Parlamentskorrespondenz Nr. 325 vom 05.05.2010

Bartoszewski: Verantwortungsbewusst mit der Vergangenheit umgehen!

Wien (PK) – Wortlaut der Rede des früheren polnische Außenministers, Staatssekretär Wladyslaw Bartoszewski, bei der Gedenkveranstaltung gegen Gewalt und Rassismus.

Sehr geehrte Frau Nationalratspräsidentin Prammer,

sehr geehrter Herr Bundesratspräsident Mitterer,

verehrte Damen und Herren Abgeordnete!

Ich habe heute die Ehre – und manche von den hier Anwesenden werden sich daran vielleicht noch erinnern können –, schon zum zweiten Mal die Rede zum Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus vor dem hochgeschätzten Parlamentsgremium zu halten. Es ist für mich gewissermaßen ein rundes Jubiläum, denn meine frühere Adresse an das Hohe Haus fand vor zehn Jahren statt, im Mai 2000. Erlauben Sie mir daher, für die erneute Einladung aufrichtig und herzlich zu danken.

Natürlich unvergleichbar wichtiger als mein persönliches Jubiläum ist die Tatsache, dass dieser Anlass in einer ganzen Reihe von runden Jahrestagen, Gedenkfeiern und Jubiläen steht, die wir neulich begangen haben oder begehen, und die den europäischen Völkern im erfreulichen wie im tragischen Sinne gemeinsam sind. Ich denke hier an die beiden großen Anlässe des vergangenen Jahres 2009, in dem sich zum 70. Mal das Drama des Kriegsausbruchs jährte und zugleich zum 20. Mal der Sieg der Freiheit und der Einheit in Mitteleuropa bejubelt werden konnte. Zwei Ereignisse, so unterschiedlich wie der Tod und das Leben, und dabei doch paradoxerweise wie der Tod und das Leben miteinander untrennbar verwobene Meilensteine der neuesten Geschichte des 20. Jahrhunderts. Und ich denke auch an die diesjährigen Termine, wie den 65. Jahrestag der Befreiung des ehemaligen Konzentrations- und Todeslagers Auschwitz-Birkenau am 27. Januar. Dieses Datum wurde in manchen Ländern – unter anderem in Deutschland – zum symbolischen Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus, ähnlich wie der 5. Mai in Österreich, das Datum der Befreiung des Konzentrationslagers Mauthausen.

Sind die letztgenannten eigentlich erfreuliche Anlässe? Wenn man sie aus der Perspektive der damals überlebenden Häftlinge betrachtet – einer vergleichsweise Handvoll Geretteter von dem Rand des gähnenden Abgrunds, der Millionen Anderer verschluckte –, wenn man sie also aus der Sicht des Sieges über die unmenschlichen Übel des nationalsozialistischen Mordsystems erblickt, dann gewiss! Aber gleichzeitig: Wenn einer dem unvorstellbaren Bild von Leichenhaufen und Bergen menschlicher Asche gegenübersteht, dann empfindet er keine Freude über die Befreiung. Er empfindet nur Trauer, denn er hat das Werk der Bestie im Menschen gesehen, auch wenn die Bestie mit Aufwand von Millionen Leben zerschlagen werden konnte. Er empfindet Schmerz. Und er empfindet schließlich Angst, ob diese Bestie je gänzlich aus der menschlichen Seele zu entwurzeln, zu verbannen und auszurotten ist. Oder ob sie ungeahnt in dunklen Ideenwelten so mancher braver Bürger überdauert.

Nein, Gedenktage wie der heutige, sind keine Feste der Freiheit und Freude. Es ist unangenehm, aber richtig, wenn sie mit Angst und Schrecken erfüllen, solange dieser Schrecken uns motiviert anstatt uns erstarren zu lassen. Wir sind mittlerweile gewöhnt, bei Gedenkzeremonien mit in Trauer hängenden Köpfen vor Denkmälern und Gräbern, vor Symbolen des Leidens, unsere Achtung gegenüber den Opfern auszudrücken. Ich glaube aber, dass Anlässe wie dieser dazu da sind, um den Ermordeten für einen Augenblick unsere Münder zu leihen, damit sich aus dem Jenseits Stimmen erheben können. "Das Blut deines Bruders schreit zu mir vom Ackerboden", heißt es in der Genesis, Kapitel 4, Vers 10.

