Parlamentskorrespondenz Nr. 317 vom 05.05.2004

AKTUELLE STUNDE: SIND WIR AUF DIE EU-ERWEITERUNG GUT VORBEREITET?

ÖVP: EU-Erweiterung - Rückenwind für Arbeit und Wirtschaft

Wien (PK) - Die heutige Sitzung des Nationalrates wurde mit einer von der ÖVP beantragten Aktuellen Stunde zum Thema "EU-Erweiterung - Rückenwind für Arbeit und Wirtschaft" eingeleitet.

Vor Beginn der Aktuellen Stunde wurden zwei neue Abgeordnete der ÖVP-Fraktion angelobt. Der aus dem Nationalrat ausgeschiedenen Abgeordneten Cordula Frieser folgt der bisherige Bundesrat Vincenz Liechtenstein. Nach dem Tod des Abgeordneten Josef Trinkl wurde Anton Doppler als neues Mitglied des Nationalrates begrüßt.

NATIONALRATSPRÄSIDENT KHOL WÜRDIGT VERSTORBENEN ABGEORDNETEN TRINKL

Nationalratspräsident Andreas Khol würdigte den vor kurzem verstorbenen Josef Trinkl als einen "engagierten, fleißigen, verantwortungsbewussten und liebenswerten Kollegen". Nach dessen Wahl in den Nationalrat im Jahr 1996 habe er bald seinen Klub in vielen Debatten und Ausschüssen mit wichtigen Aufgaben vertreten. So sei er Schriftführer des Hohen Hauses, Obmann des Immunitätsausschusses und Obmann-Stellvertreter im Justizausschuss gewesen. Trinkl habe als allseits geachteter und beliebter Kollege mit Sachkunde, Humor und Redetalent beeindruckt, sagte Khol. Der Nationalratspräsident zitierte abschließend eine Aussage Trinkls gegenüber der Parlamentskorrespondenz, mit der dieser das Ziel seiner Arbeit charakterisiert hatte: "Ich möchte das Vertrauen der Menschen in die Politik fördern. Politik ist nicht böse. Politik ist Arbeit für die Menschen. Ich möchte 'Sauerteig' sein und die Anliegen meiner Region 'zum Gehen bringen'. Ich möchte vor allem der Politikverdrossenheit der Jugend mit Herz und Engagement begegnen."

DIE ERWEITERUNG DER EU ALS HISTORISCHES EREIGNIS

Als Erstredner im Rahmen der Aktuellen Stunde bezeichnete Abgeordneter Dr. SPINDELEGGER (V) die kürzlich erfolgte EU-Erweiterung als ein historisches Ereignis, dessen Bedeutung man erst retrospektiv werde ermessen können. Die ÖVP sei immer konsequent für die Erweiterung eingetreten und freue sich daher besonders, dass diese nun Realität geworden ist. Spindelegger betonte vor allem die Wanderung der österreichischen Außengrenze nach Westen und sprach von einer "Vision Mitteleuropa", da Mitteleuropa eine spezielle Rolle spielen könne. Der Mandatar sieht in der Erweiterung vor allem auch eine Chance, in einer anderen Art die gemeinsame Außenpolitik zu pflegen und zu einem neuen europäischen Selbstbewusstsein zu gelangen.

Die Erweiterung könne Rückenwind für Arbeit und Wirtschaft bringen, sagte Spindelegger, dieser sei aber nicht selbstverständlich und bringe auch Gefahren mit sich. Daher müsse die Politik reagieren und dies habe sie auch getan, was die Wirtschaftsdaten belegten. So seien beispielsweise seit 1990 60.000 Arbeitsplätze zusätzlich dazugekommen. Keineswegs dürfe man aber die möglichen Schwierigkeiten auf dem Arbeitsmarkt missachten, weshalb dem Engagement des Bundeskanzlers zu danken sei, der eine Übergangsfrist von sieben Jahren für den freien Arbeitsmarkt ausgehandelt habe. Damit sei Zeit gewonnen und die Chance eröffnet worden, dass es zu keinem Sozialdumping kommt. Mit der kommenden KöST-Senkung und der Gruppenbesteuerung erhofft sich Spindelegger positive Anreize für die Ansiedlung neuer Betriebe. Seitens der SPÖ vermisste er eine entsprechende Unterstützung. Abschließend meinte Spindelegger, dass man weniger fragen sollte, was die Erweiterung bringt, sondern vielmehr, was wir daraus machen können.

