Parlamentskorrespondenz Nr. 363 vom 28.04.2009

Adelheid Popp - Wegbereiterin der Frauenbewegung

Autodidaktin mit Willenskraft und Idealismus

Wien (PK) – Vor 90 Jahren, am 3. April 1919, sprach zum ersten Mal eine Frau im österreichischen Parlament: Adelheid Popp. Wir bringen aus diesem Anlass ein Kurzporträt der sozialdemokratischen Politikerin. (Ein ausführliches Porträt Adelheid Popps siehe PK Nr. 364 /2009; zu Adelheid Popp als Parlamentarierin siehe PK Nr. 190 /2009.)

Vorzeigefrau der österreichischen Sozialdemokratie, parlamentarische Pionierin, Ausnahmeerscheinung - das alles sind Attribute, die auf Adelheid Popp (1869 – 1939) zutreffen und mit denen sie auch immer wieder charakterisiert wird. Popp ist die erste Frau in Österreich, die von einer Partei für ihr politisches Engagement angestellt wurde, sie stellt damit auch die erste "institutionalisierte" moderne Politikerin dar (Hauch, Gabriella: Adelheid Popp. Bruch-Linien einer sozialdemokratischen Frauen-Karriere Wien 1998, S. 28) und sie gehört zu den ersten gewählten Parlamentarierinnen.

Autodidaktin wie sie war, hat sie es geschafft, sich aus schlimmsten sozialen Verhältnissen aus eigener Kraft zu befreien und politische Leitfigur zu werden. Adelheid Popps Leben ist wie ein Appell an alle zu verstehen, Hürden zu überwinden, an sich selbst zu arbeiten, sich zu engagieren und für seine Überzeugungen mit friedlichen, demokratischen Mitteln einzutreten. Ihre Lebensgeschichte ist durchaus geeignet, jungen Menschen des 21. Jahrhunderts, die angesichts der Entwicklungen wenig oder falsche Perspektiven für sich sehen, Mut zu machen.

Popp wurde 1891 Mitglied des Wiener Arbeiterinnenbildungsvereins, 1893 Vorsitzende des Lese- und Diskutierclubs "Libertas". In der Zeit von 1892 bis 1934 fungierte sie als Redakteurin der von ihr mitbegründeten Arbeiterinnen-Zeitung. 1902 initiierte sie gemeinsam mit Therese Schlesinger gegen den Widerstand der Parteispitze den Verein sozialdemokratischer Frauen und Mädchen. 1918 wurde sie dann schließlich in den Wiener Gemeinderat gewählt, dem sie bis 1923 angehörte, sie wurde aber auch als eine der ersten acht Parlamentarierinnen nach Einführung des Frauenwahlrechts 1919 in die Konstituierende Nationalversammlung gewählt und gehörte dann dem Nationalrat bis zu seiner Auflösung im Jahr 1934 an.

Der Lebensweg war ihr, wie bereits erwähnt, nicht in die Wiege gelegt, entstammte sie doch bitterarmen Verhältnissen: Der Vater, ein Weber, war dem Alkohol verfallen. Adelheid musste oft miterleben, wie er die Mutter schlug. Er starb, als sie sechs Jahre alt war. Die Mutter, aufopfernd und beherrscht von ihren Sorgen, wie sie die Kinder tagtäglich ernähren soll, hatte keine Zeit, ihre mütterliche Fürsorge und Liebe den Kindern auch zu zeigen. Von den 15 Kindern, die sie geboren hatte, überlebten fünf, Adelheid und ihre vier Brüder. Adelheid musste bereits mit 8 Jahren als Heimarbeiterin Geld verdienen, mit 10 Jahren meldete sie die Mutter trotz Schulpflicht nicht mehr in der Schule an, denn die Familie hatte jeden Verdienst nötig, um halbwegs über die Runden zu kommen, bzw. nicht zu verhungern. Außerdem hielt die Mutter, selbst Analphabetin, für eine Arbeiterin Bildung für unnötig. In ihren Erinnerungen "Jugend einer Arbeiterin", schreibt Adelheid Popp über ihre Kindheit: "Kein Lichtpunkt, kein Sonnenstrahl, nichts vom behaglichen Heim, wo mütterliche Liebe und Sorgfalt meine Kindheit geleitet hätte" (S. 25). Einige Seiten weiter (S. 36) klagt sie: "In späteren Jahren überkam mich oft ein Gefühl grenzenloser Erbitterung, dass ich gar nichts von Kinderfreuden und Jugendglück genossen hatte". Dennoch hing Adelheid Popp Zeit ihres Lebens an ihrer Mutter und kümmerte sich um sie bis an deren Lebensende.

