Parlamentskorrespondenz Nr. 623 vom 21.08.2007

Wahlreform 1907: Die 5. Kurie wird Wirklichkeit

1897 gibt es erstmals eine allgemeine Wählerklasse

Wien (PK) – In unserer Rubrik "Entdeckungen und Begegnungen" bringen wir heute einen weiteren Beitrag über die große Debatte zur Wahlreform vor 100 Jahren. In unregelmäßiger Folge erscheinen in dieser Rubrik neben den Beiträgen über den figuralen Schmuck am und im Parlament historische Reportagen über Reden, die Geschichte machten sowie über den Weg zur Wahlreform des Jahres 1907.

Im September 1895 war Kasimir Badeni neuer Ministerpräsident geworden, und er nahm sich der Wahlrechtsfrage alsbald an. Bereits im Februar 1896 leitete er dem Parlament eine Vorlage zu, der gemäß eine fünfte, allgemeine Kurie geschaffen werden sollte, in der 72 Mandate vergeben werden sollten. Wahlberechtigt in dieser Kurie sollten alle männlichen Staatsbürger nach dem vollendeten 24. Lebensjahr sein, die eine sechsmonatige Sesshaftigkeit in einem Wahlbezirk nachweisen konnten. Dies bedeutete zugleich, dass in dieser Kurie auch all jene wahlberechtigt waren, die schon in den ersten vier Kurien das Wahlrecht besaßen, womit in diesem Fall das Pluralwahlrecht eingeführt wurde.

Falkenhayn: "Rückkehr zu Gott in allem und jedem"

Am 20. und 21. Februar 1896 wurde die Vorlage in erster Lesung im Abgeordnetenhaus behandelt. Der oberösterreichische Abgeordnete Julius Falkenhayn (1829-1899) zeigte sich namens der Konservativen mit dem Entwurf zufrieden. Die Regierungsvorlage werde von seinem Klub "deshalb mit Wohlwollen aufgenommen, weil sie das, was besteht, intakt und aufrechterhält" und weil sie eine spätere, konservative Regelung nicht präjudiziere. Falkenhayn nutzte allerdings die Gelegenheit, das allgemeine Absinken des politischen Niveaus zu beklagen und für eine "Rückkehr zu Gott in allem und jedem" zu votieren.

Lueger: Gott wäre nicht Mitglied bei den Konservativen

Dieser Satz löste eine Polemik seitens des Wiener Mandatars Karl Lueger (1844-1910) aus, der sich überzeugt zeigte, dass Gott, "wenn er wieder auf der Erde erscheinen und in das hohe Abgeordnetenhaus gewählt werden würde", sich nicht dem Hohenwart-Klub anschließen würde. In diesem Klub gebe es Mitglieder wie etwa den Prälaten Treuinfels, "der von vier Stimmen plus seiner eigenen gewählt" worden sei.

Menger: Unter Lueger hätten nicht einmal die 12 Apostel Rechte

Der schlesische Liberale Max Menger (1838-1911) griff daraufhin Lueger an und meinte, man könne durchaus verlangen, "dass die Religion nicht missbraucht werde in antisemitischer oder anderer Beziehung, die gleichfalls reaktionär ist". Unter Lueger hätten nicht einmal die zwölf Apostel, da sie ja Juden seien, politische Rechte, erklärte Menger. Die Christlichsozialen führten ihren Namen zu Unrecht, seien nur eine "agitatorische, rücksichtslose, in radikalen Formen vorgehende, vielfach reaktionäre Partei", schloss der Redner.

Liechtenstein: Vorlage ein kurzer Schritt in die richtige Richtung

Alois Liechtenstein (1846-1920) sagte, alle, "welche im Frieden arbeiten und im Kriege fechten" hätten den gleichen Anspruch auf politische Rechte. Dieser Anspruch sei nur umzusetzen durch das allgemeine, gleiche und direkte Stimmrecht. Die Vorlage sei insofern ein Schritt in die richtige Richtung, als sie dem Volk vermittle, jetzt werde mit der Erweiterung des Wahlrechts ernst gemacht. Gleichzeitig kritisierte Liechtenstein wie zuvor auch Lueger die Absicht, dem Gesinde, welches bei seinem jeweiligen Brotherrn wohne, das Wahlrecht nicht zu erteilen, heftig als ungerecht und verwies darauf, dass gerade diese Schichten besonders wertvolle Arbeit für das Land leisteten. Es sei daher "geradezu ein Unding, diesen Personen das aktive und passive Wahlrecht nehmen zu wollen". Prinzipiell freilich übte sich Liechtenstein in Optimismus: die Wahlreformvorlage der Regierung sei "zwar nur ein kurzer erster Schritt, dem aber sehr bald andere folgen" würden.

Pernerstorfer: Wahlrecht auch für Frauen!

Für die Sozialdemokraten bedauerte Engelbert Pernerstorfer (1850-1918), dass der Ministerpräsident "leider nicht den Mut gehabt hat, dem Hause neuerlich den Taaffeschen Wahlreformantrag vorzulegen". Mittlerweile stünden nämlich die Chancen auf Annahme der Taaffeschen Initiative wesentlich günstiger als noch vor drei Jahren, was sich auch daran ablesen lasse, dass sich niemand gefunden habe, gegen die Badenische Reform aufzutreten. Bemerkenswert fand Pernerstorfer zudem das klare Bekenntnis der Christlichsozialen zum allgemeinen Wahlrecht, es wäre jedoch wünschenswert, dass sie diese Haltung nicht nur hier zum Ausdruck brächten, sondern "auch in der Praxis draußen in der Argumentation bestätigen" würden.

