Parlamentskorrespondenz Nr. 722 vom 29.09.2005

Europa muss nützen, und Europa muss schützen

Erstes Europa-Plenum des Nationalrates

Wien (PK) – "Europa muss nützen, und Europa muss schützen." So fasste Bundeskanzler Wolfgang SCHÜSSEL die Erwartungen der Bevölkerung beim ersten " Europatag " des Nationalrats zusammen. Nationalratspräsident Dr. KHOL nahm bei der Eröffnung der Sitzung auf die Wahlbeteiligung von 42 % bei der Wahl zum Europäischen Parlament Bezug und betonte, dass der Europatag - derartige Europatage wird es viermal im Jahr geben - dazu beitragen solle, den Informationsstand über wichtige Problemfelder in der EU zu verbessern. Kohl wies darauf hin, dass das Logo für den EU-Vorsitz Österreichs - ein aus den Flaggen der Mitgliedsländer zusammengesetztes buntes Band - am Präsidium und am Rednerpult angebracht wurden.

Am 12. Mai hat der Nationalrat eine Änderung des Geschäftsordnungsgesetzes beschlossen, mit der besondere Bestimmungen für NR-Sitzungen zur ausschließlichen Erörterung von EU-Themen getroffen wurden. Demnach soll das Arbeitsprogramm der jeweiligen Präsidentschaft zu Beginn einer Präsidentschaft behandelt werden und weitere Plenartage sollen Themenbereichen aus den aktuellen Arbeitsprogrammen der EU, die von den Klubs bestimmt werden, gewidmet sein. Im heutigen ersten Europa-Plenum des Nationalrates werden die Themen "Europa: Arbeitsplätze, Wachstum, Wirtschaft", "Dienstleistungsrichtlinie – Binnenmarkt auf dem Rücken der österreichischen Klein- und Mittelbetriebe und der Arbeitnehmer?", "Kampf gegen Terrorismus: gemeinsame Aufgabe für Europa" und "Europäische Herausforderungen für die österreichische Hochschulpolitik" behandelt.

Das Thema der ÖVP: Europa: Arbeitsplätze, Wachstum, Wirtschaft

ÖVP-Klubobmann Mag. MOLTERER - seine Fraktion hatte für die Debatte das Thema "Europa: Arbeitsplätze, Wachstum, Wirtschaft" gewählt - betonte einleitend, dass Europa nicht allein in Brüssel und Straßburg sei, sondern überall; Europa bestimme nicht allein die politischen Entscheidungen, sondern auch das Alltagsleben. Daher müsse Europa auch im österreichischen Parlament eine zentrale Rolle spielen. Molterer sprach in diesem Zusammenhang von einer Verpflichtung, "Europa" konsequent und konkret mit Leben zu erfüllen.

Beschäftigung sei ein zentrales Anliegen, kam Molterer dann zum von seiner Fraktion gewählten Thema, und für das Ziel Vollbeschäftigung brauche es Wachstum. Die Europäische Union sei ein Wachstumsmotor auch für Österreich. Seit dem Beitritt sei die Inflation halbiert worden, die Exportquote sei auf über 50 % gestiegen, der Beitritt habe "Österreich im Wohlstand nach vorn gebracht", die Direktinvestitionen seien vervierfacht worden, 70.000 neue Arbeitsplätze seien entstanden. Wenn man von Europa aber Wohlstand und Arbeitsplatzgewinn erwarte, brauche es starkes Wachstum, sagte der Klubobmann weiter, denn nur ein starkes Europa könne Gegengewicht zu den USA und Asien sein. Eine Aufweichung des Stabilitätspaktes diene diesem Ziel nicht. Froh zeigte sich Molterer über die Haltung des Bundeskanzlers in der Frage des Türkei-Beitritts. Wachstum und Beschäftigung brauchten das Zusammenspiel der europäischen Institutionen und der Mitgliedstaaten, Österreich habe hier Vorbildliches geleistet, sagte Molterer. Das gelte es auszubauen. Das Programm "Wachstum und Beschäftigung" bedeute gleichzeitig "die Verteidigung und die Sicherung des europäischen Lebensmodells", d.h. aus der wirtschaftlichen Stärke soziale Verantwortung zu leben und eine nachhaltige Entwicklung zu sichern.

