Parlamentskorrespondenz Nr. 52 vom 30.01.2006

Auferstanden aus Ruinen

Die erste Sitzung des Nationalrats nach Kriegsende

Wien (PK) - Viel hatte das Parlamentsgebäude nach dem Februar 1934 mitmachen müssen, doch der Februar 1945 war für das Hohe Haus am Ring wohl der folgenschwerste Monat in diesen schrecklichen Zeiten. Zweimal, am 7. und am 21. Februar 1945, schlugen US-amerikanische Bomben ein, die wertvollste Bausubstanz zerstörten und für Brände verantwortlich waren, die weitere schwere Schäden anrichteten. Doch auch die Nazis selbst tragen ein gerüttelt Maß an Verantwortung an der Zerstörung großer Teile von Hansens Meisterwerk. Der Kanzlei- und Archivtrakt brannte völlig aus, da die abziehenden Nazifunktionäre auf den Gängen Akten gestapelt, diese mit Benzin übergossen und anschließend in Brand gesteckt hatten, damit sie, wie es hieß, dem Feind nicht in die Hände fallen konnten. Der prächtigste Raum des Hauses, der Sitzungssaal des ehemaligen Herrenhauses, wurde vollkommen ruiniert, Wassereinbrüche und Witterungsschäden taten ein übriges, um unersetzliche Verluste hervorzurufen.

Dennoch war die neue Republik, die sich Ende April 1945 ihre neuen Staatsorgane gegeben hatte, entschlossen, das Herzstück der Demokratie schnellstmöglich wieder seiner ursprünglichen Nutzung zuzuführen. Im Vorfeld des Staatsaktes der provisorischen Regierung vom 29. April kam es daher zu einer Begehung des Hauses, um in einer Bestandsaufnahme festzustellen, wie es um das Gebäude wirklich bestellt war. Ein Bericht des zuständigen Beamten dieser Unternehmung hat sich erhalten.

"Am 20. April 1945 erhielt der Gefertigte den Auftrag, die Überwachung der Aufräumungsarbeiten im Hause der Bundesgesetzgebung zu übernehmen, um die am 29. April 1945 um 10 Uhr stattfindende Eröffnungssitzung der provisorischen österreichischen Staatsregierung zu ermöglichen." Mit diesen Worten leitete Bezirksinspektor Marek seine Mitteilung ein, um sofort in medias res zu gehen: "Um die Durchführung der Arbeiten zu ermöglichen, sammelte der Gefertigte alle in der Staatskanzlei verfügbaren Arbeitskräfte, darunter auch vier Mann der Ballhauswache, und zog mit diesen Leuten, die er mit Besen und Schaufeln ausgerüstet hatte, zum Haus der Bundesgesetzgebung."

Das Haus habe ein wüstes Bild geboten, die linke Auffahrtsrampe wies ein klaffendes Loch, das von einem Bombentreffer herrührte, auf, die Gänge waren übersät mit Waffen und Ausrüstungsgegenständen der Wehrmacht, die mit "Glassplittern, Schutt und Mörtel sowie angekohlten Balken" verdeckt waren. Der Sitzungssaal habe einen besonders trostlosen Anblick geboten. Auch hier überall Glassplitter, Ziegelsteine und Mörtel, die Bänke mit einer dicken Staubschicht überzogen, die Glühbirnen zerschlagen, und alles voller Schmutz. Um wenigstens eine rudimentäre Beleuchtung zu gewährleisten, stellte man Kerzen auf. Im Bericht wird festgehalten, dass der Saal niemals ohne die freiwillige Hilfe von Frauen von der Straße rechtzeitig hätte geräumt werden können. Durch dieses Einschreiten von Privatpersonen jedoch wurde der Auftritt des Staatskanzlers zur festgesetzten Zeit doch noch ermöglicht.

Spätere, grundlegendere Untersuchungen stellten fest, dass 50 Prozent des Gebäudes vernichtet waren. Neben dem genannten Trakt war auch die Säulenhalle schwer in Mitleidenschaft gezogen worden, und es bedurfte äußerster Anstrengungen, um das Haus bis zur Eröffnungssitzung der V. Legislaturperiode halbwegs wieder instand zu setzen. Und dennoch waren an jenem 19. Dezember 1945, an dem erstmals seit über 12 Jahren wieder ein Nationalrat im Parlament tagte, die Wunden, die der Krieg dem Hause geschlagen hatte, überall noch überdeutlich zu sehen.

