Parlamentskorrespondenz Nr. 445 vom 06.06.2007

Von der EU-Verfassung über das Ilisu-Projekt bis zur EURO 2008

Bundeskanzler Gusenbauer in der Fragestunde des Nationalrats

Wien (PK) – Erstmals stellte sich heute Bundeskanzler Dr. Gusenbauer in der Fragestunde des Nationalrats den Fragen der Abgeordneten, und diese Fragestunde war zugleich die erste in der XXIII. Gesetzgebungsperiode. Der Bogen der Fragen reichte von der Europäischen Verfassung über den Klimawandel und die Kärntner Ortstafelfrage bis zur Fußball-Europameisterschaft im Juni 2008.

Abgeordneter Dr. EINEM (S): Welches sind aus Ihrer Sicht die wesentlichen Elemente und Inhalte, die im europäischen Verfassungsvertrag enthalten sein sollten?

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Bundeskanzler Dr. GUSENBAUER hielte es für einen Fehler, die Dynami von jenen Ländern bestimmen zu lassen, die nicht ratifiziert haben statt von den 18 Staaten, die den Verfassungsvertrag ratifizierten. Ein Fehler wäre es auch, den institutionellen Teil des Vertrags wieder aufzuschnüren, und zwar einschließlich des Grundsatzes "ein Kommissar pro Land", ansonsten sei "der Inhalt wichtiger als die Form". Wichtige Ziele und Aufgaben – der Kanzler nannte den Klimaschutz und eine gemeinsame Energiepolitik – sollten erhalten bleiben, ebenso die einheitliche Rechtspersönlichkeit der EU, die Stellung der nationalen Parlamente bei der Subsidiaritätsprüfung, die Verbesserung des Rechtsschutzes und die Bemühungen bezüglich Daseinsvorsorge. Abgeschafft sollte hingegen die Drei-Säulen-Struktur werden. Prognosen bezüglich eines Erfolgs seien schwierig, doch sei absehbar, dass bis 2009 eine erneuerte Grundlage vorliegen sollte, wofür noch im Juni unter deutscher Präsidentschaft ein klares Mandat geschaffen werden sollte. Gegenüber den Ländern mit schwerwiegenden Bedenken – der Bundeskanzler nannte Großbritannien, Tschechien und Polen – gebe es bilaterale Überzeugungsversuche; er selbst werde in dieser Richtung demnächst bei einem Besuch in Polen aktiv werden.

Auf eine Zusatzfrage bezüglich eines Europa mit verschiedenen Integrationsstufen stellte Gusenbauer fest, dass es das bereits gebe, und zwar im Zusammenhang mit Schengen und dem EURO. Für Österreich sei die Mitgliedschaft im stärksten Teil wichtig; ein Konzept eines "Kerneuropa" sei aber keine realistische Option. Zur Frage einer allfälligen Volksabstimmung im Zusammenhang mit einem möglichen neuen Verfassungsvertrag meinte der Kanzler, ein neuer Vertrag würde wohl kaum über den alten hinausgehen, weshalb eine Volksabstimmung nicht erforderlich wäre. Er bedauerte aber, dass das Instrument einer EU-weiten Volksabstimmung nicht gegeben sei.

Abgeordnete FUHRMANN (V): Bis wann werden Sie dem Nationalrat den Entwurf für eine verfassungsrechtliche Regelung der Kärntner Ortstafelfrage vorlegen, die vom Konsens aller politischen Kräfte in Kärnten, der Heimatverbände und der Slowenenorganisationen getragen wird?

