Parlamentskorrespondenz Nr. 1229 vom 07.11.2018

Bundesrats-Enquete befasst sich mit Bedürfnissen von Kindern und Jugendlichen

Weitere Diskussion um geplante Veländerung der Kinder- und Jugendhilfe

Wien (PK) – Die Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen standen im Mittelpunkt des zweiten Teils der Parlamentarischen Enquete des Bundesrats zur Zukunft der Kinder- und Jugendwohlfahrt im Parlament. Zunächst kamen im Diskussionsblock "Übergänge – der Weg ins Erwachsenenwerden" nicht nur Rednerinnen der Bundesjugendvertretung und der Österreichischen Kinderdörfer zu Wort, auch zwei Jugendliche hatten Gelegenheit, ihre Erfahrungsberichte und Anliegen zu präsentieren. Danach ging es um das Recht von Kindern auf Schutz und Versorgung. Im Sinne bundesweit einheitlicher hoher Qualitätsstandards im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe können viele ExpertInnen der geplanten Kompetenzverschiebung in diesem Bereich wenig abgewinnen. Mehrfach gefordert wurde zudem die Unterstützung betreuter Jugendlicher über das 18. Lebensjahr hinaus.

Eingeleitet wurde der Nachmittag wieder von der Kinder- und Jugendbuchautorin Renate Welsh mit einem bewegenden Text über die Abschiebung eines Schulkindes in der Vorweihnachtszeit und das Lied zur Herbergssuche "Wer klopfet an".

Bundesjugendvertretung: Junge Menschen brauchen Rechte, Chancen und Perspektiven

Drei zentrale Themenbereiche der Bundesjugendvertretung griff Caroline Pavitsits in ihrem Referat heraus: nämlich Rechte, Chancen und Perspektiven für alle Kinder und Jugendlichen in Österreich. Ein Kind in Tirol dürfe nicht anders behandelt werden als ein Kind in der Steiermark, so Pavitsits. Sie erachtet dieses Recht durch die geplante Kompetenzverschiebung im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe als massiv bedroht und sprach sich dafür aus, bundesweit einheitliche Rahmenbedingungen sicherzustellen. Zu befürchten sei sonst etwa, dass nicht mehr das Kindeswohl an erster Stelle stehe, sondern beispielweise budgetäre Faktoren. Außerdem würden Kinder abhängig von ihrem Wohnort-Bundesland Unterstützung erfahren - oder eben nicht.

Hinsichtlich Chancengerechtigkeit sieht Pavitsits besonderen Handlungsbedarf in der Ausweitung des Rechtsanspruchs auf Kinder- und Jugendhilfe bis zu einem Alter von 24 Jahren. Diese ende derzeit mit 18 Jahren, nicht allen Jugendlichen gelinge zu diesem Zeitpunkt der Schritt in die Eigenständigkeit auf Anhieb. Der Staat dürfe sich hier nicht aus der Verantwortung ziehen. Hinsichtlich der Perspektiven unterstrich die Rednerin der Bundesjugendvertretung, junge Menschen seien nicht die Zukunft, sondern bereits die Gegenwart. Nur wenn die Anliegen und Bedürfnisse von jungen Menschen bereits heute berücksichtigt würden und man bei Maßnahmen über die aktuelle Legislaturperiode hinaus denke, könnten sich genügend Gestaltungsspielräume eröffnen.

Österreichische Kinderdörfer: Rechtsanspruch auf Verlängerung der Kinder- und Jugendhilfe

"26 ist das neue 18" plädierte Tanja Lechner von der Gesellschaft Österreichischer Kinderdörfer eindringlich dafür, den Rechtsanspruch auf Kinder- und Jugendhilfe bis zu einem Alter von 26 Jahren zu verlängern. Sogenannte "Careleaver", die in Heimen aufgewachsen sind, würden sich am Übergang zum Erwachsenenleben vor einer Situation sehen, wo sie nicht wissen, wie es weitergeht. Bei diesem Schritt in die Selbständigkeit können die jungen Menschen weder auf die Familie, noch auf die Kinder- und Jugendhilfe zurückgreifen, so Lechner. Mit der Unterstützung müssten individuelle Übergänge ermöglich werden, die Zuständigkeit zur Begleitung verortet die Expertin bei der konkreten Einrichtung. Das erfordere auch ausreichendes und entsprechend geschultes Personal. Lechner zeigte sich überzeugt, dass diese Maßnahmen auf Bundesebene möglich und notwendig sind, zumal sie längerfristig betrachtet im Hinblick auf Folgeentwicklungen der jungen Menschen auch kostengünstiger wären. Sie wolle jedenfalls in einem Land leben, wo alle Menschen die gleichen Chancen bekommen.

