Parlamentskorrespondenz Nr. 434 vom 04.06.2007

Bundesstelle für Sektenfragen zieht Bilanz über das Jahr 2005

5.279 Kontakte, 1.789 anfragende Personen und 623 Beratungsfälle

Wien (PK) – Die Bundesstelle für Sektenfragen fungierte auch im Jahr 2005 als wichtige Informations- und Beratungsstelle rund um das Thema Sekten. Das geht aus dem jüngsten Bericht der Sektenstelle hervor, der vor kurzem von Familienministerin Andrea Kdolsky dem Nationalrat übermittelt wurde (III-60 d.B.). Insgesamt konnte die Sektenstelle – neben ihrer allgemeinen Recherche- und Informationsarbeit – 5.279 fachspezifische Kontakte, 1.789 anfragende Personen und 623 Beratungsfälle verzeichnen.

An den Befunden aus den vorangegangenen Jahren änderte sich dem Bericht zufolge wenig. Nach wie vor ist eine immer weitere Zersplitterung der weltanschaulichen Szene in verschiedene Organisationen, kleine Gruppierungen und EinzelanbieterInnen zu beobachten, was den Markt zunehmend unüberschaubar macht. Vor allem der Esoterik-Markt boomt und stößt in der Bevölkerung auch auf breite Akzeptanz, was, wie die Autoren des Berichts festhalten, eine explizit kritische Auseinandersetzung damit oftmals schwierig macht. Überdies sind die Betroffenen fast immer volljährige und mündige Erwachsene.

In Zusammenhang mit dem Esoterik-Bereich macht der Bericht auch auf die Problematik von Doppelqualifikationen aufmerksam, also auf Fälle, wo Personen über eine seriöse und fachlich anerkannte Ausbildung z.B. im psychosozialen oder medizinischen Bereich verfügen und sich daneben gleichzeitig für esoterisches Gedankengut und dazugehörige Praktiken engagieren. Für KundInnen und KonsumentInnen sei eine deutliche Trennung zwischen den beiden Rollen kaum möglich, meinen die Autoren, die Seriosität und Qualität im Grundberuf scheine häufig auf den esoterischen Bereich übertragen zu werden. Sie beobachten überdies eine zunehmende Kommerzialisierung bei esoterischen Angeboten, wobei etwa Gesundheit und Heilung ebenso wichtige Themen sind wie allgemeines Wohlbefinden und Erlebnischarakter.

Anfragen zu 303 verschiedenen Gruppierungen

Die zunehmende Zersplitterung der weltanschaulichen Entwicklung spiegelt sich auch in den Anfragen an die Sektenstelle wider. So wurden im Jahr 2005 zu immerhin 303 verschiedenen Gruppierungen Erkundigungen eingeholt. Darunter befanden sich allerdings auch gesetzlich anerkannte Kirchen und Religionsgemeinschaften wie die Evangelische Kirche und die Mormonen sowie staatlich eingetragene religiöse Bekenntnisgemeinschaften wie Baha'i. Am meisten Anfragen gab es zu Scientology (176), der Guru-Bewegung Sahaja Yoga (172) und dem Themenkomplex Esoterik (157), aber auch (vermeintliche) Satanismus-Aktivitäten und die Zeugen Jehovas lösten großes Interesse aus. Neu unter den 20 am häufigsten angefragten Gruppierungen waren etwa das Forum Religionsfreiheit (FOREF) und "Human Design System".

Der Spitzenplatz von Scientology im Anfragen-Ranking der Sektenstelle ist nicht neu. Schon seit Jahren rangiert die Gruppierung im Spitzenfeld, wobei nicht zuletzt das breite Medienecho auf die Veröffentlichung des Buches "Scientology: Wahn und Wirklichkeit" eines ehemaligen Scientology-Mitglieds im Jahr 2005 den Bekanntheitsgrad der Organisation in Österreich weiter hoch gehalten haben dürfte. Seit Ende des Jahres 2004 gibt es mit "Narconon Tirol" außerdem auch in Österreich ein von Scientology betriebenes Selbsthilfezentrum für Drogenkranke, wobei die Erfolgswirksamkeit der angewandten Methoden vielfach angezweifelt wird.

Das Phänomen "Satanismus" stellt sich dem Bericht zufolge in vielfältigen Formen dar. So können sich unter dem Etikett u.a. okkulte, neugnostische, antikirchliche, antichristliche, neuheidnische, aber auch rechtsextreme Traditionen und Ansichten versammeln, wobei die Beschäftigung von Jugendlichen mit satanistischen Themen den Autoren zufolge häufig Protestverhalten oder Hilferuf ist. Entsprechendes Verhalten müsse daher in jedem einzelnen Fall ernst genommen werden, bekräftigen sie, auch wenn, wie der Bericht festhält, viele der Sektenstelle gemeldete Beobachtungen über Satanismus häufig einer tiefer gehenden Exploration nicht standhalten.

