Roma und Sinti in Konzentrationslager, vielfach als 'Asoziale'. Der so genannte 'Zigeunergrunderlass' von Heinrich Himmler vom 8. Dezember 1938 brachte die rassenbiologische Begründung der Verfolgung. Der 'Auschwitz-Erlass' Himmlers vom 16. Dezember 1942 löste dann die Politik der Internierung und Deportation durch eine systematische Vernichtungspolitik ab.

Auch in Teilen unseres Landes setzte die Diskriminierung und Verfolgung bereits sofort nach dem 'Anschluss' ein. Entziehung des Wahlrechts, Verbot des Schulbesuchs und des öffentlichen Musizierens, Zwangsarbeitsverpflichtung, Verhaftungen. Die erste große Verhaftungswelle im Burgenland fand im Juni 1939 statt. 2000 arbeitsfähige Männer und 1000 Frauen wurden zunächst in Dachau, dann in Buchenwald ihrer Freiheit beraubt, verhaftet. Im November 1940 wurde das Anhalte- und Zwangsarbeitslager Lackenbach zur Internierung vor allem der burgenländischen Roma errichtet. Lackenbach war ein KZ, ein Konzentrationslager wie alle anderen schrecklichen Lager auch. Zwangsarbeit unter härtesten Bedingungen, Prügelstrafe, stundenlanges Appellstehen, Essensentzug, mangelnde medizinische Betreuung. Dann kam es zu den Transporten in die Vernichtungslager. Über 2500 österreichische Roma und Sinti wurden nach Auschwitz deportiert, wo sie im sogenannten 'Zigeunerfamilienlager' Birkenau auf die Vernichtung warteten. Der Großteil musste sterben.

Zu den grausamsten Taten zählten die medizinischen Versuche und Zwangsmaßnahmen, denen auch Roma und Sinti unterworfen wurden: Fleckfieberversuche in Buchenwald, Zwillingsversuche in Auschwitz, Zwangssterilisierungen in Auschwitz oder Ravensbrück.

Die Opferzahlen sind nicht einmal genau zu erheben – jüngste Schätzungen gehen dahin, dass von den rund 11.000 vor 1938 in Österreich lebenden Roma und Sinti nur 1500 bis 2000 die nationalsozialistische Vernichtungspolitik überlebten. Die Gesamtzahl der von den Nationalsozialisten ermordeten Roma und Sinti wird auf 500.000 geschätzt – die Hälfte der 1939 in Europa lebenden Roma und Sinti.

Und das obwohl die Roma und Sinti eine lange europäische und daher eine lange österreichische Geschichte haben. Schon ab dem 5. Jahrhundert kam es zu Wanderungen aus Indien nach Europa. Nach Österreich kamen die Roma ab dem späten 15. Jahrhundert aus Zentralungarn. Die erste urkundliche Erwähnung der Roma in den westungarischen Komitaten geht bis ins Jahr 1389 zurück. Im Jahr 1674 stellte Graf Christof Batthyany einer Gruppe von Roma unter der Führung ihres Woiwoden Sarközy einen Schutzbrief für seine Besitzungen im Südburgenland aus. Das ist das erste Dokument über die dauerhafte Ansiedlung einer Romagruppe auf dem Gebiet unserer heutigen Republik. Die Lovara ('Pferdehändler') waren in unser Land in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vom Balkan eingewandert. Die Sinti kamen aus den böhmischen Ländern, weitere Gruppen kamen nach 1960 im Zuge der Gastarbeiterbewegung in Europa nach Österreich.

So lange wie die Geschichte der sogenannten 'Zigeuner' ist auch die Geschichte ihrer Verfolgung. Immer wieder wurden sie weggewiesen, wurde unter den Vorwürfen asozialen und kriminellen Verhaltens Jagd auf sie gemacht, wurden sie mit inhumaner Strafgesetzgebung verfolgt. Maria Theresia und Josef II. versuchten, mit Zwangsansiedlung die Integration zu erzwingen. Dazu kamen Militärpflicht, Pflicht zum Erlernen eines Handwerks, Verbot des Pferdebesitzes, Einschränkungen der Freizügigkeit, Verbot der Verwendung der Sprache, schließlich sogar die Entziehung von Kindern. Oftmals führten die Maßnahmen dazu, dass Roma und Sinti in ihrer Existenz bedroht waren und nach Auswegen suchten, die sie in die Kriminalität stießen. So wurden sie oftmals nicht nur als Außenseiter, sondern als Ausgestoßene im wahrsten Sinne des Wortes behandelt.

