Parlamentskorrespondenz Nr. 846 vom 28.09.2011

Praktiker bewerten Erfolge der Strafprozessreform unterschiedlich

Evaluierungsbericht der Justizministerin liegt dem Parlament vor

Wien (PK) – Mit der Vorlage des Evaluierungsberichts zur Umsetzung des Strafprozessreformgesetzes (III-272 d.B) entspricht Justizministerin Beatrix Karl einer Entschließung des Nationalrats, in der um eine eingehende Analyse der Auswirkungen der Reform des strafgerichtlichen Vorverfahrens ersucht wurde. Die Ergebnisse dieses Unterfangens, die nun in Form eines rund 500 Seiten starken Buches vorliegen, gewähren dementsprechend tiefe Einblicke in die Verfahrenswirklichkeit nach Inkrafttreten der Prozessreform.

Die Evaluierung erfolgte sowohl in Form einer quantitativen und qualitativen Analyse sowie einer Untersuchung des rechtswissenschaftlichen Meinungsstandes. Dabei wurden 5.000 Akten systematisch ausgewertet, 86 Interviews mit KriminalbeamtInnen, StaatsanwältInnen, RichterInnen und RechtsanwältInnen geführt und die zum reformierten Strafverfahren veröffentlichten Fachbeiträge eingesehen.

Zur Notwendigkeit der Durchführung der Strafprozessreform

Kern der Strafprozessreform ist die Ablöse des Untersuchungsrichtermodells durch ein einheitliches Ermittlungsverfahren, das unter Leitung der Staatsanwaltschaft in Kooperation mit der Kriminalpolizei geführt wird. Eine diesbezügliche Veränderung des Prozedere war, wie der Bericht ausführt, notwendig geworden, da das Konzept des direkten Einschreitens des Untersuchungsrichters scheitern musste: Es wurde deshalb auch niemals in der Intention des historischen Gesetzgebers verwirklicht.

Obgleich die Judikatur aber bald zu einem weiteren Beweisbegriff fand und damit sämtliche Ermittlungen der Sicherheitsbehörden als Beweis zuließ, blieb ein "unerträgliches Regelungsdefizit" zurück: Die Art und Weise der Ermittlungen der Polizei wurden vor dem Hintergrund der Tatsache, dass diese Vorerhebungen kein Strafverfahren darstellen sollten, keiner Regelung zugeführt. Dementsprechend waren in diesem Verfahrensstadium auch keine Verteidigungsrechte für Verdächtigte vorgesehen, skizziert der Bericht.

Die Neuerungen im Überblick

Mit der Strafprozessreform, die am 1.1.2008 in Kraft trat, schuf der Gesetzgeber nicht nur ein einheitliches Ermittlungsverfahren unter Leitung der Staatsanwaltschaft, sondern sorgte auch für eine klare Aufgabenverteilung zwischen Staatsanwaltschaft, Kriminalpolizei und Gerichten. Mit der Übertragung der Ermittlungsaufgabe an die Exekutive, der nun auch zeitgemäße Befugnisse zur Erfüllung dieser Aufgabe zur Verfügung stehen, trug man außerdem der Ermittlungsrealität Rechnung. Die rechtliche Kompetenz der Staatsanwaltschaft, Ermittlungen zu steuern und auf das Verfahrensziel auszurichten, wurde gestärkt, heißt es im Bericht.

Zentrale Rechtsschutzaufgaben fielen nach Reform des Strafprozesses an die Gerichte. Die Verteidigungsrechte wurden außerdem durch Schaffung des materiellen Beschuldigtenbegriffs ausgebaut. Was das Opfer anbelangt, so erfuhr es eine Aufwertung zum Subjekt des Verfahrens mit eigenständigen Verfahrensrechten.