Die Schilderungen, wie Adelheid Popp in der Kälte, nur spärlich bekleidet, oft erfolglos Arbeit suchte, wie sie bei den Reichen bettelte, um Geld für das Nötigste zu erhalten, wie sie das Bett mit anderen teilen musste, und die Familie trotz Platzmangels auch noch einen Freund des Bruders als Bettgeher aufnahm, die schwierigen Situationen die sich daraus für ein heranwachsendes Mädchen ergaben, das alles sind für uns heute unvorstellbare Zustände. Die Lektüre ist eine erschütternde.

Gleichzeitig ist sie aber auch eine faszinierende. Denn Adelheid liebte das Lesen, borgte sich Bücher aus und nützte jede freie Minute nach schwerer stundenlanger Arbeit, sich ihrer Lieblingsbeschäftigung hinzugeben – trotz großer Müdigkeit und trotz großen Widerstands und Unverständnis seitens ihrer Mutter. Waren es anfangs romantische Geschichten, die sie dann mit Begeisterung weitererzählte, änderte sich dies, als sie mit dem Freund ihres Bruders, einem Sozialdemokraten, persönlich in Kontakt kam und zum ersten Mal die "Gleichheit", das Zentralorgan der frühen Sozialdemokratie, in den Händen hielt. Von da an wurde ihr bewusst, dass das triste Schicksal der Arbeiterklasse nicht als gottgegeben hingenommen werden muss. Sie interessierte sich für politische Lektüre, las aber auch Werke der Weltliteratur. Von ihrem geringen Lohn zweigte sie Geld ab, um eine Zeitung zu kaufen, ihr Wissen, ihre Anschauungen gab sie dann auch ihren Kolleginnen in der Fabrik weiter. Sie begann damit, auf eigene Faust zu "agitieren", wie man damals sagte.

Wie sehr Lesen bildet, ist nicht nur aus der beeindruckenden persönlichen Entwicklung abzulesen, die Adelheid Popp gemacht hat, sondern vor allem aus ihren Schriften und Reden. Sie zitierte viel und ihr Schreib- und Lesestil ist facettenreich, eindringlich und aufwühlend. Mit einer dreijährigen Schulausbildung erreichte es Adelheid Popp, zur Redakteurin der Arbeiterinnen-Zeitung zu werden. Sie hört nie auf sich weiterzubilden, sei es in der Muttersprache, sei es das Erlernen von Fremdsprachen wie Englisch und Französisch.

Sie war von Jugend auf von der Notwendigkeit durchdrungen, etwas gegen die herrschenden Verhältnisse unternehmen zu müssen, und zwar selbst. "Zu kämpfen nicht nur für die gesamte Arbeiterklasse, sondern auch zu kämpfen für die Befreiung der Frauen von wirtschaftlicher Bedrückung, geistiger Nacht und politischer Rechtlosigkeit", sah sie als ihre Aufgabe (s.u.: Gedenkbuch, 20 Jahre österreichische Arbeiterinnenbewegung, S. 22). In der Bildung erkannte sie den zentralen Hebel zur Selbstbefreiung, zum sozialen Aufstieg und zu einem würdigen Leben – eine Erkenntnis, die angesichts aktueller Probleme im Schulbereich wieder in den Mittelpunkt in das öffentliche Bewusstsein rückt, bzw. rücken sollte.