Nach 1945, nach ihrer Rückkehr aus den Konzentrationslagern fanden sich die wenigen überlebenden Roma und Sinti in unserer Republik vielfach mit der gleichen Ablehnung und Diskriminierung konfrontiert, der sie schon zuvor begegnet waren. Als die Burgenland-Roma in ihre Heimatorte zurückkehrten, fanden sie ihre Häuser in den insgesamt rund 130 ehemaligen Roma-Siedlungen großteils zerstört. Die Gemeinden stellten zögernd zunächst Notunterkünfte zur Verfügung. Eine Besserung der Situation ergab sich erst ab Mitte der fünfziger Jahre, als die nach dem Opferfürsorgegesetz ausbezahlten Haftentschädigungen die Errichtung neuer Wohnhäuser möglich machte. Dennoch blieb die Ghettosituation großteils bestehen. Auch die kleinen alltäglichen Diskriminierungen setzten sich nach 1945 oftmals fort. Immer wieder kam es zu Tätlichkeiten gegen Roma und Sinti, die ihren traurigen Gipfel im Attentat gegen die Roma-Siedlung in Oberwart am 4. Februar 1995 fanden. Diese Gewalttat führte zu einer intensiveren  Medienberichterstattung über die tristen Lebensverhältnisse der Roma. Erst in der Folge kam es zu neuen Initiativen zur Verbesserung der Wohnsituation und der beruflichen Qualifikation der Roma und Sinti.

Über die Jahre hinweg war zunehmend die Bereitschaft gesunken, sich in der Öffentlichkeit als Angehöriger der Volksgruppe der Roma oder Sinti zu bekennen. Wenn dann auch im Familienverband das Romani nicht gepflegt wurde, kam der Kultur- und Sprachverlust. Das Volksgruppengesetz von 1976 berücksichtigte zwar neben Slowenen und Kroaten auch Ungarn und Tschechen, nicht aber Roma und Sinti, die nicht als 'autochthone' Volksgruppe angesehen wurden. Mit dem Bestreben nach Anerkennung als Volksgruppe kam es auch zu neuen Organisationen, wie dem 'Verein Roma' in Oberwart (1989), dem Verein 'Romano Centro' in Wien (1991), dem 'Kulturverein österreichischer Roma' in Wien (1991) und dem 'Verband österreichischer Sinti' in Villach (1993). In einer Petition forderten die Vereine die Errichtung eines Volksgruppenbeirates für Roma und Sinti. Das geschah schon unter der Leitung von Rudolf Sarközi, dem Vorkämpfer für die Roma-Gleichberechtigung mit seinem Team in Österreich. Mit der einstimmig gefassten Entschließung des Nationalrates vom 15. Oktober 1992 wurde die Bundesregierung aufgefordert, 'ihre Bemühungen zur Anerkennung der Roma und Sinti österreichischer Staatsbürgerschaft als Volksgruppe fortzusetzen und ehestmöglich abzuschließen'. Dem folgte sehr schnell eine entsprechende Verordnung der Bundesregierung, mit der ein Volksgruppenbeirat für die Volksgruppe der Roma eingesetzt wurde; er wurde am 5. September 1995 konstituiert.

Damit hat Österreich als erster EU-Mitgliedstaat die Roma und Sinti als ethnische Minderheit anerkannt und zumindest die rechtliche Diskriminierung beendet. Aber es ist noch viel zu tun. Weiterhin mangelt es an EU-weit geltenden Standards des Minderheitenschutzes, was in diesem Zusammenhang besonders schwerwiegend erscheint, zumal die Roma und Sinti nach der EU-Erweiterung - laut einer aktuellen Studie der Weltbank - die wirtschaftlich ärmste Minderheit in Europa darstellt, mit höherer Arbeitslosigkeit, schlechterer Schulbildung und niedrigerer Lebenserwartung, als sie alle anderen Minderheiten auf unserem Kontinent aufweisen. Gleichzeitig sind die Sinti und Roma in Europa mit 8 Millionen Angehörigen die größte ethnische Minderheit unseres Kontinents in der Union.