Das Logo der österreichischen Präsidentschaft bedeute auch ein Programm, sagte Bundeskanzler Dr. SCHÜSSEL in seiner Stellungnahme: ein buntes Bild Europas als gleichberechtigtes, demokratisches, die Würde und die Eigenart der Mitgliedstaaten berücksichtigendes Europa, und das hätte Österreich auch bei seinem Beitritt vor zehn Jahren im Sinn gehabt.

Europa habe derzeit keine "gute Presse", sagte der kanzler weiter. Es gebe Skepsis und Vorbehalte. Dafür gebe es "ein Bündel von Motiven", die auch bei den negativen Referenden zur europäischen Verfassung in Frankreich und in den Niederlanden zum Ausdruck gekommen seien. Die Menschen hätten nicht das Gefühl, Europa tue genug, um sie zu schützen. "Europa muss nützen, und Europa muss schützen", fasste Schüssel pointiert zusammen.

Österreich werde sich bei seiner Präsidentschaft auf Wachstum und Beschäftigung konzentrieren, führte der Bundeskanzler weiter aus. Es müsse mehr getan werden in der Forschung; Österreich sei hier "gut unterwegs", etwa mit der Verdoppelung seiner Forschungsausgaben seit dem Jahr 2000. Als zweiten Bereich nannte Schüssel die Infrastruktur. Er zeigte sich zufrieden mit der Tatsache, dass unter den großen 30 Trans-Europäischen Netzen fünf bis sechs österreichische Projekte seien, darunter als größtes der Brenner-Basistunnel. Schüssel bekannte sich auch zum Vorhaben der EU, Vorschriften zu durchforsten und von über 70.000 auf 50.000 zu senken. Dabei sei der Weg richtig, aber auch Treffergenauigkeit wichtig. Österreich habe von der Erweiterung der EU profitiert; es werde aber seinen Arbeitsmarkt weiter schützen.

Abgeordneter Dr. SPINDELEGGER (V) begründete zunächst die Themenwahl seiner Fraktion: Es sei wichtig, im Zusammenhang mit Europa Themen zu diskutieren, die die Menschen betreffen. Er skizzierte die Position seiner Fraktion sodann in fünf Punkten. Es sei wichtig, dass über Arbeitsmarkt und Beschäftigung national entschieden werde; in der Frage der EU-Finanzen sei Vorsicht am Platz und eine Fokussierung - etwa auf Infrastruktur und Forschung - angezeigt; in der Frage der Erweiterung, speziell im Blick auf die Türkei, solle Österreich bei seiner Position bleiben, auch wenn es damit in Europa allein sei; bezüglich des Regelwerks und der Richtlinien auf dem Gebiet der Förderung von Wirtschaft und Arbeit sei Zurückhaltung angesagt; schließlich müsse Europa in Zukunft stärker nach außen - im Sinn eines Schutzes vor den negativen Folgen der Globalisierung - wirken. Es gehe darum, ein hohes Wohlstandsniveau auf breiter Basis zu halten, betonte Spindelegger. Spindelegger brachte einen die Position seiner Fraktion zusammen fassenden Entschließungsantrag ein.

Abgeordneter Dr. GUSENBAUER (S) sah den Europatag als Möglichkeit, die EU-Skepsis zu diskutieren und ihren Ursachen nachzugehen. Zu fragen sei etwa, wie Gesetze in Europa zustande kommen und welche Probleme dadurch gelöst würden oder nicht. Gusenbauer monierte in diesem Zusammenhang die Behebung des "demokratischen Defizits" als Aufgabe. Unzufriedenheit gebe es auch hinsichtlich der Ergebnisse. Gusenbauer erinnerte an knapp 20 Millionen Arbeitslose in Europa fünf Jahre nach der Beschlussfassung über die Lissabon-Strategie. Angesichts solcher Ergebnisse sei die Skepsis in der Bevölkerung kein Wunder. Kritisch wandte sich Gusenbauer dann auch gegen die "tagtägliche Umgehung" des Schutzes der österreichischen Arbeitnehmer. "Nicht Bekenntnisse helfen, sondern Ergebnisse", betonte der SP-Chef.

