Parlamentskorrespondenz Nr. 536 vom 05.05.2017

Zeitzeugin Schneider: "Es tat weh und es wird immer wehtun"

Erinnerungen von Holocaust-Überlebender bei Gedenktag gegen Gewalt und Rassismus

Wien (PK) – Sie sei eine der letzten derer, die den Holocaust überlebt haben und noch darüber erzählen können. Deshalb sei sie hier. Das betonte die Historikerin Gertrude Schneider heute anlässlich des Gedenktags gegen Gewalt und Rassismus im Parlament. In berührender Weise schilderte Schneider bei der traditionellen Veranstaltung im Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus nicht nur ihre eigenen Erlebnisse, sondern auch die ihres Mannes, Eric Schneider, der die Shoah ebenfalls überlebte und mit dem sie seit 65 Jahren verheiratet ist.

Mit der Rede im Parlament erfülle sie auch den Wunsch ihres Vaters, hob Schneider hervor. Dieser habe ihr 1938, zu ihrem 10. Geburtstag, ein Tagebuch geschenkt und sie ermahnt, alles aufzuschreiben, was wichtig sei. Sie habe alles erlebt: Drohungen, Vertreibung, Verarmung und "Deportation in eine teuflische Welt", mit Ghettos, Konzentrationslagern und Todesmärschen. Der Einmarsch der Nationalsozialisten in Österreich sei der Auftakt zum Völkermord gewesen: "Eine Katastrophe, die man weder erwartet hatte noch vergessen kann."

Schneider berichtete unter anderem vom Verweis 1938 von ihrer Schule, die Delogierung der Familie und die Novemberpogrome. "Ich durfte nicht weinen", obwohl es weh tat und immer noch wehtue. Es habe aber auch bessere Zeiten gegeben. So sei das Jahr 1940 relativ friedlich gewesen. Sie sei in die Schule gegangen und habe dort sogar Mittagessen bekommen. "Wir fingen zu hoffen an." Ab 1941 hätten dann aber die Deportationen in großem Stil begonnen.

Ihre Festigkeit habe sie seinerzeit im Wiener Turnertempel bekommen, wo in wundervoller Weise Religion unterrichtet wurde, erzählte Schneider. Sie habe immer an Gott geglaubt und glaube heute noch. Zum Abschluss sang Schneider mit klarer Stimme die damalige Tempel-"Hymne" und erntete dafür minutenlange Standing Ovations vom Auditorium, mit Bundespräsident Alexander Van der Bellen, Bundeskanzler Christian Kern, Nationalratspräsidentin Doris Bures und Bundesratspräsidentin Sonja Ledl-Rossmann an der Spitze. Auch ihr Mann Eric Schneider war unter den Gästen.

Gertrude Schneider wurde als 13-Jährige mit ihren Eltern und ihrer jüngerer Schwester im Februar 1942 aus Wien nach Riga deportiert und als das dortige Ghetto liquidiert wurde, in das Konzentrationslager Kaiserwald gebracht. Im August 1944 schafften die Nazis die Familie mit Schiffen über die Ostsee nach Danzig und von dort weiter in das KZ Stutthof. Während ihr Vater im Konzentrationslager Buchenwald zu Tode kam, überlebte Schneider, gemeinsam mit ihrer Mutter und ihrer Schwester, den Holocaust. 1947 wanderte die Familie, nicht zuletzt wegen der schlechten Behandlung nach ihrer Rückkehr nach Wien, in die USA aus.

In ihrem Tagebuch dokumentierte Schneider nicht nur die grausamen Umstände des Ghettolebens präzise. Sie notierte auch alltägliche Dinge und Momente des Glücks, der Liebe und der Poesie. Als Historikerin arbeitete sie später an der City University in New York und publizierte mehrere Bücher über die Geschehnisse im Nationalsozialismus. Heute lebt sie in New Jersey und Miami Beach.

Die heutige Gedenkrede war nicht der erste Auftritt Schneiders im Parlament. Schon im Mai 2013 war sie Gast in der Demokratiewerkstatt. Im Rahmen einer Workshop-Serie zur "Annexion 1938" gab sie SchülerInnen Einblick in jene Zeit, in der ihre unbeschwerten ersten Kinderjahre in Wien ein jähes Ende fanden. (Schluss) gs

HINWEIS: Fotos vom Gedenktag finden Sie auf der Website des Parlaments unter www.parlament.gv.at/aktuelles/mediathek/fotos.