Parlamentskorrespondenz Nr. 524 vom 24.06.2010

Obsorge und elterliche Verantwortung: die Debatte

PolitikerInnen und ExpertInnen im Gespräch

Wien (PK) - Im Rahmen der an die ExpertInnenreferate anschließenden Diskussion in der heutigen Parlamentarischen Enquete bezogen VertreterInnen der Parlamentsparteien und ExpertInnen zu den Beiträgen der ReferentInnen durchaus kontrovers Stellung.

Abgeordnete Sonja Ablinger (S) veranlassten die Ausführungen Lehners zur Frage, was neben der verpflichtenden gemeinsamen Obsorge noch angedacht werde. Gehe man den hiermit eingeschlagenen Weg nämlich konsequent weiter, so komme man etwa auch zum verpflichtenden Vätermonat, zur verpflichtenden Teilnahme von Vätern an Elternsprechtagen und zu verpflichtenden Anti-Gewalttrainings für all jene, die ihrer Familie Gewalt antun. Sie glaube, dass die österreichischen Männer von sich aus gerne dem Vorurteil, sich nicht um ihre Kinder zu kümmern, entgegentreten würden.

Abgeordneter Heribert Donnerbauer (V) bezeichnete es als allgemein anerkannte Tatsache, dass der regelmäßige Kontakt eines Kindes zu beiden Elternteilen wesentlich zu seiner Entwicklung und seinem Wohl beitrage. Diese Feststellung solle daher auch Grundlage und Richtschnur im Zuge der Ausarbeitung einer Reform des Familienrechts sein. In diesem Bereich gehe es nicht um Väter und Mütter und den Streit zwischen ihnen, sondern um das Kindeswohl, für das seine Fraktion klar eintrete. Dass laut Familienbericht rund 40 % der Kinder nach einer Scheidung keinen Kontakt mehr zu einem Elternteil aufrechterhalten, ist Donnerbauer zufolge ein alarmierendes Zeichen, das zeige, wie dringend es einer Weiterentwicklung in diesem Bereich bedürfe.

Abgeordneter Peter Fichtenbauer (F) bezeichnete es als spezifischen Fall von Kindesmissbrauch, wenn Kinder nach einer Trennung zur "Waffe" eines Elternteils gegen das andere werden. Das Kindeswohl, um das es gehen müsse, werde derzeit aber "mit Füßen getreten" – und dies vor allem dann, wenn Kinder in Verfahren "gezerrt" werden. Deutschland habe die für Österreich nun diskutierten Schritte bereits gesetzt und könne aufgrund der kulturellen Nähe durchaus als Vorbild fungieren. Für Fichtenbauer stand fest, dass ein Drittel der 10.000 jährlich geführten Obsorgeverfahren entfiele, wenn man dem Gebrauch der Obsorge als "Waffe" einen Riegel vorschiebe. Er sprach sich außerdem für schnellere gerichtliche Entscheidungen aus, um Rechtssicherheit zu schaffen.

Abgeordneter Albert Steinhauser (G) hielt es für besonders wichtig, bestehende Trennungskonflikte zum Wohle der Kinder aufzuarbeiten. Das Modell einer automatischen gemeinsamen Obsorge gehe nicht unbedingt mit dem Ende der Konflikte einher, da man Gemeinschaft nicht erzwingen könne, sondern erarbeiten müsse. Seine Fraktion trete deshalb dafür ein, eine Schlichtungsstelle mit der Lösung zu beauftragen, sofern zwischen den ehemaligen Partnern keine Einigung erzielt werden konnte. Erst wenn die Bemühungen dieser Stelle scheiterten, solle ein Gericht mit dem Fall betraut werden, wobei am Ende eines solchen Verfahrens die Obsorge nur einem Elternteil zuzusprechen ist.

Abgeordneter Ewald Stadler (B) hielt es für notwendig, die Diskussion um familienrechtliche Belange im Rahmen der Enquete sachlich zu halten. Dieses Gebiet eigne sich auch nicht für das Austragen eines Geschlechterkampfs, da dieser immer zu Lasten der Kinder gehe. Im Unterhaltsrecht liegt für Stadler einiges "im Argen", was es zu ändern gelte, um Alleinerziehenden entgegenzukommen. Für ihn enthalte der Begriff Kindeswohl aber in jedem Fall das Recht auf beide Elternteile. Die im Referat von Susanne Ferrari vorgeschlagene Aufgliederung des Obsorgerechts in die Bereiche Inhabe und Ausführung begrüßte er ausdrücklich.

Rosa Logar hielt die gegenwärtige Gesetzeslage für vollkommen ausreichend. Gemeinsame Obsorge sei gut, wenn man diese Einigung erzielen könne, doch entspreche ein Automatismus auf diesem Gebiet nicht der gesellschaftlichen Realität. So müsse etwa das Recht des Kindes auf Schutz vor Gewalt Vorrang vor dem Recht eines gewalttätigen Vaters haben.