Auch Bundesminister Dr. BARTENSTEIN bezeichnete Österreich anhand von wirtschaftswissenschaftlichen Untersuchungen als größten Gewinner der Erweiterung. Seit 1989 habe Österreich zusätzlich 6% Wirtschaftswachstum verzeichnen können, was gleichzeitig zu einer zusätzlichen Wertschöpfung von 14 Mrd. € und 60.000 Arbeitsplätzen geführt habe. Generell könne man sagen, dass 40 % des Wirtschaftswachstums und 40 % der zusätzlichen Arbeitsplätze aus dem Titel der Öffnung entstanden seien. Wie sein Vorredner wollte auch der Wirtschaftsminister die Sorgen in Bezug auf die Immigration und hinsichtlich des Arbeitsmarktes nicht verleugnen und machte daher nochmals auf die Notwendigkeit der Übergangsfristen aufmerksam.

"Der Standort Österreich hat gewonnen und wird gewinnen", stellte Bartenstein fest, und Österreich unterstütze die Standortpolitik durch die kommende Steuerreform. Er dankte in diesem Zusammenhang aber auch der Gewerkschaft für ihre Zurückhaltung und den Sozialpartnern insgesamt für deren Beitrag. Gleichzeitig machte er darauf aufmerksam, dass man in den nächsten Jahren weit weniger mit dem Problem der Abwanderung der Betriebe innerhalb der EU konfrontiert sein werde, sondern vielmehr mit der Frage, ob Arbeitplätze von Europa in andere Kontinente abwandern.

Der Wirtschaftsminister hob in weiterer Folge die Forschung und Entwicklungsoffensive der Bundesregierung hervor und merkte an, dass Österreich derzeit 2,27 %, gemessen am BIP, für F&E ausgebe und bei den Direktinvestitionen in den neuen Mitgliedsstaaten hervorragend unterwegs sei. Auch hinsichtlich des Tourismus könne man im Zuge der Erweiterung von einer Erfolgsgeschichte sprechen, sagte Bartenstein. Auch habe die Erweiterung gerade den Grenzregionen viel gebracht.

Abgeordneter Dr. MITTERLEHNER (V) konzentrierte sich insbesondere auf die Chancen, die der österreichischen Wirtschaft durch die Erweiterung entstehen. So könnten die Betriebe durch den Wegfall der Grenzen 470 Mill. € Ersparnisse verzeichnen, durch die Exportsteigerung wüchsen die Einnahmen um 5 %. Auch für den Tourismus sieht Mitterlehner ein beachtliches Potenzial durch die Erweiterung. Abgesehen von den Makroökonomischen Auswirkungen sei es eine besonders wichtige Frage, was die Erweiterung für den Einzelnen bringe, insbesondere im Bereich des Verkehrs, im Bereich der Sicherheit und im Bereich des Arbeitsmarktes. Die Bundesregierung habe dabei gute Vorbereitungsarbeit geleistet, aber, so Mitterlehner, wir müssten auch mit der Realität leben und somit Schritt für Schritt die Erweiterung leben. Bewegung bedeute Kaufkraft und dasselbe gelte auch für die Ladenöffnungszeiten. Damit wir die Differenz zwischen Anspruch und Wirklichkeit überbrücken, forderte Mitterlehner auf, nun diese Arbeit in Angriff zu nehmen.

Abgeordneter SCHIEDER (S) stimmte mit seinen Vorrednern darin überein, dass Österreich von der Erweiterung bisher profitiert habe. Man dürfe aber nicht übersehen, so seine Einschränkung, dass der Rückenwind nur dann beschleunige, wenn man sich in die richtige Richtung bewege. Das mag für Unternehmen der Fall sein, für die Regierung nicht, meinte Schieder. So spiele Österreich in Europa keine Rolle und habe die Interessen des Landes nicht erfolgreich und konsequent vertreten, was die Situation des Transits oder die mangelnde Steuerharmonisierung verdeutliche. Darüber hinaus seien die innerstaatlichen Vorbereitungen, insbesondere für den Arbeitsmarkt, nicht ausreichend. Schieder kritisierte auch die Versäumnisse, gute Verkehrsverbindungen in die östlichen Nachbarländer zu schaffen und nahm dabei keineswegs die ehemaligen SPÖ-dominierten Regierungen aus. Schieder stellte aus seiner Sicht bedauernd fest, dass das Projekt Europa schlecht laufe, dass die Arbeitsplatzsicherung vernachlässigt werde, sich die Rahmenbedingungen für die Investitionen verschlechterten und ein übertriebener Sparzwang das Wirtschaftswachstum hemme. Deshalb sei die Wahl am 13. Juni wichtig, um die EU von der konservativen Vorherrschaft zu befreien.