Es wird gesagt, dass dafür, was Menschen in Konzentrationslagern angetan wurde, keine Worte adäquat sind. Dass das Ausmaß des Grauens sprachlich unbeschreiblich sei. Dass einer nur in stiller Reflexion schweigen kann. Aber dort, wo die Gerechtigkeit und die Vernunft schweigen, können Dämonen lautstark Massen in ihren Bann ziehen. Meine Generation hat schon einmal ein Europa erlebt – viele nicht überlebt –, in dem stillschweigend zugesehen wurde, wie das Böse erwacht und schrittweise willige Mitläufer gewinnt. Ich bin einer der Zeitzeugen jener Phase der europäischen Geschichte; und als Pole, erzogen in einer durchschnittlichen bürgerlichen Familie in Warschau, habe ich die Erschütterung der damaligen europäischen Ordnung und die Katastrophe des Zweiten Weltkriegs von Anfang an bewusst miterlebt.

Ein Jahr vor meinem Abitur wurde die souveräne Republik Österreich von der Landkarte gelöscht, der erste Staat Europas, der schon im März 1938 seiner Souveränität beraubt wurde, wodurch dann Millionen Österreicher vor tragische Dilemmata gestellt wurden, die die Kraft der meisten Durchschnittsbürger überstiegen. Am 40. Jahrestag der Ereignisse vom März 1938 hat der damalige Bundespräsident, Dr. Rudolf Kirchschläger, ein allseits verehrter österreichischer Patriot, folgendermaßen zu diesem Problem Stellung genommen:

"Die Welt kennt die Bilder vom Einzug Hitlers in Österreich. Worüber sie weniger Bescheid weiß, ist die große Verhaftungswelle, welche noch in der Nacht des 11. März begann und in den folgenden Wochen unser Volk seiner politischen Repräsentation beraubte, tiefe Wunden in viele Familien riss und tausende von Österreichern zur Flucht ins Ausland veranlasste."

Die Gesamtbilanz der Kriegsverluste und Zerstörungen Österreichs ist beeindruckend. Wie aus glaubhaften Dokumentationen hervorgeht, wurden über 2.500 Österreicher in Gerichtsverfahren als aktive Widerstandskämpfer zum Tode verurteilt und hingerichtet. Rund 16.500 österreichische Widerstandskämpfer in Konzentrationslagern ermordet, fast 10.000 in Gestapogefängnissen. Dazu kommen über 50.000 österreichische Juden, deportiert und anschließend in verschiedenen Konzentrationslagern und Vernichtungslagern umgebracht. Darüber hinaus ist fast eine halbe Million Österreicher auf Schlachtfeldern des von Hitler entfachten Infernos gefallen. Auf das blutige Konto des Krieges gehen schließlich auch zivile Opfer von Luftangriffen. 

Andererseits darf man bei Anlässen wie dem heutigen nicht jene Österreicher übersehen, die sich massenhaft und freiwillig an den Maßnahmen des NS-Regimes gegen die eigenen Landsleute beteiligt haben. Der Bundespräsident Österreichs in den Jahren 1951 - 1957,  Theodor Körner, hat kurz nach der Befreiung erklärt:

"Die menschliche Natur besitzt die wunderbare Eigenschaft, die angenehmen Erlebnisse in dauernder Erinnerung zu behalten, die unangenehmen dagegen mit der Zeit abzustreifen. Sie verblassen im Laufe der Jahre, man unterdrückt schließlich selbst die Erinnerung daran, ist froh, darüber nicht mehr sprechen zu müssen, bis sie schließlich im Bewusstsein ganz zurücktreten und nach und nach erlöschen. Diese für das Gemütsleben und das Nervensystem des Menschen erfreuliche Eigenschaft ist zugleich eine politische und kulturelle Gefahr, denn was der Faschismus der Menschheit angetan hat, darf nicht in Vergessenheit geraten."

Ein erfreulicher Umstand besteht darin, dass in vielen Ländern Europas – auch in Österreich – inzwischen Generationen herangewachsen sind, die die Vergangenheit neu entdecken. Ihren Großeltern war es im allgemeinen nicht gegeben, die Geschichte der unlängst vergangenen Jahre kennenzulernen und darüber zu reflektieren. Die Gründe dafür sind sehr kompliziert; die häufigste Ursache besteht in der vor mir erwähnten lähmenden Angst, dass die an den Ereignissen der Kriegszeit beteiligte Generation ihre eigene Haltung beurteilen müsste. Für die jüngeren Generationen steht es aber außer Zweifel, dass der Vollzug von Gerechtigkeit unter anderem darin besteht, dass man die Opfer weiterhin ehrt und die Vollstrecker der NS-Verbrechen nicht in Vergessenheit geraten lässt.

