Parlamentskorrespondenz Nr. 966 vom 18.09.2018

Der digitale Wandel stellt das europäische Sozialmodell auf die Probe

Fiskalpaktkonferenz diskutiert Herausforderungen der Digitalisierung für Arbeitswelt und Sozialsysteme

Wien (PK) – Die Digitalisierung hat bereits weitreichende Auswirkungen auf die Arbeitswelt und die Beschäftigung und wird auch weiterhin Europa vor große Herausforderungen stellen. Wie diese bewältigen werden können, war Thema der vierten Session der zweitägigen Fiskalpaktkonferenz im Rahmen der Parlamentarischen Dimension des EU-Ratsvorsitzes. Die VertreterInnen der Parlamente der EU-Mitgliedsstaaten debattierten über Strategien, wie negative Auswirkungen der Digitalisierung vermieden und die sich aus ihr ergebenden Chancen genützt werden können. Eine gemeinsame Anstrengung sei notwendig, um das europäische Sozialmodell für die Zukunft zu rüsten, so der Grundtenor.

Milena Angelova: Bildung braucht einen Paradigmenwechsel

"Die Zukunft hat bereits begonnen" betonte die Vizepräsidentin des Wirtschafts- und Sozialausschusses der EU Milena Angelova in ihrem Einleitungsstatement. Die Digitalisierung verändere die Arbeitswelt rasch und grundlegend. Diesen Wandel gelte es, gemeinsam zu bewältigen. Digitalisierung und Automatisieren vernichten Jobs, sie schaffen aber auch neue und verändern viele Berufsbilder grundlegend. Die Mitgliedsstaaten, die Sozialpartner und die EU-Institutionen sind daher gefragt, um diese Transformation im Sinne der arbeitenden Menschen zu lenken.

Die Digitalisierung und Automatisierung wirken sich auch auf den Arbeitsmarkt aus. Arbeitsplätze mit geringer und hoher Entlohnung nehmen zu, konstatierte Angelova, während das mittlere Segment verliert. Die Digitalisierung könne für ArbeitnehmerInnen neue Freiheiten und Chancen bringen, sie könne aber auch geringere Arbeitsplatzqualität, fragmentierte Karriereverläufe und weniger sozialen Schutz bedeuten. Daher gelte es, die Tarifverhandlungspraxis an die Änderungen der Berufswelt anzupassen.

Des Weiteren sieht Angelova die Notwendigkeit, Bildung und Fortbildung an die digitale Wirklichkeit anzupassen. Ein zunehmendes Ungleichgewicht zeige sich bereits jetzt daran, dass viele Menschen Arbeit suchen und gleichzeitig Arbeitgeber nur schwer qualifizierte Arbeitskräfte finden. Zur selben Zeit würden aber bestehende Qualifikationen nicht ausreichend genützt.

Ein Paradigmenwechsel in der Bildung sei daher unumgänglich, konstatierte Angelova. Sie forderte eine Qualifikationsoffensive, die niemanden zurücklassen dürfe. Das Bildungssystem müsse Beschäftigung und Bildung miteinander verbinden und ein lebenslanges Lernen ermöglichen. Statt dem früheren Auswendiglernen von Informationen ist es zunehmend wichtiger geworden, Soft Skills zu fördern, wie Problemlösungsfähigkeit, Denken in Zusammenhängen und kritische Urteilsfähigkeit.

Der Wirtschafts- und Sozialausschuss der EU befasse sich intensiv mit der Frage, wie die Chancen der Digitalisierung am besten genützt werden können. Fest steht für Angelova, dass das europäische Sozialmodell bewahrt bleiben und die Digitalisierung sein weiteres Funktionieren ermöglichen müsse. Daher gelte es, den Menschen stets in den Mittelpunkt zu stellen. Grundsätzlich verfügten die EU und ihre Mitgliedsstaaten bereits über das notwendige Instrumentarium, um die relevanten politischen Entscheidungen zu treffen.