Jugendliche am Wort: Eigene Erfahrungsberichte am Weg ins Erwachsenenwerden

Am Weg ins Erwachsenwerden ist aus Sicht von Richard Gruber das Mittel zum Erfolg eine ausgewogene Mischung aus Kindergarten, Schule und Eltern zur Vorbereitung auf das spätere Leben. Eltern sollten ihre Kinder erziehen, indem sie ihnen ihre Rechte und vor allem Pflichten aufzeigen. Kinder und Jugendliche sollten aber auch das Recht auf Selbstbestimmung haben, dies betreffe speziell die Schul- und Berufswahl. Aus der Erfahrung von Richard Gruber müssten Eltern die Welt nicht neu erfinden, sich aber bewusst sein, dass es ihre Pflicht ist, ihre Kinder zu selbstbestimmten und eigenständigen Menschen zu erziehen. Kinder und Jugendliche brauchen außerdem Aufgaben, so Richard Gruber, sonst befinden sie sich später im Zustand der Hilflosigkeit. Um in der Ausbildung und im Beruf Fuß fassen zu können, braucht es dazu sowohl die Eltern, als auch die Schule.

Einen sehr eindrücklichen Einblick in seine Erfahrungen gab Pascal Riegler am Rednerpult. Er habe die letzten Jahre im Kinderdorf verbracht und befinde sich nun in einer vom Kinderdorf unterstützten Wohnung, aber mit entsprechender Selbständigkeit. Im Verhältnis zur Alltagsstruktur im Kinderdorf stehe er aber vor Problemen, die ihm zuvor nicht einmal bewusst waren – selbständig mit dem Budget umzugehen, den Haushalt zu führen und organisatorische Herausforderungen wie Grundnahrungsmittelbedarf, Fortbewegungsmittel oder Bankgeschäfte zu bewältigen. Der nahende 21. Geburtstag sei für ihn insofern beängstigend, weil er dann weder familiäre Unterstützung noch Unterstützung vom Kinderdorf oder Kinder- und Jugendhilfe bekomme. Er habe erst spät mit der Lehre begonnen und werde diese erst danach abschließen, außerdem stehe der Zivildienst noch bevor. Pascal Riegler sieht in der Tatsache, dass es dann keine Unterstützung mehr gibt, eine klare Lücke im Sozialsystem, wie er sagte. Er wünscht sich für die Zukunft auch für alle anderen Jugendlichen diesbezügliche Veränderungen.

Mehrfacher Ruf nach Verlängerung der Kinder- und Jugendhilfe

Die Forderung der Verlängerung der Kinder- und Jugendhilfe über das 18. bzw. 21. Lebensjahr hinaus wurde im Zuge der Diskussion unter anderem von den ExpertInnen des Dachverbandes für Kinder- und Jugendhilfeeinrichtungen unterstützt. Auch David Stögmüller, Bundesrat der Grünen, und SPÖ-Nationalratsabgeordnete Eva-Maria Holzleitner sprachen sich dafür aus. Der 21. Geburtstag dürfe kein Datum der Angst sein, so Holzleitner. Es gelte zu überlegen, wie der Übergang bis 24 Jahre ermöglicht werden kann, sagte auch ÖVP-Bundesrätin Andrea Eder-Gitschthaler. ÖVP-Nationalratsabgeordnete Andrea Plakolm sieht am Übergang weiterhin die Eltern und die Schule gefordert, und sprach sich wie Holzleitner für politische Bildung, aber auch für Alltagskompetenzen im Lehrplan aus.

Thema in der Debatte war überdies der geplante Verzicht des Bundes auf ein Grundsatzgesetz zur Kinder- und Jugendhilfe. Während sich etwa Eder-Gitschthaler für die Kompetenzverschiebung zu den Bundesländern aussprach, äußerten Stögmüller und einige ExpertInnen deutliche Ablehnung bzw. Kritik. Es brauche eine bundeseinheitliche Lösung, so Stögmüller. Umgekehrt war sich Eder-Gitschthaler mit dem niederösterreichischen ÖVP-Landtagsabgeordneten Franz Dinhobl einig, dass die Länder diejenigen seien, die genau wissen, was vor Ort passieren soll und direkt mit den jungen Menschen arbeiten können. Seitens des Katholischen Familienverbands Österreich wurde Unverständnis artikuliert, warum man sich mit der Kinder- und Jugendhilfe in die Länder und damit von einheitlichen Standards wieder wegbewege. Auch von Seiten des Berufsverbands soziale Arbeit wird eine "Deprofessionalisierung" durch die Verländerung befürchtet, Qualität und wichtige Kommunikationsflüsse würden darunter leiden.

Berger: Kein einziges überzeugendes Argument für Verzicht auf Bundesgesetz

Wiederholt Kritik an der geplanten Verländerung der Kinder- und Jugendhilfe gab es auch im dritten Panel der Enquete, die sich dem Recht des Kindes auf Schutz, Versorgung und Teilhabe widmete. So meinte Universitätsprofessor Ernst Berger, Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie, er habe bis jetzt kein überzeugendes sachliches Argument für die vorgesehene Abschaffung des Bundesgesetzes gehört. Vielmehr hegt er die Befürchtung, dass künftig Vorgaben der Landesfinanzabteilungen und nicht Kinderrechte maßgeblich für die Kinder- und Jugendhilfe sein werden.