Abgeordneter Dr. BÖSCH (F) sieht im Erweiterungsprojekt ebenfalls eine historische Chance, er räumte aber ein, dass die Zustimmung der FPÖ mit Vorbehalten erfolgt sei. Einige Kandidatenländer seien seiner Meinung nach nicht reif gewesen, wobei Bösch insbesondere das Problem grenznaher Atomkraftwerke und die Benes-Dekrete ansprach. Ebenso müsse man laut Bösch die Frage stellen, ob die EU-15 für die Erweiterung schon reif gewesen sind. Aus seiner Sicht hätte es nicht geschadet, noch etwas zu warten, ziehe man die mangelnde Unterstützung der Bevölkerung, die Intransparenz und die Spendenskandale in Betracht. Als ein wesentliches Element für das zukünftige Europa betrachtet Bösch die neue EU-Verfassung, die mehr Bürgernähe, Klarheit, Transparenz und Sparsamkeit bringen solle. Bösch sprach sich in diesem Zusammenhang auch für eine Volksabstimmung über die neue Verfassung aus. Nach dem Schritt der Erweiterung sollte die EU nach Auffassung Böschs innehalten und überlegen, wie sie sich geographisch definiere. Der Redner machte dabei deutlich, dass er gegen einen Beitritt der Türkei und mancher Länder Osteuropas sei. Die EU müsse sich nun einmal um sich selbst kümmern und eine Vertiefung anstreben. Die Erweiterung habe Grenzen, sagte der FP-Mandatar.

Abgeordnete Dr. LICHTENBERGER (G) warf der Regierung vor, die letzten Jahre nicht genützt zu haben, um entsprechende Vorbereitungen zu treffen. Sie sprach dabei vor allem die immer noch bestehenden Vorurteile zwischen alten und neuen Mitgliedsländern an. Zu sehr würden die Unterschiede betont, anstatt das Verbindende herauszustreichen. Lichtenberger stellte auch die Frage, welche Arbeit und Wirtschaft mit der heutigen Aktuellen Stunden gemeint sei und argwöhnte, dass dabei an den Neoliberalismus gedacht werde. An die Erweiterung würden von beiden Seiten hohe Erwartungen geknüpft, was Konflikte heraufbeschwöre. Denn der Neoliberalismus feiere fröhliche Urstände, die Erweiterung werde genützt, um die Arbeitsbedingungen zu verschlechtern. Damit entferne man sich vom europäischen Konsens für ein soziales Europa, vom Konsens innerhalb der Bevölkerung, der aber nicht mehr von den Regierungen getragen werde. Die Menschen erwarteten ein soziales Europa, bekräftigte Lichtenberger, statt einer nachhaltigen Wirtschaft werde aber der Neoliberalismus gefördert, statt einer nachhaltigen Energiegewinnung sei die Atomlobby stark und auch die öffentlichen Verkehrsmittel würden nicht entsprechend ausgebaut.

Der Prozess der Erweiterung sei von Veränderungen geprägt und es käme viel auf uns zu, sowohl neue Risken als auch neue Möglichkeiten, sagte Abgeordneter DONABAUER (V). Wir müssten am neuen Europa mitgestalten, sagte er, und die Kinder sollen von den europäischen Kriegen lernen, aber keine mehr führen. Man müsse auch die Sozialpolitik neu gestalten, in manches Netz Luft hineinlassen und manches verdichten. Wir müssten dafür sorgen, dass möglichst viele am Wohlstand teilhaben, und dass die Wertschöpfung in Europa bleibe. Die Bundesregierung habe unter anderem mit der geplanten Steuerreform und der Verbesserung der Familienförderung einen wichtigen Beitrag dazu geleistet. Der SPÖ warf er vor, alles schlecht zu reden. Europa, so Donabauer abschließend, gebe Hoffnung und sei Herausforderung. Man könne nicht alles erwarten, sondern man müsse sich auch einbringen und mitgestalten.