MEP Rodrigues: Sozialsystem für alle ist finanzierbar

In einem Impulsreferat wies das Mitglied des Europäischen Parlaments Maria João Rodrigues darauf hin, dass der digitale Wandel bereits alle Lebensbereiche erfasst. Produktion und Versorgungsketten werden immer stärker von künstlicher Intelligenz bestimmt. Die Arbeitswelt verändere sich dadurch massiv, etwa durch digitale Plattformen, die neue, atypische Beschäftigungsverhältnisse erzeugen. Das führe dazu, dass immer mehr Menschen ohne entsprechende arbeitsrechtliche und soziale Absicherung bleiben, warnte Rodrigues. Europa müsse sich diesen Herausforderungen stellen. "Ein Europa, das schützt", wie es das das Motto der Ratspräsidentschaft sei, umfasse auch den sozialen Schutz. Man dürfe nicht zulassen, dass durch eine digitalisierte Arbeitswelt ein Teil der Beschäftigten aus dem Sozialsystem fällt.

An Antworten werde bereits gearbeitet, sagte die Europaabgeordnete. Die EU-Kommission erarbeite derzeit einen Vorschlag für eine neue Richtlinie zum Arbeitsrecht. Die Antwort auf die Frage, wie ein umfassender sozialer Schutz für das 21. Jahrhundert finanziert werden könne, ist ihrer Ansicht nach in Änderungen der Steuersysteme zu suchen. Rodrigues sprach sich klar für eine Digitalsteuer aus. Sie sei überzeugt, dass ein Sozialsystem für alle finanzierbar ist, wenn die großen Player ihren Beitrag leisten, sagte sie in diesem Zusammenhang.

Entstehen einer digitalen Kluft soll vermieden werden

Konsens herrschte unter den Abgeordneten darüber, dass bereits weitreichende Veränderungen der Arbeitswelt und des Arbeitsmarktes durch Digitalisierung, Robotik und Artificial Intelligence im Gange sind. Auswirkungen zeigen sich in einer immer flexibleren Arbeitszeitgestaltung sowie in der Zunahme atypischer Beschäftigungsformen und von Teilzeitarbeit. Übereinstimmung herrschte auch, dass diese Entwicklung neue politische Strategien erforderlich macht.

Eine wesentliche Frage für die Abgeordneten ist, wie die Sozial- und Pensionssysteme nachhaltig abgesichert werden können. Die Digitalisierung dürfe nicht reiner Selbstzweck sein, sondern müsse auch die Rechte der ArbeitnehmerInnen und den Zugang zum Sozialsystem für alle sicherstellen, wurde von verschiedener Seite geäußert. Einige Abgeordnete wiesen auf Risiken der Digitalisierung hin, etwa einen ungleichen Zugang zu digitalen Ressourcen, die Aushöhlung der sozialen Rechte der ArbeitnehmerInnen und eine Verschlechterung von Arbeitsbedingungen.

Konsens herrschte darüber, dass alle gesellschaftlichen Kräfte, nicht nur die Politik, gefordert sind, um die Chancen der Digitalisierung zu nützen und die negativen Auswirkungen abzufedern. Die Sozialpartnerschaft sei daher weiterhin gefragt, wurde mehrfach geäußert. Allgemeiner Tenor war auch, dass die Bildungssysteme in die Lage versetzt werden müssen, jungen Menschen die notwendigen Fertigkeiten zu vermitteln, um in einer digitalisierten Arbeitswelt bestehen zu können. Lebenslanges Lernen sei ein Teil der Antwort.

Eine Spaltung der Gesellschaft und die Entstehung einer digitalen Kluft müsse jedenfalls verhindert werden, sei es, wenn es um den Zugang zu Bildung, um die Versorgung ländlicher Regionen oder um Chancengerechtigkeit zwischen den Generationen und zwischen den Geschlechtern gehe, wie mehrere ParlamentarierInnen anmerkten.

Vorsitzender Karlheinz Kopf dankte abschließend den TeilnehmerInnen der Konferenz für die spannende, disziplinierte und konstruktive Debatte. Es zeige sich, dass man auch bei sehr unterschiedlichen Ausgangspositionen gemeinsame Lösungsansätze finden könne. (Fortsetzung Fiskalpaktkonferenz) sox

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