Ist es auch heute für die meisten Menschen nicht leicht, vor einer großen Menschenansammlung das Wort zu ergreifen, so war das in der damaligen Zeit für eine junge Frau etwas Unerhörtes. Umso bewundernswerter ist es - und es sagt auch viel über den Charakter Adelheid Popps und ihre Willensstärke aus - dass sie sich eines Tages im Arbeiterinnenbildungsverein veranlasst sah, auf die Rednertribüne zu gehen, das Leiden der Arbeiterinnen zu schildern und Aufklärung, Bildung und Wissen für die Frauen zu fordern. Sie galt von da an als eine Ausnahmeerscheinung.

Es gehörte viel Mut dazu, sich als Frau öffentlich zu artikulieren, zumal es schon als "unschicklich" galt, als Frau in eine Versammlung zu gehen, noch dazu, wenn diese in einem Gasthaus stattfand. Popp war daher, wie sie selbst immer wieder betonte, darum bemüht, eine "seriöse Erscheinung" abzugeben. Auch in der Fabrik arbeitete sie präzise, sodass ihre Vorgesetzten keinen Grund zu Beanstandungen hatten.

Die Widerstände, mit denen sie als Frau zu kämpfen hatte, waren nicht nur auf die damals allgemeine Stellung der Frau in der Gesellschaft zurückzuführen. Diese Einstellung hatte  selbstverständlich auch auf die Anschauungen ihrer Parteigenossen Einfluss. So verdiente Adelheid Popp beispielsweise weniger als männliche Kollegen, auch beim Ersatz der Reisekosten wurden die Frauen knapp gehalten. Es gab in der Partei, vor allem bei den Gewerkschaften, durchaus auch handfeste Gründe, die Frauen fernzuhalten. "Die Arbeiterinnen wurden in allen Branchen als Eindringlinge angesehen. Die unausweichliche ökonomische Notwendigkeit der Frauenarbeit wurde erst von wenigen erkannt. ... Politisches Verständnis bei Frauen betrachtete man höchstens als das einzelnen eigentümliche Kennzeichen männlicher Gesinnung, aber durchaus nicht als etwas auch dem Durchschnittsweibe Anhaftendes", klagt Popp in ihrer Schrift "Die Arbeiterin im Kampf ums Dasein" (S. 1/2). Bei der Unterstützung zur Einführung des Frauentags, insbesondere aber auch im Kampf um das Frauenwahlrecht blieb das Verständnis der Parteigenossen ebenfalls ein enden wollendes. Viel Verständnis und Unterstützung fand Adelheid Popp mit ihren Genossinnen jedoch bei Victor Adler.

Popp gehörte nicht zu jenen, die sich von Widerständen und Konventionen von ihrer Überzeugung, aktiv etwas tun zu müssen, abhalten oder irritieren ließ. Oft musste sie nach Veranstaltungen vor den Richter. Da sie sich geschickt zu verteidigen wusste, wurde sie meist freigesprochen. Sie ging aber nie mit dem Kopf durch die Wand, sondern spürte, wie weit sie jeweils gehen konnte, auch wenn sie die Möglichkeiten bis an die Grenzen ausreizte. Ihrem Selbstbewusstsein konnten weder Diffamierungen in der Öffentlichkeit noch frauenfeindliche Tendenzen in der Partei selbst etwas anhaben. Victor Adler riet ihr einmal: "Liebe Genossin, wenn sie wieder einmal gesiegt haben, so lassen Sie das die Besiegten nicht merken". Damit ist wohl viel über ihre Willenskraft ausgedrückt.

