Parlamentskorrespondenz Nr. 315 vom 05.05.2004

BR-PRÄSIDENT WEISS: DAS NEUE EUROPA MÖGE FREI WERDEN VON VORURTEILEN

Wortlaut der Rede bei der Gedenkveranstaltung im Parlament

Wien (PK) - Zum Abschluss der Gedenkveranstaltung sprach Bundesratspräsident Jürgen Weiss:

Herr Bundespräsident! Meine Damen und Herren! Erinnerung ist nach Erich Fried, wie wir vorhin gehört haben, notwendig, weil sie ein wesentlicher Teil unserer Identität ist. Indem wir den Schmerz der Opfer vergegenwärtigen, können wir zwar nicht die Vergangenheit verändern, wohl aber in die Zukunft wirken. Jede Zeit – auch unsere - hat ihre eigenen Versuchungen, denen zu widerstehen ist und bei denen nach Karl Jaspers auch darauf zu achten ist, im Kampf mit dem Drachen nicht selbst zum Drachen zu werden.

Zwei Gruppen von Menschen sind es, die in der europäischen Geschichte der letzten Jahrhunderte vor allen anderen immer wieder gesellschaftlich verbreiteten Vorurteilen zum Opfer gefallen sind: Es sind dies zunächst die Juden, aber auch die Roma und Sinti. Seit sie im Spätmittelalter auf ihrer Wanderschaft in Mitteleuropa angelangt waren, finden sich Zeugnisse für das Misstrauen, das ihnen entgegenschlug, und oft sind die Verdächtigungen identisch mit jenen, denen auch die Juden ausgesetzt waren.

Karl Stojka beschrieb das so: „Genauso wie die andere große Gruppe der Außenseiter in Europa, die Juden, waren wir stets auf der Flucht vor der Vernichtung, sei es in Form der Anpassung oder der Gewalt. Die Juden haben ihren Trost und Zusammenhalt in der Religion gefunden, die Zigeuner in ihren Stammesverbänden, in ihrer Ordnung der Welt und der Natur.“

Vernichtung drohte den Roma und Sinti nicht nur durch physische Gewalt, sondern auch durch Assimilationsdruck. Gerade in der österreichischen Geschichte wird das besonders deutlich: War die Zeit bis zum 18. Jahrhundert von immer wieder spontan oder sogar aufgrund behördlicher Anordnung einsetzender Verfolgung geprägt, so suchte der aufgeklärte Absolutismus die Verfolgung zwar zu beenden, setzte an ihre Stelle jedoch die Zwangsassimilierung.

Die insbesondere im Burgenland, den damaligen westungarischen Komitaten, an den Ortsrändern angesiedelten Roma blieben sozial ausgegrenzt. Auch wenn sie ihre angestammte wandernde Lebensweise aufgegeben hatten, waren sie nach wie vor mit Misstrauen betrachtete Fremde, die ein Leben am Rande der Gesellschaft – nicht nur des Ortes - führen mussten.

Ebenso wie die Verfolgung und Vernichtung der Juden durch die nationalsozialistische Gewaltherrschaft nicht ohne die lange Tradition des Antisemitismus vorstellbar ist, so ist der Verfolgung und Vernichtung der Roma und Sinti durch die Nationalsozialisten eine jahrhundertealte Tradition von Vorurteilen vorangegangen. Dass es für diese bis heute keinen allgemeinen Begriff gibt, macht deutlich, dass auch nach dem Ende des Nationalsozialismus die Opfer unter den Roma und Sinti lange Zeit nicht oder kaum wahrgenommen worden sind. Sie sind die vergessenen Opfer geblieben; um so wichtiger ist der heutige Tag der Erinnerung.

Wenn wir die erschütternden Berichte der Geschwister Stojka über ihre Erlebnisse in Auschwitz-Birkenau, Ravensbrück, Bergen-Belsen oder Buchenwald lesen, dann fühlen wir uns auf erschreckende Weise an die Berichte jüdischer Überlebender aus den Konzentrationslagern erinnert: die ständige Angst vor der Gaskammer, die unmenschliche Behandlung, die Erschöpfung und im Hinterkopf doch die Hoffnung, zu überleben, die Fassungslosigkeit darüber, dass Menschen so grausam sein können, aber auch die Bewunderung für die Mutter, die für ihren Sohn verhungert, weil sie ihm heimlich ihre karge Ration überlässt.

Mongo Stojka schrieb: „Die Hölle, Weltuntergang, das ist es, was wir hier erleben. Das Grauen schleicht wie ein Nebel durch die Lager. Deshalb sterben Menschen auch ohne Giftgas und ohne Schläge.“

Die Leiden der Roma und Sinti in den Konzentrations- und Vernichtungslagern sind nicht weniger schrecklich gewesen als die irgendeiner anderen Gruppe von Opfern der Verfolgung. Und doch gab es einen Unterschied, der, als nach dem Ende der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft an eine so genannte „Bewertung“ der Leiden gegangen wurde, spürbar werden sollte: Die Roma und Sinti hatten zumeist das schwarze Dreieck der „Asozialen“ auf ihrer KZ-Jacke getragen. Aus diesem Grund wurden sie zum Beispiel nach dem österreichischen Opferfürsorgegesetz lange Zeit nicht als Opfer „rassischer“ Verfolgung anerkannt. Ebenso wie die so genannten „Zigeunerlager“ nicht als Konzentrationslager galten; erst mehr als vier Jahrzehnte nach Kriegsende ist schließlich die rechtliche Gleichstellung erfolgt. So haben sich die Roma und Sinti nach 1945 erneut als gesellschaftliche Außenseiter wiedergefunden.