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Dr. GUSENBAUER zeigte sich – unter Verweis auf in der jüngsten Zeit geführte Sondierungsgespräche – optimistisch, dass auf der Grundlage des Karner-Papiers noch vor der parlamentarischen Sommerpause dem Nationalrat ein Entwurf vorliegen könnte. Er ortete dafür auch eine "breite Stimmung" in Kärnten. Die Zahl der zweisprachigen Ortstafeln stehe nicht am Anfang, sondern am Ende des Prozesses. Die Begeisterung für die Öffnungsklausel sieht der Bundeskanzler "auf beiden Seiten" reduziert, zudem sollte man von dem ausgehen, was zusammenführt und aus nationalistischen Problemstellungen herausfinden. Grundlage für die Lösung sei die Bundesverfassung, es gehe darum, mit  breitestmöglichen Konsens innerhalb der vorhandenen Bandbreite zu einer Lösung zu kommen, die nicht nur auf die Zahl der Ortstafeln abstelle. Eine Minderheitenfeststellung werde nicht Teil des Vorschlags sein, betonte der Bundeskanzler.

Abgeordnete Dr. LICHTENECKER (G): Wann wird die Bundesregierung angesichts des drohenden Klimawandels endlich die notwendige Totalreform des Ökostromgesetzes in Angriff nehmen?

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Bundeskanzler Dr. GUSENBAUER machte zunächst auf die Dimensionen aufmerksam: Der europäische Anteil am CO2-Ausstoß liege bei 14 % und könnte bis 2020 auf 10 % reduziert werden. In Österreich gehe es in diesem Zusammenhang zum einen um die CO2-Reduktion, zum anderen um den Ausbau der erneuerbaren Energieformen. Beim Ökostromgesetz werde es bei den anstehenden Verhandlungen daher auch um die Frage des effizienten Energieeinsatzes gehen, wobei thermische Gebäudesanierungen sich als besonders wirksam erwiesen. Der Klimafonds sei ein wesentliches, aber nicht das einzige Instrument unter den Maßnahmen zum Klimaschutz.

Eine stärkere Belastung der Haushalte aus dem Titel Ökostrom lehnte Gusenbauer ab; 31 bis 36 % müssten die Obergrenze bleiben. Bei erneuerbarer Energie sei das Potenzial mit derzeit 23 % schon stark ausgeschöpft. Bei Windenergie gebe es noch ein theoretisches Potenzial von 5, bei Wasserkraft von 7 %, bei Energiepflanzen von 5 %. Diese theoretischen Werte seien aber politisch-praktisch nicht realistisch. Ausdrücklich bekannte sich Gusenbauer zur Beibehaltung der Anti-Atom-Politik. Auch in Zukunft würden bei der Förderung von Ökostrom der Einsatz erneuerbarer Energieträger und der effiziente Energieeinsatz berücksichtigt.

Abgeordneter Dr. BÖSCH (F): Ist es gewährleistet, dass Sie während Ihrer Kanzlerschaft alle Schritte setzen werden, um einen Vollbeitritt der Türkei zur EU – so wie es die SPÖ vor der Wahl angekündigt hat – zu verhindern?

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Ein Vollbeitritt der Türkei zur EU sei in nächster Zeit nicht aktuell, betonte der BUNDESKANZLER. Die Verhandlungen würden ergebnisoffen geführt, im Finanzrahmen bis 2014 seien für einen Beitritt keine Mittel vorgesehen. Die Verhandlungen seien zäh, der Prozess werde langwierig sein. Als Alternativen zu einem Vollbeitritt sah der Bundeskanzler eine "privilegierte Partnerschaft". Im übrigen sei im Regierungsübereinkommen für den Fall eines Beitrittsbeschlusses in Österreich eine Volksabstimmung vorgesehen. Die Menschenrechtssituation sei in Teilen der Türkei unbefriedigend, sagte Gusenbauer weiter. Zudem gebe es eine Differenz zwischen rechtlicher und realer Situation.

Auf Zusatzfragen zum Projekt des Ilisu-Staudamms räumte der Bundeskanzler ein, dass es sich dabei um ein umstrittenes Projekt handle. Er gab aber zu bedenken, dass es besser sei, wenn ein österreichisch-deutsches-schweizerisches Konsortium zur Finanzierung mit menschenrechtlichen und ökologischen Auflagen als ein chinesisches ohne diese Auflagen bereit sei.