Die Förderung der Volksgruppe der Roma und Sinti in Österreich hingegen zeigt erste Früchte: das Bekenntnis zum Romani als Umgangssprache ist merkbar gestiegen (Volkszählung 1991: österreichweit 145 Personen, Volkszählung 2001: 6273 Personen). Viele weitere Zeugnisse des langsamen aber stetigen Erfolges der Volksgruppe der Roma und Sinti werden in unserer Ausstellung in der Säulenhalle dokumentiert. Ich lade Sie herzlich ein, sich die wenigen Minuten zu nehmen, um diese Ausstellung zu besuchen.

Dennoch - die faktische Ungleichbehandlung ist noch nicht beendet. Noch immer sind Roma und Sinti besonders armutgefährdet und haben nicht die gleichen Lebenschancen wie alle anderen Österreicherinnen und Österreicher, die anderen Volksgruppen angehören.

Die rassischen Vorurteile bestehen immer noch. Das Wort 'Zigeuner' wird oft gedankenlos, aber oft auch rassistisch bösartig verwendet. Meine Damen und Herren! Es ist abwertend und verächtlich und gehört aus dem Sprachschatz demokratisch denkender und fühlender Menschen gestrichen.

Wenn wir heute hier in dieser Veranstaltung das Unrecht beklagen und die Opfer bedauern, wenn wir heute der zehn Jahre gedenken, in denen die Sinti und Roma anerkannte Volksgruppe sind und in ihrer Kollektivität anerkannt und gefördert werden, so ist dies erst ein Anfang.

In Österreich lebt nur ein verschwindend kleiner Teil der größten europäischen Minderheit. Wir müssen europaweit Fortschritte zur Beendigung der Diskriminierung und der besonderen Förderung machen. Zum neuen europäischen Verfassungsvertrag liegt ein von Österreich unterstützter Abänderungsvorschlag vor, den Minderheitenschutz unter die Ziele der Union aufzunehmen. Dies wäre dann Grundlage und Auftrag, den Verfassungszielen auch Handlungen folgen zu lassen.

Wenn Rudolf Sarközi - der Vorsitzende des Volksgruppenbeirates der Sinti und Roma in Österreich, der noch zu uns sprechen wird -, sagt: 'Wir wollen einen festen Platz in der Gesellschaft', und wenn er weiters sagt: 'Wir können sagen, wir sind Österreicher, wir sind österreichische Roma im Vereinten Europa', so ist damit auch die Zielrichtung des weiteren Weges vorgegeben:

-    volle Integration und Gleichberechtigung;

-    gleichwertige, spezifische Bildungs- und Ausbildungschancen;

-    volle Integration in den österreichischen Arbeitsmarkt und ins Wirtschaftsleben;

-    soziale Sicherheit wie für alle Österreicherinnen und Österreicher - in allen Bereichen, von der Ausbildung bis zur Gesundheits- und Alterssicherung; und schließlich

-    Pflege der Sprache und Kultur im Sinne der wertvollen

     Tradition, die über die Jahrhunderte entstanden ist, also alle

     Maßnahmen des individuellen und kollektiven

     Volksgruppenschutzes.

Die in die Zukunft gerichteten Worte von Obmann Rudolf Sarközi bedeuten auch ein klares Bekenntnis der Minderheit selbst zu Österreich und auch dazu, dass sie sich bei der Verwirklichung dieser Ziel selbst voll einbringen will.

All dies sind unsere Aufgaben als der konkrete Handlungsauftrag, den wir gemeinsam mit den Vertretern der Volksgruppe umsetzen müssen.

Lassen Sie mich diese Einführung mit einem Zitat von Stuart E. Eizenstat schließen. Sie kennen ihn alle, er hat sich um die Beseitigung der Folgen des nationalsozialistischen Verbrechensstaates in Europa verdient gemacht - er schließt sein Buch 'Unvollkommene Gerechtigkeit' mit einem Zitat, das wie folgt lautet: 'Es ist nicht deine Pflicht, die Aufgabe zu vollenden, aber du darfst dich ihrer nicht entziehen.'" (Schluss)