Auch Olaf Kapella kam auf das Thema Gewalt im sozialen Nahraum von Kindern zu sprechen und gelangte dabei zum Fazit, dass die Einführung der gemeinsamen Obsorge weder zur Lösung von Problemen auf der Partnerschaftsebene noch zur Regelung der Gewaltproblematik beitragen könne. Der vorgeschlagene Automatismus sei aber ein dringend erforderliches Signal in der Geschlechterpolitik.

Maria Rösslhumer sah als Vertreterin der österreichischen Frauenhäuser keine Notwendigkeit zur Änderung der bestehenden Rechtslage. Gewalt an Frauen und Kindern würde im Zuge der Diskussion um die gemeinsame Obsorge nach wie vor zu wenig berücksichtigt, ihre Einführung im Sinne eines Automatismus führe im Gegenteil zu einer "höchst gefährlichen Situation" für die Betroffenen. Für sie gelte es vielmehr, die Obsorgepflichten der Eltern ins Zentrum zu rücken und Maßnahmen zur Verbesserung des Kinderschutzes zu setzen.

Günter Danhel sprach sich für den Ausbau der gemeinsamen Obsorge aus und verwies auf positive Argumente aus der Forschung. So werde sie etwa im Familienbericht als Maßnahme zur Deeskalation in schwierigen familiären Situationen hervorgehoben. Für ihn galt es, das Kindeswohl im Auge zu behalten und dabei auch Respekt vor der Autonomie der Paare zu haben.

Martin Stiglmayr forderte dazu auf, nicht Streit und Gewalt ins Zentrum der Diskussion zu rücken, da er diese Themen strikt vom Obsorgethema getrennt wissen wollte. Er wies vielmehr darauf hin, dass die Vereitelung des Besuchsrechts auch als Gewalt am Kind zu verstehen sei. Neben der Einführung der automatischen gemeinsamen Obsorge forderte er auch die genaue Definition des Begriffs Kindeswohl.

Abgeordnete Daniela Musiol (G) verwahrte sich dagegen, die skandinavischen Länder zum Vorbild in der Frage der Obsorge zu erklären. Dort finde man insgesamt andere gesellschaftliche Voraussetzungen vor als in Österreich. Man müsse außerdem erkennen, dass Eltern, die sich nicht einigen können, keine gute Basis für eine verpflichtende gemeinsame Obsorge darstellten. Vorauszusetzen, dass alle Paare eine Übereinkunft erzielen, sei realitätsfern, schloss sie.

Dietmar Hofstätter zufolge führt das System der alleinigen Obsorge zur "Ausschaltung" und "rechtlichen Kastration" eines Elternteils. Es sei bedauerlich, überhaupt über die Einführung der gemeinsamen Obsorge diskutieren zu müssen. Für ihn gelte es vielmehr zu fragen, wie man überhaupt zur Implementierung der alleinigen Obsorge gekommen ist. Die Einführung einer Beratungspflicht hielt er vor allem für schwierige Fälle für sinnvoll, doch müssten die Beratungen so lange fortgeführt werden, bis eine Einigung erzielt wurde.

Günter Tews forderte die Orientierung Österreichs am deutschen Modell und stellte sich entschieden gegen die "Gräuelmärchen", die über das System der gemeinsamen Obsorge erzählt werden. Die Gesetzgebung habe die Eltern aus der gemeinsamen Verantwortung "vertrieben", was es nun zu revidieren gelte. Das Kindeswohl sei ein "teures Gut", weshalb er auch auf die Aufstockung der finanziellen Ressourcen für Familiengerichte und Jugendwohlfahrt poche.

Wolfgang Siebenhandl sprach als betroffener Vater davon, dass die Verantwortung, die beide Elternteile für Kinder haben, nicht abgegeben werden kann. Ebenso wenig sollte es aber auch möglich sein, sie einem anderen zu entziehen. Ausnahmen von dieser Regel wären nur in Fällen der physischen und psychischen Gewaltanwendung zulässig, meinte er.

Andrea Brem verwies auf die Bedeutung verlässlicher Bezugspersonen für Kinder. Dort, wo es keine Einigung zwischen Vater und Mutter gibt, sollten psychologische Beratungen und nicht vorwiegend Gerichtsentscheide zur Konfliktlösung beitragen. Außerdem gelte es jene Väter in die Pflicht zu nehmen, die sich nur unzureichend um ihre Kinder kümmerten.

Abgeordnete Tanja Windbüchler-Souschill (G) machte darauf aufmerksam, dass Kinder laut UN-Kinderrechtskonvention zwar ein Recht auf elterliche Fürsorge und Familie, nicht aber auf gemeinsame Obsorge der Eltern hätten. Das sei deshalb der Fall, um Kinder gegebenenfalls auch vor Gewalt im Nahbereich zu schützen. Vor dem Hintergrund eines konkreten Fallbeispiels warf sie etwa die Frage auf, ob ein Kind auch das Recht auf einen Vater habe, der die eigene Mutter töten wollte.