Bis heute weiß man nicht genau, wie viele österreichische Roma und Sinti der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft zum Opfer gefallen sind. Wenn die heutigen Schätzungen davon ausgehen, dass mehr als 9.000 der rund 11.000 österreichischen Roma und Sinti ermordet worden sind, dann sind das Zahlen, die das individuelle Leid erahnen lassen – zugleich macht diese Zahl aber auch deutlich, wie schwer das Versäumnis wiegt, dieses Leid nicht in würdigerer Erinnerung behalten zu haben.

Nach 1945 waren die österreichschen Roma und Sinti den anderen aufgezeigten Formen der Vernichtung ausgesetzt: der Anpassung. Einer selbst gewählten Anpassung, weil insbesondere die jüngeren Roma und Sinti nur darin Hoffnung auf bessere Lebenschancen finden zu können glaubten. Wer es schaffte, die eigene Herkunft und die eigene Sprache hinter sich zu lassen, insbesondere in der Großstadt in der Mehrheitsbevölkerung aufzugehen, der erhoffte sich davon, nicht länger eine Existenz am Rande der Gesellschaft führen zu müssen. Viele schafften es nicht, blieben im Ghetto, hatten aber trotzdem das Selbstbewusstsein verloren, ein Rom oder ein Sinto zu sein.

Dass die Zahl derjenigen, die sich zu Romanes bekennen, bei der Volkszählung 2001 innerhalb von zehn Jahren österreichweit von 145 auf mehr als 6.000 angestiegen ist, kann aber wohl mit gutem Grund als Ausdruck einer Trendwende interpretiert werden, als Zeichen eines neu entstandenen Selbstbewusstseins. Dazu haben wohl verschiedene Faktoren beigetragen, die Einrichtung eines Volksgruppenbeirates für die Volksgruppe der Roma vor zehn Jahren war von herausragender Bedeutung.

Vielleicht weniger offensichtlich, aber atmosphärisch nicht weniger wichtig ist auch die veränderte Erinnerungskultur, die in Österreich insbesondere seit dem „Bedenkjahr 1988“ entstanden ist. Erst seither ist in Österreich jener Anteil an Schuld bewusst geworden, den Österreicher an den Verbrechen des Nationalsozialismus getragen haben, und erst seither ist, unterstützt auch durch berührende persönliche Berichte, das Leid, das den österreichischen Roma und Sinti zugefügt worden ist, tatsächlich bewusst geworden. Wenn Erinnerung Identität stiftet, dann hat die Erinnerung an Verfolgung, Leid und Vernichtung dazu beigetragen, dass die österreichischen Roma und Sinti ihre Identität bewahrt oder wieder gefunden haben.

Sprachliche, ethnische, kulturelle Vielfalt ist - heute wird es erkannt - unendlich bereichernd. Wenn die heutige Gedenkveranstaltung musikalisch von der Hans Samer-Band gestaltet worden ist, dann steht sie hier nur beispielhaft dafür, wie viele belebende Impulse insbesondere unsere Musik den Roma und Sinti verdankt. Was sie neben Wertschätzung ihrer kulturellen Tradition heute auch brauchen, ist eine verbesserte Existenzgrundlage, sind Bildungs- und Berufschancen, ist gesellschaftliche Integration ohne den Zwang zur Assimilation.

Unter allen ethnischen Minderheiten nehmen die Roma und Sinti eine ganz besondere Stellung ein. Nicht nur haben sie keinen Nationalstaat, der als „Schutzmacht“ für sie auftreten könnte, sie haben auch selbst nie einen Nationalstaat angestrebt; nie ist eine Art von „Nationalismus“ bekannt geworden. „Zigeuner haben niemals Kriege geführt“, schreibt Mongo Stojka in einem seiner Gedichte. Trotzdem sind sie zur Zielscheibe gehässiger Vorurteile geworden.

Lassen Sie uns, meine Damen und Herren, dazu beitragen, dass das neue Europa frei sei von Vorurteilen, dass es eine Gesellschaft gleichberechtigter Menschen werde, die ebenso stolz darauf sind, Europäer zu sein, wie sie stolz darauf sein können, ihre je eigene Sprache und Kultur zu leben und weiterzugeben.

Ihre Anwesenheit, meine Damen und Herren, in dieser Gedenkveranstaltung gegen Gewalt und Rassismus werte ich als Ausdruck Ihrer Bereitschaft, auch einen persönlichen Beitrag dazu zu leisten, und dafür möchte ich Ihnen gemeinsam mit dem Herrn Nationalratspräsidenten danken. Unser Dank gilt natürlich den Künstlerinnen und Künstlern, die an der Gestaltung dieser Gedenkveranstaltung mitgewirkt haben, den Mitgliedern der Hans Samer-Band sowie Frank Hoffmann und Christine Sztubics für ihre Lesung. - Ich danke für Ihr Engagement und Ihnen allen, meine Damen und Herren, für Ihre ehrende Aufmerksamkeit. (Schluss)