Als ehemaliger polnischer Häftling eines Konzentrationslagers und als Historiker des Zweiten Weltkriegs möchte ich diese ehrenvolle Gelegenheit nutzen, um von ganzem Herzen eben jenen vielen Österreichern zu danken, die sich unermüdlich für das Gedenken an die Vergangenheit einsetzen. Dankbarkeit von uns allen, die wir Zeugen jener Jahre sind, gebührt den österreichischen Historikern, Schriftstellern und Publizisten, die viel Zeit und Mühe – oft ihr gesamtes Werk zu Lebzeiten – darauf verwendet haben, um ein tiefschürfendes, richtiges Bild der komplizierten Menschenschicksale zu zeichnen und zu verewigen. Hier könnte man viele Namen nennen, doch beschränke ich mich auf die von Simon Wiesenthal und Frau Prof. Erika Weinzierl. Erinnern möchte ich auch an einen hervorragenden Österreicher, den steirischen Altlandeshauptmann Dr. Stepan, einen ehemaligen KZ-Häftling, mit dem ich 1963 in Graz über unsere Lagererfahrungen sprechen konnte, und an die Freunde meiner Generation – in der Kriegszeit gezwungenermaßen Wehrmachtssoldaten – Dr. Kurt Skalnik und Dr. Wolfgang Kraus, durch die ich das Phänomen der österreichischen Identität und des tiefen österreichischen Patriotismus besser begreifen lernte.

In meiner Erinnerung bleiben auch die Namen der über 80 vom Institut Yad Vashem in Jerusalem als "Gerechte unter den Völkern der Welt" geehrten Österreicher, die bereit waren, ihr Leben aufs Spiel zu setzen, um andere in tödlicher Bedrohung zu retten.

Sehr geehrte Frau Nationalratspräsidentin, sehr geehrter Herr Bundesratspräsident, verehrte Damen und Herren!

Wie schon erwähnt, spreche ich vor dem Hohen Haus schon zum zweiten Mal, nach zehn Jahren. Was wäre meinen Gedanken von damals hinzuzufügen? Hat es Sinn nach neuen Reflexionen über Ereignisse zu suchen, die mit jedem Jahrestag zeitlich von uns ferner rücken und immer weniger Lebende direkt betreffen? Bedenken wir aber, dass sich Europa seit 2000 wesentlich geändert hat. Dass wir inzwischen eine Gemeinschaft unter dem Schirm der EU bilden, und dass gerade in diesem neuen, zukunftsorientierten und offenen Europa die Neigung zur Suche und zur Debatte über die Wurzeln unserer Identität und Gegenwart stärker auftaucht als noch vor Jahren, wenn alle geschichtlichen Kapitel abgeschlossen zu sein schienen und doch in Wahrheit aus Mangel an Dialogwegen nur eingefroren waren.

Dieses gegenwärtig auflebende Interesse an der Geschichte ist einerseits erfrischend, bringt andererseits auch vielerorts alte Konflikte ins Licht. Doch in meinen Augen ist es immer vorteilhafter sich mit historisch bedingten Vorurteilen öffentlich auseinanderzusetzen, als sie unbeaufsichtigt brodeln zu lassen, bis sie zum Nährboden für erneutes Unheil werden. Erlauben Sie deshalb, dass ich meine Rede mit dem Plädoyer für verantwortungsbewussten Umgang mit der Vergangenheit – vor allem mit ihren tragischen Seiten – abschließe. Für Rückbesinnung auf die Lehre der Erfahrung. Und für ein offenes Ohr für die Stimmen der Opfer, deren wir heute gedenken, der Opfer unterschiedlichen Geschlechts, Glaubens, unterschiedlicher Nationalität: Juden, Sinti und Roma, Slawen, aber auch Österreicher, die den Mut zu Ungehorsam im Einklang mit dem eigenen Gewissen hatten. Auch wir brauchen heute Mut zum zivilen Ungehorsam, um Fehler und Übel im Zusammenhang mit grausamer Vergangenheit beim Namen zu nennen.

Für denkende Menschen, insbesondere jene, die an einen Gott glauben, führt kein Weg an der Tatsache vorbei, dass unter den Schuldigen nicht nur unmittelbare Täter sind, sondern auch die Gleichgültigen. Gleichgültigkeit gegenüber dem Bösen ist die größte Sünde. Geben wir uns nicht damit zufrieden, dass in irgendeinem Land - obwohl dies positiv ist - die einst begangenen Verbrechen zugegeben und angeprangert werden. Setzen wir uns mit der Quelle des Unheils in unserem eigenen Haus auseinander. Der Mensch des 21. Jahrhunderts, der glückliche Mensch der Zukunft, braucht vor allem eines: reines Gewissen. Und es gibt kein reines Gewissen ohne fundamentale Wahrheit. Das wünsche ich den Österreichern, das wünsche ich uns -allen Menschen. Danke.