In Österreich noch ein Randphänomen ist laut Bericht der so genannte "Vampirismus", wobei – neben der Praxis des Bluttrinkens – auch die oftmals unverhohlene Verherrlichung von Gewaltakten z.B. bekannter Serien- und Massenmörder als problematisch gewertet wird. Ausdrücklich heben die Autoren auch die hohe Bedeutung des Internet für die Verbreitung und Propagierung des Satanismus und seiner Spielarten hervor.

In Bezug auf die seit 1998 eingetragene religiöse Bekenntnisgemeinschaft "Jehovas Zeugen" merkt der Bericht an, dass eine Reihe von Menschen hier durchaus ein gewisses Konfliktpotential wahrnimmt. So wird immer wieder vom Verlust von familiären und freundschaftlichen Beziehungen nach einem Bruch mit der Gemeinschaft berichtet. Gleichzeitig verweisen die Autoren allerdings auf ein Urteil des Berliner Oberverwaltungsgerichtes vom März 2005, das viele vorgebrachte Bedenken gegen die Zeugen Jehovas als nicht belegbar wertete und feststellte, dass die Gemeinschaft die Voraussetzungen für die Verleihung der Rechte einer Körperschaft öffentlichen Rechts erfüllt. Bezüglich der österreichischen Rechtslage haben die Zeugen Jehovas 2005 den Europäischen Menschengerichtshof (EGMR) angerufen, weil sie sich gegenüber den gesetzlich anerkannten Kirchen und Religionsgemeinschaften benachteiligt fühlen.

Als relativ neues Phänomen in der weltanschaulichen Szene Europas werten die Autoren die Präsenz afroamerikanischer Religionen wie Voodoo, Candomble, Umbanda, Macumba und Santeria, wobei als gemeinsames Merkmal die Verehrung von Geistwesen genannt wird, die zumeist durch speziell ausgebildete Medien in Trance empfangen werden. Diese Geistwesen werden häufig durch katholische Heilige symbolisiert. Zudem handelt es sich durchwegs um Gemeinschaften, in die man eingeweiht werden muss.

Kritisch setzt sich der Bericht schließlich mit Seminar- und Trainingsangeboten auf dem Lebenshilfemarkt im Allgemeinen und mit "Familienstellen nach Bert Hellinger" im Speziellen auseinander. Überdies wird auf die Vereinnahmung der Tsunami-Katastrophe im Dezember 2004 durch eine Vielzahl von Gruppierungen und das gestiegene Interesse an (Welt-)Verschwörungstheorien verwiesen.

Großes Interesse am Beratungsangebot der Sektenstelle

Großes Interesse herrscht nach wie vor auch am professionellen Beratungsangebot der Bundesstelle für Sektenfragen. Es wurde von 623 Personen (349 Frauen und 274 Männer) in Anspruch genommen, wobei im Jahr 2005 erstmals jene Personen die größte Kategorie darstellten, die im beruflichen Kontext Hilfestellung benötigten, also etwa Entscheidungen über Kindeswohl, Obsorge oder Besuchsrechte treffen mussten. Aber auch Familienangehörige, Bekannte und ArbeitskollegInnen von – vermeintlichen – Sektenopfern wandten sich häufig mit dem Wunsch nach psychosozialer Beratung an die Sektenstelle. 90 Personen suchten in eigener Sache um Rat und Hilfe, etwa um ihre Situation kritisch zu reflektieren oder um über negative persönliche Erfahrungen zu berichten und diese aufzuarbeiten. Nicht zuletzt aus geographischen Gründen kamen die meisten Beratungsfälle aus Wien und Niederösterreich.

Für Betroffene erleichtert wird die Kontaktaufnahme mit der Bundesstelle für Sektenfragen dadurch, dass Verschwiegenheit, Sachlichkeit und Datenschutz zu den wichtigsten Kriterien der Informations- und Beratungstätigkeit zählen. Dem Wunsch anfragender Personen nach Anonymität wird stets entsprochen. Zu den Grundprinzipien der Arbeit der Sektenstelle gehören aber auch Toleranz gegenüber allen Glaubensgemeinschaften und Weltanschauungen, die Achtung von Grundfreiheiten und Menschenrechten einschließlich der Glaubens-, Religions- und Gewissenfreiheit sowie das Bemühen, Vorurteile abzubauen.

Über die Informations- und Beratungstätigkeit hinaus stand auch im Jahr 2005 das Sammeln und Dokumentieren von Informationen im Mittelpunkt der Tätigkeit der Sektenstelle. So umfasst etwa die Fachbibliothek mittlerweile bereits 3.639 Bände. Zudem wurden wieder Fachgespräche mit unterschiedlichen Zielgruppen, Veranstaltungen und Vorträge angeboten sowie das InfoService weitergeführt.

Als österreichweite zentrale Servicestelle steht die Bundesstelle für Sektenfragen allen Bürgerinnen und Bürgern, privaten Institutionen und staatlichen Einrichtungen zur Verfügung. Das Büro der Stelle ist werktags von Montag bis Freitag von 9 Uhr bis 18 Uhr durchgehend besetzt, darüber hinaus sind die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter per e-mail (bundesstelle@sektenfragen.at) und - zwischen 10 Uhr und 17 Uhr - telefonisch (01/513 04 60) erreichbar. (Schluss)