Nach Abgeordnetem Donabauer meldete sich Bundesminister Dr. BARTENSTEIN nochmals zu Wort und stellte aus seiner Sicht fest, dass die SPÖ nichts Konkretes zu ihrem Vorwurf, die Bundesregierung habe Versäumnisse zu verantworten, vorgebracht habe. Der Wirtschaftsminister hob auch hervor, dass Österreich ein Wirtschaftswachstum von 1 % zu verzeichnen habe, während beispielsweise Deutschland und die Niederlande in einer Rezession steckten. Das hohe Wirtschaftswachstum in den Erweiterungsländern mache aber Mut. Den Vorwurf des Neoliberalismus wies er zurück und meinte, dass die Sozialunion und ein nachhaltiges Wirtschaften zusammengehörten. Schließlich wies er auf das Know-How Österreichs in Bezug auf die Wasserkraft und die daraus resultierenden Chancen von Investitionen, beispielsweise in Rumänien, hin.

Abgeordneter Dr. EINEM (S) erklärte, das, was sich am 1. Mai ereignet habe, sei tatsächlich ein großer und bedeutsamer Schritt gewesen. Das "Tolle" an der EU-Erweiterung sei, dass es erstmals auf friedliche Weise gelungen ist, Europa zu vereinen, meinte er, wie groß Europa dabei geworden sei, sei nebensächlich.

Der Aussage Bartensteins, Österreich sei der größte Gewinner der EU-Erweiterung, stimmte Einem zu. Er gab aber zu bedenken, dass die Gewinne nicht gleich verteilt seien. "Schauen Sie sich an, wie sich der Arbeitsmarkt entwickelt", sagte er in Richtung des Ministers. Seit Antritt der schwarz-blauen Koalition sei die Arbeitslosenzahl um 20 % gewachsen. Einem mahnte mehr Investitionen in Forschung und Bildung ein.

Abgeordneter DOLINSCHEK (F) erinnerte seinen Vorredner daran, dass die SPÖ jahrelang Verantwortung in Österreich getragen habe und in dieser Zeit etwa beim Ausbau der Verkehrsinfrastruktur "nichts weiter gebracht hat". Seiner Meinung nach will die SPÖ ihre Versäumnisse in der Vergangenheit der jetzigen Regierung anlasten.

Positiv bewertete Dolinschek die vorgesehene siebenjährige Übergangsfrist hinsichtlich der Öffnung des Arbeitsmarktes für die neuen EU-Länder. Diese Übergangsfrist ist ihm zufolge notwendig, damit das Lohnniveau in Österreich nicht sinkt und die Arbeitslosigkeit nicht steigt. Es gebe große Lohnunterschiede zwischen Österreich und den Beitrittsländern, umriss der Abgeordnete, auch die Arbeitslosigkeit in diesen Ländern sei wesentlich höher als in Österreich.

Abgeordnete Mag. LUNACEK (G) kritisierte dem gegenüber die siebenjährige Übergangsfrist hinsichtlich der Öffnung des Arbeitsmarktes und sprach von einer "Kopfgeburt der Angststruktur". Die ÖVP habe sich vor den Karren des Koalitionspartners spannen lassen, beklagte sie. Lunacek zufolge stimmt es einfach nicht, dass alle Arbeitnehmer aus den osteuropäischen Ländern auf den österreichischen Arbeitsmarkt drängen, schließlich seien beispielsweise Arbeitslose in Westungarn nicht einmal bereit, nach Ostungarn zu gehen.

Kritik übte Lunacek auch daran, dass das Grenzgängerabkommen mit Tschechien, das bereits vor drei Jahren unterschrieben wurde, dem Parlament noch immer nicht zur Ratifizierung vorliege. "'Wir müssen europäisch handeln und nicht national und kleingeistig", mahnte sie.

(Schluss Aktuelle Stunde/Forts. NR)