Solidarität in Europa dürfe keine Einbahnstraße sein, sagte Gusenbauer weiter und kritisierte, dass Mitgliedstaaten hohe Förderungen bezogen und zugleich Steuerdumping betrieben. "Wir lassen unseren Wohlstand nicht durch Steuerdumping zerstören", sagte er. Auch Gusenbauer ging auf die Beitrittverhandlungen mit der Türkei ein und forderte, dass in dieser Frage "auch nächste Woche noch gilt, dass Österreich nicht zustimmen wird, wenn es nicht dazu kommt, dass neben der Perspektive des Beitritts gleichberechtigt auch eine andere Form der Partnerschaft im Mandat drinnen steht". Daran werde der Bundeskanzler ab dem 3. Oktober zu messen sein.

F-Abgeordneter Dr. BÖSCH sah es als notwendig an, Österreichs Vertreter in der EU "mit einem klaren Auftrag des Nationalrats zu versehen"; damit solle man "heute beginnen". Die EU sei nach den negativen Plebisziten zur Verfassung in einer entscheidenden Phase; das Vertrauensdefizit in den Bevölkerungen der Mitgliedsländer erfordere eine Stärkung des Vertrauens. Es sei zwar zu begrüßen, wenn unsinnige Regelungen, Verordnungen und Richtlinien der Union durchforstet würden. Wichtiger aber wäre ein klares Signal an die Bevölkerung, dass es in Zukunft keine unsinnigen Regelungen mehr geben werde, dass in Hinkunft die Regelungen "europafern und bürgernah" gefasst würden.

Auch Bösch kam auf das Thema Türkei zu sprechen. Er unterstützte die Position des Bundeskanzlers und forderte ihn auf, in dieser Sache "hart zu bleiben". Dieses Thema sei für den österreichischen Nationalrat wichtig. Es müsse eine klare Alternative zum Beitritt geben. Der Verhandlungsrahmen mit der Türkei müsse einstimmig beschlossen werden; wenn Österreich hier weiter konsequent bleibe, werde es diesen Verhandlungsrahmen nicht geben und es werde zu keinen Verhandlungen kommen, sagte Bösch.

Abgeordneter Dr. VAN DER BELLEN (G) bedauerte, dass die österreichischen EU-Parlamentarier nicht an den Europadebatten im Plenum teilnehmen können - er würde sich davon eine Bereicherung der Diskussion erwarten.

Das Thema EU und Türkei sei wichtig, für die europäische Wachstumspolitik hielt der Klubobmann der Grünen aber einen baldigen EU-Beitritt Bulgariens und Rumäniens sowie die Integration der anderen Balkanländer derzeit für wichtiger.

Die Lissabon-Strategie bezeichnete Van der Bellen als grundsätzlich gut, es fehle ihr aber im Einzelnen an Verständlichkeit und Bürgernähe. Dass die Bundesregierung die "Abfertigung Neu" zu den Maßnahmen der Lissabon-Strategie zähle, sei für ihn nicht nachvollziehbar - Wettbewerbspolitik und Maßnahmen gegen Monopole und Kartelle wären wesentlicher.

Wenn man von Investitionen in "Humankapital" spreche, sollte man wissen, was gemeint sei, nämlich Bildung, wie sie in Volksschulen, Hauptschulen und Gymnasien vermittelt werde. Das Schulwesen sei ein wesentlicher Baustein einer Wachstumsstrategie, hielt Van der Bellen fest und warf der Bildungsministerin Versäumnisse im Schulsystem vor, die dazu führen, dass Jahr für Jahr 18.000 Jugendliche auf den Arbeitsmarkt kommen, die nicht ausreichend lesen können. (Forts.)