Zentrale Ergebnisse der quantitativen Analyse

Um ihre neue Leitungspflicht entsprechend wahrnehmen zu können, muss die Staatsanwaltschaft von Straftaten, die Gegenstand eines strafprozessualen Ermittlungsverfahrens sind, auch Kenntnis erlangen. Daher bestehen für die Kriminalpolizei gewisse Berichtspflichten, die mit der Schwere der vorgeworfenen Tat korrelieren.

Bei den strafbaren Handlungen, deren Aburteilung den Landesgerichten obliegt, wurde in 80 % Fälle jedoch keine Anlassberichterstattung verzeichnet, sodass der Staatsanwaltschaft (StA) die "Anzeige" erst durch den Abschlussbericht zur Kenntnis gebracht wurde. Dies legt nahe, dass bis dahin für die StA keine Möglichkeit bestand, in das Verfahren gestaltend einzugreifen. Relativiert wird dieser Befund allein dadurch, dass diesbezügliche Informationen auch durch persönliche und telefonische Kontakte weitergegeben werden können: Gehe man von einem solch weiten Kommunikationsbegriff aus, so gelange man schließlich zum Ergebnis, dass in knapp 58 % dieser Fälle keine Kommunikation zwischen StA und Kriminalpolizei stattfand. Bei den strafbaren Handlungen, deren Aburteilung den Bezirksgerichten obliegt, beträgt dieser Wert sogar 86 %, was nahelege, dass hier die faktische Ermittlungsmacht in noch größerem Umfang bei der Kriminalpolizei liege.

Kooperationsverletzungen zwischen StA und Kriminalpolizei sind jedoch nur in etwa 4 % der Fälle, deren Aburteilung den Landesgerichten, und knapp einem Prozent der Fälle, deren Aburteilung den Bezirksgerichten obliegt, zu verzeichnen.

Der Anteil der durch die StA durchgeführten Vernehmungen ist mit 0,6 % "verschwindend gering". Dies entspreche jedoch der Intention des Gesetzes, da die Möglichkeit der staatsanwaltschaftlichen Vernehmung nur als Ausnahme konzipiert werden sollte. Die StA könne sich aber nicht nur passiv, sondern über die Erteilung konkreter Vernehmungsaufträge an die Kriminalpolizei auch aktiv in diesen Prozess einbringen: Allerdings sind in der Mehrzahl der Fälle keine konkreten diesbezüglichen Aufträge dokumentiert.

Was die Praxis der Verhängung von Zwangsmitteln anbelangt, dominiere in Hinblick auf die Maßnahme Festnahme die Rolle der Polizei: Bei den Fällen, in denen die Aburteilung den Landesgerichten oblag, verhängte die Exekutive dieses Zwangsmittel sogar vorwiegend autonom (78 %). Bei der Hausdurchsuchung spielt die autonome Durchführung durch die Kriminalpolizei hingegen nur eine geringe Rolle.

In Hinblick auf die Art der Beendigung der Ermittlungsverfahren sei festzustellen, dass die Staatsanwaltschaft überwiegend als "Einstellungsbehörde" fungiere: Mehr als die Hälfte der Ermittlungsverfahren wurde schließlich ohne Sanktionsalternativen eingestellt (52,5 %), weitere fünf Prozent fanden durch Diversion seitens der StA Erledigung. Im Bereich der Straftaten, deren Aburteilung den Landesgerichten obliegt, erfolgt die Einstellung in zwei Drittel der Fälle mangels hinreichender Beweise. Bei den Fällen, die vor dem Bezirksgericht abgeurteilt werden, kommt es am häufigsten mangels gerichtlicher Strafbarkeit des Verhaltens zu einer Einstellung.

Dem Gericht komme im strafprozessualen Ermittlungsverfahren, wie vom Gesetzgeber intendiert, nur ausnahmsweise eine Funktion zu. Ermittlungsaufträge an die Polizei gab es aber immerhin bei vier Prozent aller untersuchten Verfahren, die vor dem Landesgericht abgeurteilt wurden: Dabei handelte es sich vorwiegend um Festnahmen, Verhängung einer U-Haft oder Hausdurchsuchungen.