Wie andere Frauen auch, die sich entgegen allen Konventionen außerhäuslich politisch engagierten, stand sie vor der Schwierigkeit, Beruf(ung) und Familie miteinander in Einklang zu bringen. Damit einher ging natürlich auch schlechtes Gewissen gegenüber ihrer Familie. Sie hatte jedoch einen in seinem Denken sehr modernen Ehemann, auch wenn er um 20 Jahr älter war als sie. Julius Popp, Mitherausgeber der Arbeiterzeitung, Sekretär und Kassier der Partei, ermutigte, ja drängte sie gerade dazu, ihrer öffentlichen Aufgabe nachzukommen. Er betätigte sich als "Manager" seiner Frau, kümmerte sich während ihrer Abwesenheit um das Kind und verzichtete auf viele Annehmlichkeiten. Im Vorwort zur dritten Auflage ihrer Erinnerungen "Jugend einer Arbeiterin", schreibt sie dann: "Meine leider allzu kurze Ehe habe ich geschildert, aber nicht um über mich zu sprechen, sondern um an meinem individuellen Schicksal zu zeigen, dass die öffentliche Tätigkeit der Frau durch die Ehe und durch ihre Pflichten als Mutter und Gattin nicht gehemmt werden muss. Es handelt sich da um eines der großen Probleme der Frauenfrage, um eine der wichtigsten Vorfragen bei der Erörterung vollkommener politischer und gesellschaftlicher Gleichberechtigung der Frau".

Adelheid Popp wurde zu einer der wichtigsten Wegbereiterinnen nicht nur der sozialdemokratischen Frauenbewegung, sondern auch der organisierten Frauenbewegung allgemein. Mit unglaublichem Einsatz fuhr sie von einer Versammlung zur anderen, nahm harte körperliche Strapazen auf sich, um die Frauen aufzuklären und zu motivieren. Ihr großes sozialpolitisches Engagement war auch deshalb so glaubwürdig, weil Adelheid Popp wusste, wovon sie sprach, denn sie hatte die volle Wucht der Ungerechtigkeit, Ausgrenzung und Armut am eigenen Leib erfahren.

Sie forderte schon damals vehement die Einführung der Karenzzeit für Mütter, die Errichtung von Entbindungsanstalten, die Gleichstellung der Frauen in der Ehe und im Beruf und selbstverständlich auch das Frauenwahlrecht und trat für eine Quotenregelung ein. Sie wagte es aber auch, Tabus zu brechen und die Frage der Prostitution zu thematisieren. Fast alle ihrer parlamentarischen Initiativen konnten erst in der Zweiten Republik verwirklicht werden.

Die Wohnhausanlage in der Possingergasse 39-51, im 16. Wiener Gemeindebezirk, wurde 1949 nach der Politikerin Adelheid Popp benannt.

Verwendete Literatur:

Popp, Adelheid: Der Weg zur Höhe. Die sozialdemokratische Frauenbewegung Österreichs. Frauenzentralkomitee der sozialdemokratischen Arbeiterpartei Deutschösterreichs (Hrsg); Wien, 1929

Popp, Adelheid: Jugend einer Arbeiterin. Bonn 1991

Popp, Adelheid: Die Arbeiterin im Kampf ums Dasein. Wien 1911

Popp, Adelheid: Frauenarbeit in der kapitalistischen Gesellschaft. Wien 1922

Popp, Adelheid: Erinnerungen. Aus meinen Kindheits- und Mädchenjahren; Aus der Agitation und anderes. Berlin 1923

Popp, Adelheid: Zwanzig Jahre Arbeiterinnenbewegung. In: Popp, Adelheid (Hrsg): Gedenkbuch. 20 Jahre österreichische Arbeiterinnenbewegung. Im Auftrag des Frauenrechtskomitees. Wien 1912

Köpl, Regina: Adelheid Popp. In: Edith Prost (Hrsg): Die Partei hat mich nie enttäuscht. Österreichische Sozialdemokratinnen;). Wien 1989

Hauch, Gabriella: Adelheid Popp. Bruch-Linien einer sozialdemokratischen Frauen-Karriere. In: Frauke Severit (Hrsg): Das alles war ich. Politikerinnen, Künstlerinnen, Exzentrikerinnen der Wiener Moderne. Wien 1998 (Schluss)