Die erste Wahl

Der erste bundesweite Wahlgang nach mehr als 15 Jahren war für den 25. November 1945 anberaumt worden. Drei Parteien, die ÖVP, die SPÖ und die KPÖ, traten in allen Wahlkreisen an. Der Ausgang des Urnengangs schien völlig ungewiss, doch wurde allgemein mit einer Mehrheit links der Mitte gerechnet. Die Kommunisten erwarteten sich ein beachtliches Maß an Zustimmung und gingen mitunter sogar von einem Stimmenanteil von mehr als 20 Prozent aus, während die beiden traditionellen Großparteien sich Resultate jenseits der 40 Prozent erwarteten. Der Wahlkampf war relativ kurz und verlief weitgehend sachlich, wobei mitunter der Humor nicht zu kurz kam. Als die SPÖ ein Plakat affichierte: "Wiener Frauen, Wiener Männer, wählen Körner, Seitz und Renner", antwortete die ÖVP mit "Erspart Kummer euch und Ärger, wählt Figl, Raab, Weinberger".

Die Möglichkeit, nach so langer Zeit wieder die Politik des Landes mittels Stimmzettel mitbestimmen zu können, löste in der Bevölkerung reges Interesse aus. Bereits im Morgengrauen bildeten sich Menschenschlangen vor den Wahllokalen. Insgesamt gaben an jenem kalten, unfreundlichen Spätherbsttag 94,3 Prozent der Wahlberechtigten ihre Stimme ab, eine Wahlbeteiligung, die Österreich bei Nationalratswahlen in solcher Höhe noch nie gekannt hatte. Das Ergebnis ließ freilich mehr als aufhorchen. Zum einen schaffte die ÖVP in Mandaten die absolute Mehrheit, zum anderen brachte es die KPÖ nur auf knapp mehr als fünf Prozent, was sie wohl selbst in ihren schrecklichsten Alpträumen nicht befürchtet hätte. Mit diesem Resultat erwiesen sich alle Spekulationen in Richtung einer Volksdemokratie, wie sie in osteuropäischen Staaten angestrebt wurde, als obsolet.

Die erste Sitzung des Nationalrates

Am 19. Dezember 1945 fanden sich 164 demokratisch gewählte Abgeordnete im Hohen Haus zusammen, um der Eröffnungssitzung des neuen Nationalrates beizuwohnen. Nur der ehemalige Grazer Bürgermeister und nunmehrige steirische Landesrat Engelbert Rückl hat sich krankgemeldet und fehlt bei der Angelobung. Rückls Gesundheit ist in der Tat schwer angeschlagen. Noch im Januar 1946 wird er sein Mandat zurücklegen, zwei Monate später stirbt der steirische Spitzenpolitiker in Bad Gleichenberg.

Zum letzten Mal nimmt die Provisorische Staatsregierung auf der Regierungsbank Platz. Staatskanzler Renner wird von seinen Stellvertretern Adolf Schärf, Leopold Figl und Johann Koplenig flankiert, auch die Ressortleiter sind vollzählig anwesend: Innenminister (damals noch Staatssekretäre genannt) Franz Honner und Unterrichtsminister Ernst Fischer, Justizminister Josef Gerö, Finanzminister Georg Zimmermann, Landwirtschaftsminister Josef Kraus, Industrieminister Eduard Heinl, Ernährungsminister Andreas Korp, Sozialminister Johann Böhm, Bautenminister Julius Raab und Wirtschaftsplanungsminister Vinzenz Schumy sitzen mit ihren jeweiligen Unterstaatssekretären auf den ihnen zugewiesenen Plätzen, als Staatskanzler Renner, der letzte Nationalratspräsident der Ersten Republik, das Wort ergreift. Es ist kurz vor halb elf Uhr morgens.

Renner wies darauf hin, dass in der ersten Sitzung das an Jahren älteste Mitglied den Vorsitz führen werde, und dies sei Altbürgermeister Karl Seitz. Seitz wurde sodann gesondert angelobt und übernahm die Leitung der Sitzung: "Wir kommen nun zum ersten Punkt der Tagesordnung: Angelobung. Ich ersuche, die Angelobungsformel zu verlesen. Die Abgeordneten bitte ich, beim Aufruf ihres Namens die Angelobung mit den Worten `Ich gelobe´ zu leisten."

