Parlamentskorrespondenz Nr. 323 vom 05.05.2010

Neugebauer: Respekt, Toleranz, Zivilcourage

Wien (PK) – Wortlaut der Rede des Zweiten Präsidenten des Nationalrats, Fritz Neugebauer, bei der Gedenkveranstaltung gegen Gewalt und Rassismus.

"Heute ist wieder ein Zug angekommen. Dann haben sie den Fischwaggon aufgemacht und dann sind sie hinaus gefallen: Hochschwangere, kleine Kinder – mein Gott und alle haben sie ins KZ gebracht, vom Bahnhof ins KZ hinauf", erinnert sich Zeitzeugin Anna Hackl.

Mauthausen bedeutete Vernichtung des sogenannten Gegners. Gemordet wurde durch Erschlagen, Erhängen, Verhungern und Erfrieren lassen, Herzinfektionen, Vergasung.

2. Februar 1945: 500 Häftlinge, fast ausnahmslos sowjetische Offiziere wagen die Flucht. Nicht nur die SS, sondern auch die Bevölkerung beteiligte sich an der Suche.

65 Jahre später: 2. Februar 2010: Jugendliche aus Oberösterreich und Lehrlinge der ÖBB versuchen am selben Ort zu begreifen, was damals geschehen ist. Sie begeben sich bei eisigen Temperaturen auf Spurensuche der sogenannten "Mühlviertler Hasenjagd". Die Schüler und Lehrlinge waren dort, wo die KZ-Häftlinge um ihr Leben rannten.

In den Wochen danach haben sich die Jugendlichen in ihren Schulen mit Unterstützung der Lehrer und der Demokratiewerkstatt des Parlaments intensiv mit dem befasst, was sie gesehen und erfahren haben. Sie haben begonnen, nachzuforschen, nachzufragen, nachzudenken, untereinander und mit der Bevölkerung darüber zu diskutieren.

Gestern durfte ich ebenfalls mit den Jugendlichen, die ich noch einmal besonders begrüßen möchte, über das, was sie erlebt und gelernt haben, ausführlich debattieren. Ich bin beeindruckt von ihrem großen Verständnis und davon, wie sehr es ihnen gelingt, eine Verbindung zu ihrer Gegenwart und zu ihrer Lebenswelt herzustellen. Ein Zeichen, das auch der Politik klar macht, dass Gedenken eine zukunftsgerichtete Aufgabe ist.

Es geht aber nicht bloß um die Sammlung von Wissen darüber, was geschehen ist, und wozu Menschen fähig sind. Es geht darum, Werte und Haltungen anzueignen, mit denen wir leben wollen – Werte, wie Respekt, Toleranz, Zivilcourage – Werte, liebe Jugendliche, mit denen Ihr Euch in den Workshops intensiv befasst habt, die Ihr nun einfordert bei Euren Freunden, bei Euch und von der Politik.

So war auch der nun seit 15 Jahren tätige Nationalfonds Bekenntnis und Ausdruck eines neuen und verantwortungsbewussten Selbstverständnisses im Umgang der Republik Österreich mit ihrer Geschichte und dazu, dass zahlreiche Österreicher aktiv an den Verbrechen des Holocaust beteiligt waren und andere bewusst weggeschaut haben. Daraus resultiert eine Mitverantwortung, der sich Österreich seit den 90er Jahren in einer besonderen Weis bewusst geworden ist. Österreich hat diesen Weg mit der Einrichtung des Entschädigungs- und Versöhnungsfonds sowie anderen Aktivitäten fortgesetzt.

Es zeichnet heute unser Beisammensein aus, dass Sie, verehrter Herr Prof. Wladyslaw Bartoszewski, bei uns sind. Sie haben das Gedenken als Reflexion definiert, die in aller Stille stattfindet. Ein nachdenkliches Schweigen und ein geduldiges Lauschen nach den "Geisterstimmen der Vergangenheit". Ich bin Ihnen dankbar dafür, dass Sie das heutige Zusammentreffen von Jung und Alt mitgestalten und wir so den Bogen über die Generationen spannen. Denn wir haben in den vergangen Jahren erfahren, wie schwer es für Menschen sein kann, das in Worte zu fassen, was sie durchleben und durchleiden mussten. Wir haben auch erfahren, wie schwer es für uns, die nur am Rande oder gar nicht mehr von all dem betroffen sind, sein kann, angemessene Worte zu finden. Und genau hier setzt das Projekt auch wieder an: Es sind das Gespräch und die unmittelbare Erfahrung für die Jugendlichen, die sie aufrütteln und zu engagierter Auseinandersetzung führen, wie uns dies auch heute beeindruckend veranschaulicht wurde.

Liebe junge Freunde, Prof. Bartoszewski hat das sein ganzes Leben über getan. Er hat im polnischen Widerstand gekämpft, war in Auschwitz und nahm am Warschauer Aufstand teil. Er ist ein großer Historiker und Politiker. 2008 hat er in einer Rede in Dachau Gedenken als "Aufbegehren gegen die Gleichgültigkeit" bezeichnet. Das ist es wohl auch, was sein Leben und Wirken charakterisiert. Damit baut er auch die Brücke zwischen den Erfahrungen, die Ihr im Rahmen des Projekts gemacht habt, und seinen Erfahrungen und  dem, was die Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, die heute unter uns sind, erfahren und erlebt haben.

"Bildung allein ohne Rückbesinnung auf die fundamentalen Werte, kann in die Irrwege der perfektionierten Unmenschlichkeit führen" hat Prof. Bartoszewski formuliert und auch der Erziehungspsychologe Haim Ginott appelliert in einem polnischen Lehrbuch über den Holocaust: "Liebe Lehrer! Ich bin Überlebender eines Konzentrationslagers. Meine Augen haben gesehen, was niemand je sehen sollte. Gaskammern, gebaut von gelernten Ingenieuren, Kinder, vergiftet von ausgebildeten Ärzten, Säuglinge, getötet von geschulten Krankenschwestern, Frauen und Babys, erschossen und verbrannt von Hochschulabsolventen... Meine Forderung ist, dass Lehrer ihren Schülern helfen, menschlich zu werden… Lesen, Schreiben, Rechnen sind nur wichtig, wenn sie dazu dienen, unsere Kinder menschlicher werden zu lassen."

Ich danke allen in unserem Land, insbesondere den Pädagoginnen und Pädagogen, die auch die dunklen Seiten unserer Geschichte mit unser Jugend aufarbeiten und sie so zu einem Miteinander und nicht Gegeneinander führen.

Liebe junge Freunde, Ihr habt durch die intensive Beschäftigung mit Mauthausen bewusst einen tiefen Blick in eine Zeit gewagt, die den Einbruch der Unmenschlichkeit in die zivilisierte Welt bedeutete. Und Ihr habt in beeindruckender Weise Eure Schlussfolgerungen gezogen: Gedenken ist Verpflichtung zum Aufbegehren gegen die Gleichgültigkeit oder wie es einer von Euch formulierte: "Was mir in Mauthausen bewusst wurde: Nicht wegschauen sondern handeln!" (Schluss)