Guido Löhlein stellte fest, dass das Abbrechen des Kontakts zum Vater häufig auch das Abbrechen des Kontakts zur ganzen väterlichen Familie zur Folge hat. Die alleinige Obsorge lasse außerdem Machtgefälle entstehen. Es gelte daher zum System der gemeinsamen Obsorge zu wechseln und die Zeithorizonte für familienrechtliche Entscheidungen knapper zu bemessen, um die Kinder ihren Vätern nicht weiter zu entfremden.

Abgeordnete Gabriele Binder-Maier (S) hob die Bedeutung des Faktors Stabilität für von Trennungen betroffene Kinder hervor. Bezugnehmend auf das Fazit des Familienberichts forderte sie ein Mehr an Gleichberechtigung in Partnerschaften und klare Regelungen für von Trennungen Betroffene.

Andrea Mautz stellte fest, dass das System der gemeinsamen Obsorge dann Sinn mache, wenn das getrennte Paar noch miteinander sprechen könne. Sei dies der Fall, wären viele Möglichkeiten denkbar. Wo man es aber mit zu starken Verletzungen zu tun habe, müsse eine Lösung gefunden werden, die den Kindern am wenigsten Schaden zufüge.

Barbara Stekl hielt fest, dass viele Mütter, die Beratungen aufsuchten, beklagten, dass sich die Väter ihrer Kinder nicht oder nur unzureichend um diese kümmerten. Es gelte diese Männer aber in die Pflicht zu nehmen. Eine automatische gemeinsame Obsorge sei – gerade vor dem Hintergrund von Gewalterfahrungen in einer Familie – ihres Erachtens nicht sinnvoll.

Markus Huber rief zur sachlichen und differenzierten Auseinandersetzung mit der Thematik auf und sprach sich dafür aus, verschiedene familienrechtliche Probleme in der Diskussion nicht einfach zu vermengen. Bei Änderungen der Gesetzeslage dürfe man auch nicht auf Extremfälle abstellen. Was die Festlegung des Hauptaufenthaltsortes für Kinder betreffe, seien Nachbesserungen geboten, um einvernehmliche Lösungen zu ermöglichen.

Abgeordnete Karin Hakl (V) zeigte sich "fassungslos" über die Gewalt, die in manchen Familien herrsche. Ebenso fassungslos machten sie aber auch die Schlussfolgerungen, die aus dieser Situation für die Regelung der Obsorge gezogen werden. Das System der gemeinsamen Obsorge sei klar zum Wohl des Kindes, Abweichungen müsse man im Einzelfall aber ermöglichen.

Abgeordnete Anneliese Kitzmüller (F) bezeichnete die Einführung der automatischen gemeinsamen Obsorge in Deutschland und der Schweiz als großen Erfolg. Im Falle einer Trennung von nicht verheirateten Paaren solle der neue Lebensgefährte der Mutter auch nicht besser gestellt sein als der biologische Vater, forderte sie.

Abgeordneter Robert Lugar (B) hielt fest, dass Kindern durch das System der gemeinsamen Obsorge kein Schaden entstehe. Kinder wollten in Trennungssituation auch keine Entscheidung für nur einen Elternteil treffen. Eine Trennung vom Partner müsse schließlich keine Trennung vom Kind sein.

Abgeordneter Johannes Jarolim (S) kam zum Schluss, dass auf das soziale Gefüge Familie keine "Formeln" anwendbar sind. Anzunehmen, dass die gemeinsame Obsorge alle Probleme lösen werde, sei schlichtweg falsch.

Bundesrat Edgar Mayer (V) beklagte das zu Kurzkommen von Kinderrechten und hielt eine Regelung zur automatischen gemeinsamen Obsorge für ein "Gebot der Stunde". Verbesserungen sind aus seiner Sicht aber auch im Besuchsrecht notwendig.

Abgeordnete Gisela Wurm (S) forderte die Schaffung geeigneter sozialer Rahmenbedingungen für ein partnerschaftliches Miteinander. Was die familienrechtlichen Verfahren anbelangt, forderte sie eine Verkürzung der Prozessdauer.

Helene Klaar stellte sich gegen die Vermengung von Obsorge und Besuchsrecht in der Diskussion. Gemeinsame Obsorge sei schon jetzt freiwillig möglich, ein allgemeines Aufoktroyieren erschiene ihr aber nicht sinnvoll. Dem ebenfalls diskutierten Verzicht auf einen hauptsächlichen Aufenthaltsort für das Kind könne sie nichts abgewinnen, da es bedeute, den Anspruch auf einen festen Wohnsitz – und damit Stabilität – zu entziehen. (Forts.)