Die neuen Rechtsschutzinstrumente Einspruch und Beschwerde werden, wie der Bericht ausführt, in der Praxis kaum genutzt: Verschwindend gering sei außerdem auch die Bedeutung von Anträgen auf Verfahrenseinstellung.

In der weit überwiegenden Zahl der Fälle komme es im Ermittlungsverfahren auch zu keiner Verteidigerbeziehung: Zumeist (70 % der Fälle) verzichteten die Beschuldigten auf die Namhaftmachung eines Verteidigers. Dabei falle jedoch auf, dass österreichische Beschuldigte tendenziell häufiger einen solchen zuziehen als nicht-österreichische, heißt es im Bericht. Informationen hinsichtlich des anwaltlichen Notdienstes und der Voraussetzungen der Verfahrenshilfe erhalten die Beschuldigten überwiegend durch das Aushändigen eines Formblattes.

Akteneinsicht werde im Zuge des strafprozessualen Ermittlungsverfahrens von den Beschuldigten nur äußerst selten genommen. Wurde sie aber beantragt, gewährte man sie fast immer. Die Vornahme einer Akteneinsicht korreliert dabei meist mit dem Umstand des Bestehens einer anwaltlichen Vertretung, heißt es im Bericht: Ohne derartige Unterstützung werde diese Möglichkeit fast nie in Anspruch genommen.

Obgleich ihre Erfolgsquote im Ermittlungsverfahren hoch liege, stellten Beschuldigte außerdem nur äußerst selten Beweisanträge.

Eine Vertretung von Opfern durch einen Rechtsbeistand kommt laut Bericht in knapp über sieben Prozent der untersuchten Fälle vor. Juristische und/oder psychosoziale Prozessbegleitung werde jedoch relativ selten in Anspruch genommen. Akteneinsicht hätten drei Prozent aller Opfer beantragt: Sie wurde durchgehend gewährt und erfolgte fast ausschließlich durch einen Rechtsbeistand. Die Untergruppe der Privatbeteiligten bringe jedoch häufiger Beweisanträge ein, als dies bei den Beschuldigten der Fall sei. In etwa drei Viertel der Fälle werde diesen auch entsprochen.

Anträge auf Fortführung eines eingestellten Ermittlungsverfahrens sind laut Bericht überaus selten.

Die Strafprozessreform aus Sicht der Praxis

Die mit PolizistInnen durchgeführten Interviews weisen darauf hin, dass die Regelungen hinsichtlich der Vertretung von Opfern zustimmend bewertet werden. Was die Beschuldigtenrechte anbelangt, wird neben einer betont rechtsstaatlichen Position aber auch eine ablehnende Haltung manifest: So stufen sie einige der Befragten sogar als übertrieben, zeitkonsumierend und den Beschuldigten zu sehr schützend ein. Einigkeit herrscht hingegen darüber, dass vom Journaldienst der RechtsanwältInnen kaum Gebrauch gemacht werde. Was die Leitung des Ermittlungsverfahrens anbelangt, gelangt die Untersuchung zum Befund, dass diese Kompetenz in Standardfällen (leichte bis mittlere Kriminalität ohne den Einsatz von Zwangs- und Ermittlungsmaßnahmen verbunden mit Grundrechtseingriffen) vornehmlich bei der Polizei liege. Die StA erfahre über diese Fälle erst durch den Abschluss- bzw. Zwischenbericht. Diese Situation wird von den PolizistInnen grundsätzlich positiv bewertet, wenngleich vereinzelt der Wunsch bestehe, dass die StA auch Vernehmungen von Beschuldigten in diesem Deliktsbereich vornehme. Zu einer verdichteten formellen wie informellen Kommunikation komme es laut Bericht vor allem in Hinblick auf die Spezialgebiete der Drogen- und Wirtschaftsstrafsachen.