Von den so in ihr Amt eingeführten Mandataren verfügten nur 32 über parlamentarische Erfahrung. Zwölf Abgeordnete der SPÖ und zehn Abgeordnete der ÖVP waren schon vor 1934 Mitglieder des Nationalrates gewesen, zehn weitere hatten in der Ersten Republik ein Mandat im Bundesrat bekleidet. Bevor der Präsident des Nationalrates gewählt wurde, nutzte Karl Seitz die Gelegenheit zu einer ersten Rückschau.

"Elf schwere Jahre haben wir überstanden. Die letzten acht Jahre haben in diesem Hause Barbaren gehaust. Sie haben mit ihren Stiefeln der SS den historisch geheiligten Boden betreten, sie haben das alte Prachthaus Hansens, das Haus, mit dem sich ehrwürdige Traditionen verbinden, geschändet. Sie sind hier getrampelt und haben sich hier unterhalten. Sie haben dem Parlament sogar den Namen genommen, weil sie sonst eingestanden hätten, dass es ein Parlament ist, das von Rechtsgrundsätzen ausgeht." Seitz erinnerte an die große Geschichte des Gebäudes, an das Ringen der Nationen und an den Kampf der Werktätigen um Gleichberechtigung.

"Wir haben dann den Nationalrat der ersten Republik hier in diesem Hause abgehalten, wenn auch in dem anderen Saal, der jetzt vollkommen zerstört ist, bis dann alles scheiterte und wir das ganze Ungemach des Faschismus und des Krieges mitmachen mussten. Auch das ist überwunden, auch darüber haben wir hinweggefunden. Wir sind jetzt wieder am Beginn einer neuen Periode Österreichs." Diese veranlasste Seitz zu einiger Hoffnung: "Wolle uns ein gütiges Schicksal nunmehr beschieden sein, das uns ermöglicht, den Staat aufzubauen und aus allen Wirrungen der Zeit emporzubringen."

Österreich sei ein Staat mit Geschichte, die ihm auch Verantwortung auferlege. Als "Demokraten aus innerster Überzeugung" wolle man den Staat nun nach den Gesetzen "wahrer Demokratie geleitet" wissen: "Hoffen wir, dass es uns gelingt, unsere Ziele zu erreichen, hoffen wir, dass wir ein Österreich aufbauen, das diesen Namen verdient im besten Sinne des Wortes." Fast schon dichterisch schloss Seitz seine Rede: "Wir sind Österreicher und wir wollen es bleiben. Wir wollen, dass wir immer ein unabhängiges Volk bleiben, dass wir uns in dieser Art und nach unserer Art frei entwickeln können. Es lebe die Republik Österreich." Seitzens letzte Worte führten zu frenetischem Jubel: "Die Versammlung bringt ein dreimaliges begeistertes Hoch aus", vermerkt das stenographische Protokoll, um dann fortzufahren: "Großer, anhaltender Beifall".

Nunmehr schritt der Nationalrat zum nächsten Tagesordnungspunkt. Einstimmig wurde Leopold Kunschak zum Präsidenten gewählt. Dieser nahm die Wahl an und richtete sodann das Wort an das Plenum: "Ein Jahrzehnt schlimmster Erfahrungen und Erlebnisse haben wir hinter uns. Es war, als ob die Sonne in ewiger Finsternis versunken wäre. Wir sehnten den Tag herbei, an dem ein erster Lichtstrahl wieder über unser Vaterland und unser Volk fallen würde. Das ist nun geschehen. Wir erleben heute einen Freudentag erster Ordnung, der sich tief eingraben wird nicht nur in die Herzen derer, die wir hier versammelt sind, sondern auch in die Herzen des ganzen österreichischen Volkes, weil nun endlich wieder die Zeit gekommen ist, in der das Volk durch seine Vertretung über sein Schicksal entscheiden wird."