Abgeordneter WESTENTHALER (B): Warum veranlassen Sie angesichts der seit 2006 deutlich steigenden Wirtschaftsentwicklung sowie der weit über den Erwartungen liegenden Steuereinnahmen nicht bereits im Jahr 2007 anstelle weiterer Belastungen die Durchführung einer Steuerzahler wie Mittelstand entlastenden Steuerreform?

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Bundeskanzler Dr. GUSENBAUER teilte den Abgeordneten zunächst die erfreuliche Wirtschaftsprognosen der OECD für Österreich mit. Auch 2007 sei mit einem Wachstum von bis zu 3,2 % zu rechnen. Quellen des Wachstums seien die überdurchschnittliche Entwicklung der neuen EU-Mitgliedsländer und der Aufschwung in Deutschland. Die österreichischen Firmen nützen ihre Chancen optimal, lobte der Bundeskanzler. Vor diesem Hintergrund sei es aber nicht sinnvoll, durch eine Steuerreform zusätzlich "Öl in die Maschine zu gießen" - das käme einer prozyklischen Finanzpolitik gleich. Sinnvoll werde eine Steuerentlastung sein, wenn die Wirtschaft weniger stark wachse und die Stärkung der Kaufkraft zur Stabilisierung der Konjunktur beitragen könne. Derzeit beschränke sich die Bundesregierung daher auf die Mindestsicherung und einen Mindestlohn für Vollzeitarbeit von 1.000 €. Eine Steuerreform im Jahr 2010 soll dann untere und mittlere Einkommen entlasten, wobei es nicht nur um den Steuertarif, sondern um eine Entlastung des Faktors Arbeit insgesamt gehe, um die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft weiter zu stärken.

Auf eine Zusatzfrage nach einer Entlastung der Autofahrer führte der Bundeskanzler aus, die Treibstoffpreise seien in Österreich niedriger als in Deutschland und Italien und etwa auf dem Niveau der neuen EU-Nachbarn. Der Tanktourismus bringe zwar zusätzliche Einnahmen, gleichzeitig aber Probleme bei der Erfüllung der CO2-Ziele, daher sei die Mineralölsteuer erhöht worden - sozial abgefedert durch Erhöhung der Pendlerpauschale und die Einbeziehung kleiner Einkommen.

Abgeordneten THEMESSL (F), der die Aussagen des Bundeskanzlers über eine Steuerreform 2010 als "fromme Wünsche" bezeichnete, wies der Bundeskanzler darauf hin, dass ab 2010 finanzielle Überschüsse zu erwarten seien, die die Finanzierung einer Steuerreform ermöglichen.

Von Abgeordnetem Mag. ROSSMANN (G) auf die Ergebnisse der letzten Steuerreform und deren Bewertung angesprochen, sagte Bundeskanzler Gusenbauer, Befürchtungen wegen Steuerausfällen infolge der Senkung der Körperschaftsteuer und der Einführung der Gruppenbesteuerung seien nicht bestätigt worden, weil die gute Wirtschaftsentwicklung und die Gewinne österreichischer Unternehmen im Ausland zu einer Steigerung der Köst-Einnahmen geführt haben.

Abgeordneter KRAINER (S) erfuhr vom Bundeskanzler, dass die für 2010 geplante Steuerreform sozial und fair konzipiert werde. Sie werde auf jene Gruppen konzentriert, die hohe Konsumneigung haben, nämlich auf mittlere und kleinere Einkommen. Damit werde die Konjunktur stabilisiert und der Wirtschaftsstandort gestärkt.

Die Förderung der Familien - eine Zusatzfrage des Abgeordneten PRASSL (V) - habe in Österreich einen im internationalen Vergleich sehr hohen Standard, hielt der Bundeskanzler fest. Gusenbauer erläuterte die geplanten Verbesserungen durch Flexibilisierung des Kindergeldes und die Ausweitung des Mehrkindzuschlags. Er setze in der Familienförderung stärker auf Transfers, weniger auf steuerliche Maßnahmen, sagte der Bundeskanzler. (Schluss)