Die Vorlage wurde sodann dem Ausschuss zugewiesen, der sich bis April mit ihr befasste. Am 20. April 1896 begann das Plenum des Hauses mit seinen Beratungen über den Bericht des Ausschusses. Dort ergänzte Pernerstorfer seine bisherigen Ausführungen um einen wesentlichen Aspekt: "Freilich, die Arbeiterpartei ist nicht für ein beschränktes System des Wahlrechts, sie ist klipp und klar für das allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht, ja noch mehr, sie schließt nicht einmal die Frauen aus." Die Frauen, so zeigte er sich überzeugt, würden eines Tages gleichfalls das Wahlrecht erhalten und dabei "die alte Fabel von der Minderwertigkeit der Frau" zu zerstören wissen.

Nachdem einige weitere Redner die schon bisher geäußerten Standpunkte rekapituliert hatten, schritt das Haus zur Abstimmung und sicherte der Vorlage in einer namentlichen Abstimmung mit 243 zu 19 Stimmen eine klare Mehrheit. Nachdem das Herrenhaus am 28. Mai 1896 seine Zustimmung gegeben hatte, erwuchs der Vorlage am 14. Juni 1896 durch kaiserliche Sanktion Gesetzeskraft. Die Wahlen des Jahres 1897 sollten bereits in fünf Kurien abgehalten werden.

Damit war die Zahl der Wahlberechtigten mit einem Schlag von rund 1,7 auf rund 5,3 Millionen erweitert worden. Das Wahlrecht war mithin ein gewissermaßen allgemeines, ein gleiches war es freilich noch nicht, denn nach wie vor wählten 5000 Großgrundbesitzer 85 Mandatare, während 5,3 Millionen Wähler nur 72 Abgeordnete küren konnten. Dennoch forcierte die Reform die Ausbildung weltanschaulich motivierter Parteien und trug zur Auflösung der alten Honoratioren-Klubs bei. Das zeigte sich schon bei den nächsten Reichsratswahlen, die im März 1897 abgehalten wurden.

Zogen die Sozialdemokraten mit nunmehr 14 Abgeordneten ein (zuvor war Pernerstorfer ihr einziger Vertreter gewesen), so verbesserten sich die Christlichsozialen von 14 auf 30 und die Deutschnationalen von 17 auf 47 Mandate. Die Liberalen, die 1891 noch 109 Sitze gewonnen hatten, sanken auf 77 ab, die sich noch dazu in zwei Klubs aufspalteten. Die Jungtschechen gewannen statt 37 nunmehr 63 Mandate, und neben dem Polenklub gelang auch der Polnischen Volkspartei und den polnischen Christlichsozialen der Einzug ins Hohe Haus. Insgesamt 56 Parteien hatten sich an der Wahl beteiligt, nach der Konstituierung des neuen Abgeordnetenhauses sollte es 15 Klubs geben, unter denen die Jungtschechen den zahlenmäßig größten und die Polnische Volkspartei den zahlenmäßig kleinsten stellte.

Vor diesem Hintergrund hatte es Badeni schwer, eine tragfähige Mehrheit im Haus zu finden. Er suchte eine Verständigung mit der Partei der Jungtschechen, denen er durch eine neue Sprachenverordnung entgegenkommen wollte. Diese stieß jedoch auf wütenden Protest der Deutschnationalen, und schließlich musste Badeni Ende November 1897 demissionieren, ohne in der nationalen Frage einen Fortschritt erzielt zu haben.

Die auf Badeni folgenden Ministerpräsidenten Gautsch, Thun, Clary und Wittek amtierten zusammen nur rund zwei Jahre, die gekennzeichnet waren durch fortgesetzte Obstruktion im Plenum des Hohen Hauses. Protestierten bis 1899 die Deutschnationalen gegen die Sprachenverordnung, so traten an ihre Stelle die Tschechischen Mandatare, nachdem im Herbst 1899 Clary die Sprachverordnung aufgehoben hatte. Da Clarys Nachfolger Wittek keine Mehrheit fand, machte er im Januar 1900 Ernst Körber Platz, der schließlich vorzeitige Neuwahlen anstrebte, um aus der politischen Sackgasse herauszufinden.

Doch die Wahlen vom Januar 1901 brachten keine prinzipielle Veränderung der politischen Situation. Die Regierung amtierte mit Notverordnungen und erzielte in keinem Politikbereich nennenswerte Erfolge. Im Dezember 1904 warf Körber schließlich das Handtuch, Paul Gautsch, der schon 1897/98 kurz Ministerpräsident gewesen war, übernahm das Amt neuerlich. Er sollte sich durch Ereignisse außerhalb Österreichs – durch die Verfassungskrise in Ungarn, vor allem aber durch die erste Revolution in Russland – veranlasst sehen, die Frage des Wahlrechts neuerlich auf die politische Tagesordnung zu setzen.

Hinweis: Über den Weg zum neuen Wahlrecht siehe die PK-Ausgaben mit den Nummern 31, 41, 162, 164, 166, 293, 420, 427, 458, 462, 466, 618, 621 und 622. Die Serie wird fortgesetzt.

(Schluss)