Parlamentskorrespondenz Nr. 1260 vom 17.11.2016

Staatsakt "Geste der Verantwortung" im Zeichen von Demut und der Bitte um Entschuldigung

300 Betroffene im Historischen Sitzungssaal des Parlaments

Wien (PK) – Der Staatsakt, zu dem heute Nationalratspräsidentin Doris Bures und Bundesratspräsident Mario Lindner eingeladen haben, stand im Zeichen von Demut und Entschuldigung. Die von den SchauspielerInnen vorgetragenen Texte – zum Teil veröffentlichte Schilderungen der Erlebnisse ehemaliger Heimkinder – riefen im Saal große Betroffenheit und zum Teil starke Emotionen hervor.

Die Nationalratspräsidentin und der Bundesratspräsident betonten beide in ihren Reden, dass der Staatsakt keinesfalls einen Schlussstrich unter das geschehene Unrecht ziehen kann und soll. Sondern es gehe darum, dass Staat und Kirche gemeinsam das Unrecht benennen, anerkennen und ihre Schuld eingestehen würden (siehe Meldungen des Pressedienstes Nr. 1254/2016, 1256/2016  und 1257/2016). Zu Wort kamen auch Bundeskanzler Christian Kern, Vizekanzler Reinhold Mitterlehner, Landeshauptmann Hermann Schützenhöfer und Kardinal Christoph Schönborn.

Im Mittelpunkt standen die Betroffenen

Im Historischen Sitzungssaal waren neben den VertreterInnen des offiziellen Österreichs und der Kirche rund 300 Betroffene, die mit ihrem individuellen Leid und ihren sehr unterschiedlichen Erfahrungen im Mittelpunkt des Staatsaktes standen. Dargestellt wurde das ganze Ausmaß des geschehenen Unrechts durch künstlerische Verdichtung. Texte von Betroffenen sowie Forschungs- und Kommissionsberichte waren die Grundlage dafür.

Die Dramaturgin Doris Happl hat die Auswahl der Texte übernommen, Regie führte Christine Wipplinger. Die SchauspielerInnen Wolfang Böck, Regina Fritsch, Miriam Fussenegger, Karl Markovics und Florian Teichtmeister sprachen die Texte. Es ging darin unter anderem um Vernachlässigung, schweren Missbrauch, um Züchtigung und offenen Sadismus, um sexuelle Nötigung und Vergewaltigung.

Kern: Kindheit der Betroffenen leider oft die Hölle gewesen

Die Kindheit der Betroffenen sei leider oft die Hölle gewesen, versuchte Bundeskanzler Christian Kern das Unfassbare zu benennen. "Den Betroffenen ist mehrfaches Leid widerfahren: Zuerst mussten sie den Missbrauch erleben, danach wurden sie mit ihren Erfahrungen ignoriert", so der Bundeskanzler.

Heute sei das Wichtigste, dass die Betroffenen ihre Würde zurückerhalten und dass wir ihnen zuhören würden. "Über die Erfahrungen und Erlebnisse der ehemaligen Heimkinder zu sprechen, ist nahezu unerträglich", sagte Kern. Das in den Heimen Geschehene zähle zu den dunkelsten Schattenseiten unserer Republik.

Mitterlehner: Mensch sein heißt, verantwortlich zu sein

Vizekanzler Reinhold Mitterlehner würdigte all jene, die im Rahmen der Aufarbeitung der Geschehnisse in den Heimen hingesehen, wo andere weggesehen haben. "Die heutige Geste der Verantwortung ist kein Schlussstrich. Missbrauch hat in unserer Gesellschaft gestern, heute und morgen keinen Platz", so der Vizekanzler.

Mitterlehner rief dazu auf, beim Verdacht auf Missbrauch genau hinzusehen. Dazu zitierte er den Schriftsteller Antoine de Saint-Exupery mit den Worten: "Mensch sein heißt, verantwortlich zu sein." Der Vizekanzler räumte mit großem Bedauern ein, dass viele Täter spät oder sogar nie bestraft worden seien.

Schützenhöfer: Es wurde weggeschaut

"Heute stehen die Betroffenen im Mittelpunkt", so der steirische Landeshauptmann Hermann Schützenhöfer. Diese Feststellung sei wichtig, denn allzu lange habe es eine Mauer des Verschweigens gegeben. "Es wurde weggeschaut", hielt auch er fest. Er wisse, dass eine Geste wie die heutige nur ein unvollkommenes Zeichen sein könne, aber "ich hoffe sehr, dass es angenommen wird."

Im Hinblick auf die massiven Vorwürfe gegenüber der Kirche betonte Schützenhöfer, dass er in seiner Kindheit durchaus positive Erfahrungen mit der Kirche gemacht habe. Er habe aber angesichts der schrecklichen Taten, die in den Heimen passiert seien, großes Verständnis für das Misstrauen der Betroffenen gegenüber der Kirche. "Ein Schutzbedürfnis darf niemals zu Missbrauch führen", appellierte der steirische Landeshauptmann und derzeitige Vorsitzende der Landeshauptleutekonferenz.  

Schönborn: Nur Wahrheit macht frei

Kardinal Christoph Schönborn war der letzte Redner und stellte seine Worte in das Zeichen großer Demut: "Ich stehe hier als Vertreter jener Einrichtung, die für viele von Ihnen mit schlimmsten Erinnerungen verbunden ist". "Nur Wahrheit macht frei", zitierte er sinngemäß aus dem Neuen Testament und räumte ein, die Kirche habe vertuscht und sie habe einschlägig bekanntes Heimpersonal nur versetzt, aber nicht abgesetzt. "Für diese Schuld stehe ich vor ihnen und bitte um Entschuldigung", sagte der Kardinal.

Er sei selbst in den Nachkriegsjahren in einer Volksschule und später in einem Gymnasium aufgewachsen, "in dem die schwarze Pädagogik selbstverständlich war. Es wurde sehr viel geprügelt", so Schönborn. Dennoch habe er sich früher nicht vorstellen können, was die von Missbrauch Betroffenen erlebt hatten. "Was in kirchlichen Einrichtungen geschehen ist, was Priester und auch Nonnen Jugendlichen angetan haben. Ich konnte mir das nicht vorstellen, bis ich es durch Gespräche und Begegnungen selbst erfahren habe: es ist die bittere Wahrheit". (Schluss) wz

HINWEIS: Fotos von diesem Staatsakt finden Sie auf der Website des Parlaments unter www.parlament.gv.at/aktuelles/mediathek/fotos.