Die befragten StaatsanwältInnen stehen (mit einer Ausnahme) durchwegs zur neuen Strafprozessordnung, die sie zum "dominus litis" des Ermittlungsverfahrens mache. In Standardfällen obliege die Leitung der Ermittlungen aber auch aus Sicht der StA der Polizei. Eine diesbezügliche Kompetenzverschiebung trete allerdings in Hinblick auf Wirtschafts- und Drogendelikte ein. In letzteren Fällen käme es auch zu einer dichteren Kommunikation zwischen den Behörden. Die Kooperation zwischen StA und Polizei habe sich dabei weitgehend eingespielt. Was allerdings die Dokumentation der Polizeikontakte anbelange, manifestiere sich eine heterogene Praxis, heißt es im Bericht. Als Gründe dafür, dass die Beschuldigten ihre Rechte in aller Regel wenig nutzten, benennt man die antizipierte wahrscheinliche Erfolglosigkeit der eingebrachten Rechtsbehelfe, Schuldeinsicht, Scham und die korrekte Praxis der Sicherheitsbehörden wie der StA. Die Rechte der Opfer im Ermittlungsverfahren werden aus Sicht der befragten StaatsanwältInnen als günstig betrachtet. Eine ambivalente bis kritische Haltung sei jedoch in Hinblick auf Details erkennbar, heißt es im gegenständlichen Bericht.

Die befragten RichterInnen beurteilen die staatsanwaltschaftliche Ermittlungstätigkeit und die unter ihrer Leitung geleistete Ermittlungsarbeit der Kriminalpolizei überwiegend kritisch: Verwiesen wird in diesem Zusammenhang auf nicht zielführende Vernehmungen und Erhebungen der Kriminalpolizei und das passive Leistungsverständnis der StA. Die RichterInnen berichten in diesem Zusammenhang sogar über Folgeprobleme für die Hauptverhandlung. Aus Sicht dieser Berufsgruppe kann von einer eingespielten Kooperation zwischen StA und Kriminalpolizei daher noch nicht durchwegs die Rede sein. Die neue Rolle als Haft- und Rechtsschutzrichter werde unterschiedlich bewertet und von einem Teil sogar als Bedeutungsverlust klassifiziert: Die Ausübung der gerichtlichen Kontrollfunktion schätzten die Befragten allerdings durchgängig als wichtig ein. Diese werde jedoch durch eine uneinheitliche Aktenführung erschwert, heißt es im Bericht. In Zweifel ziehen die befragten RichterInnen, ob die gängigen Praktiken der Rechtsbelehrung tatsächlich leisteten, was sie zu leisten vorgeben. Bei den Opferrechten gibt vor allem der weit gefasste Opferbegriff Anlass zu Kritik.

Die befragten AnwältInnen zeichnen ein heterogenes Bild des Prozedere um die Akteneinsicht bei der Polizei und kritisieren – zum Großteil vehement – die Praxis der Rechtsbelehrung durch die Exekutive: In einzelnen Fällen erfolge dabei sogar eine Fehlinformation der betroffenen Beschuldigten und Opfer, beanstanden die Befragten. Zufrieden zeigen sich die RechtsanwältInnen in Hinblick auf den Umstand, dass sie nunmehr über das Recht verfügten, bei den polizeilichen Vernehmungen anwesend sein zu dürfen. Vereinzelte kritische Anmerkungen betreffen dabei die unwürdige (rassistische) Behandlung von MandantInnen, die einem migrantischen Milieu entstammen. Was die Bewertung der Opferrechte anbelangt, teilen sich die Meinungen in Abhängigkeit davon, ob der jeweilige Anwalt Beschuldigte oder Opfer vertritt. Einig ist man sich jedoch in Hinblick auf die Bewertung der derzeitigen Regelung von Fortführungsanträgen: Dass man den AntragstellerInnen kein Kostenrisiko auferlegt, wird von allen befragten AnwältInnen begrüßt. (Schluss)