Demgemäß möge man in die Zukunft schauen, forderte Kunschak. Man möge unverwandt den Blick auf die kommenden Aufgaben richten, um das Ziel, "ein freies Volk, ein arbeitsames und durch seine Arbeit in seiner Arbeit glückliches Volk", bald zu erreichen: "Das ist der einzige Gedanke, der uns in dieser feierlichen Stunde beseelen soll." Bei allen Grundsätzen, von denen sich die einzelnen Parteien leiten ließen, solle man doch zusammenstehen und die Parteiinteressen zurückstellen, um "in erster Linie und mit der ganzen Kraft und Hingabe, über die wir verfügen, dem Volke und dem Vaterlande zu dienen." Auch Kunschaks Rede wurde mit "anhaltendem Beifall und Händeklatschen" bedacht.

Im Anschluss an diese Worte wählte der Nationalrat Johann Böhm zum Zweiten und Alfons Gorbach zum Dritten Präsidenten des Nationalrates. Rosa Jochmann, Alfred Maleta und Bruno Pittermann wurden zu Schriftführern, der ÖVP-Mandatar Josef Hans, der (damalige) SPÖ-Abgeordnete Erwin Scharf und der Kommunist Viktor Elser zu Ordnern gewählt. Damit waren die wichtigsten Gremien des Nationalratsplenums ("Das Büro des Hohen Hauses", wie es Kunschak nannte) gewählt, und der Nationalrat schickte sich an, den Rechenschaftsbericht des scheidenden Kanzlers Renner zu hören.

Dieser nahm zunächst eine Verteidigung Österreichs vor. Es habe es nicht an "ernstesten Versuchen" mangeln lassen, seine Befreiung selbst ins Werk zu setzen, auch wenn es ihm nicht gegönnt gewesen sei, "in offener Erhebung aus eigener Kraft die von außen aufgezwungene Herrschaft der Annexionsmacht und die Tyrannei seiner Unterdrücker niederzuringen". Jene "ausländischen Kritiker", die "den Geschehnissen fernerstehen und die vermeinen, es sei nicht genug geschehen", erinnerte Renner daran, dass selbst die Alliierten mit ihrer geballten Militärmacht mehr als fünf Jahre brauchten, um die Nationalsozialisten zu besiegen. Und doch habe es in Österreich "ungezählte Blutzeugen" gegeben, "die auf dem Schafott geendet oder in den Konzentrationslagern verkommen sind".

Nach der Befreiung sei es darum gegangen, das eigene Volk geistig wieder aufzurichten und ihm dabei seine "altvertrauten heimischen Institutionen" wiederzugeben. Mit beredten Worten schilderte Renner, wie bereits im April 1945 darangegangen worden sei, die Republik wiederzuerrichten und welche Schritte man bis zur Konstituierung des neuen Nationalrates unternommen hatte. Konkret legte er die Proklamation der Unabhängigkeit Österreichs vom 27. April 1945 zur nachträglichen Beschlussfassung vor und bat gleichzeitig um die Entlastung seines Kabinetts. Dabei versäumte es Renner nicht, die Notwendigkeit der Herstellung der vollen Souveränität des Landes herauszustreichen und dabei die Heimkehr Südtirols in den österreichischen Staatsverband zu fordern: "Zu neuen Zielen führt ein neuer Tag", meinte Renner, der dies mit der Hoffnung verband: "und bald möge erscheinen der Tag unserer vollen Freiheit."

Der Rechenschaftsbericht wurde einstimmig genehmigt, die Proklamation passierte ebenso einstimmig das Plenum wie das im Anschluss zur Abstimmung gestellte Verfassungsüberleitungsgesetz, bei dem V-Abgeordneter Hurdes als Berichterstatter fungierte. Das Plenum wählte sodann noch die Mitglieder des Hauptausschusses, womit die Tagesordnung erschöpft war. Kunschak gab noch bekannt, dass die nächste Sitzung des Nationalrates für den 21. Dezember 1945 in Aussicht genommen war. Wenige Minuten vor 12 Uhr mittags war die Premierensitzung des neuen Nationalrates zu Ende.

Am folgenden Tag trafen sich die Mitglieder des National- und des Bundesrates, um die Angelobung Karl Renners als Bundespräsident vorzunehmen, und am 21. Dezember 1945 fand die 2. Sitzung des Nationalrates statt, bei welcher der neue Bundeskanzler Leopold Figl seine Regierungserklärung abgab. Österreich hatte die Provisorien endgültig überwunden und war wieder eine voll funktionsfähige parlamentarische Demokratie. (Schluss)