Berger erinnerte in diesem Zusammenhang an die mühevollen Verhandlungen vor der Beschlussfassung des Bundes-Kinder- und Jugendhilfegesetzes 2013, in die er seinerzeit eingebunden war. Bis zum Schluss habe es Widerstand einiger Länder gegen das heute selbstverständliche 4-Augen-Prinzip gegeben, skizzierte er. In etlichen Bereichen wie der Personalqualität und den Arbeitsbedingungen gebe es nach wie vor große Unterschiede. Gehen die Standards noch weiter auseinander, würde das zahlreiche Probleme, etwa bei der kinder- und jugendpsychiatrischen Versorgung, verursachen. Generell machte Berger auf die Bedeutung von Kinderrechten und der Unterstützung von Kindern aufmerksam.

Hackspiel: Kinder- und Jugendhilfe braucht mehr Ressourcen

Auch der Präsident der Österreichischen Liga für Kinder- und Jugendgesundheit Christoph Hackspiel kann der geplanten Kompetenzverschiebung in Sachen Kinder- und Jugendhilfe nichts abgewinnen. Er wertet diese als eine "Kindesweglegung des Bundes" und appellierte an die BundesrätInnen, das Vorhaben zu stoppen. Es brauche vielmehr eine Initiative der Länderkammer für mehr Budgetmittel für die Kinder- und Jugendhilfe, mahnte er.

Die gesetzlichen Grundlagen der Kinder- und Jugendhilfe seien grundsätzlich gut und die MitarbeiterInnen motiviert, betonte Hackspiel. Über die Krisenintervention hinaus sei aber ein breiteres Unterstützungsangebot für Familien in schwierigen Situationen notwendig. Die gesellschaftlichen Entwicklungen führten zu einer zunehmenden Überforderung der Eltern. Die Kinder- und Jugendhilfe interveniere aber spät und erreiche nur einen Bruchteil der Kinder, die Hilfe benötigen.

Grund dafür sind nach Meinung von Hackspiel nicht nur mangelnde Ressourcen, sondern auch ein problematisches Selbstverständnis der zuständigen Behörden. Dabei sei der Unterstützungsauftrag ausdrücklich im Kinder- und Jugendhilfegesetz verankert. In der Praxis fehle aber qualitative Zeit für die Kinder. Bemerkenswert findet es Hackspiel in diesem Zusammenhang, dass Kinder zwar 20% der Bevölkerung ausmachen, aber nur 6% der Gesundheitskosten auf sie entfallen.

Im Interesse der Kinder sprach sich der Präsident der Kinderliga darüber hinaus für die Einrichtung eines Kinderministeriums bzw. eines Bundes-Kinderbeirats aus und wandte sich gegen Kürzungen bei der Mindestsicherung.

Wohlschlager: Man muss verstärkt bei Familien ansetzen

Von ihren Erfahrungen als Obfrau des gemeinnützigen Welser Vereins "Abenteuer Familie" berichtete Sandra Wohlschlager. Ihr Verein habe zwei Kontaktpunkte zur Kinder- und Jugendhilfe, und zwar im Bereich der Besuchsbegleitung und bei der Arbeit mit "Stammkindern", schilderte sie. In der Praxis sei es schwierig, Kinder zu unterstützen, wenn die Eltern nicht kooperieren. Diese seien oft überfordert und sich ihrer Vorbildwirkung nicht bewusst. Werte, Halt und Orientierung fehlten.

Wohlschlager plädierte in diesem Sinn dafür, verstärkt bei der Elternbetreuung anzusetzen. Derzeit sei die Kindesabnahme das einzige Druckmittel, das die Kinder- und Jugendhilfe habe. Fremdbetreuung werde bald aber nicht mehr leistbar sein. Die Expertin plädierte außerdem dafür, bei verordneten Besuchskontakten von Scheidungskindern stärker auf die Rechte und das Wohl des Kindes zu achten.

Kompetenzverschiebung stößt auf Zustimmung und auf Widerstand

Skepsis in Bezug auf die Veländerung der Kinder- und Jugendhilfe wurde auch in der Debatte laut. So gab etwa Hubert Löffler vom Dachverband der österreichischen Jugendhilfeeinrichtungen zu bedenken, dass eine Vereinbarung zwischen den Ländern keine Rechtssicherheit biete und jederzeit kündbar sei. Zudem vermisst er beim Gesetzentwurf zur Kompetenzverschiebung eine Folgenabschätzung.

Auch die niederösterreichische SPÖ-Bundesrätin Doris Hahn kann keinen Vorteil einer 15a-Vereinbarung gegenüber einem Bundesgesetz erkennen und wies unter anderem auf drohende Probleme bei der Schnittstellenkommunikation hin. Es brauche jedenfalls bundeseinheitliche Standards, bekräftigte sie.

Verteidigt wurde die geplante Kompetenzverschiebung hingegen von ÖVP-Bundesrätin Martina Ess und ihrer Parteikollegin im Nationalrat Gudrun Kugler. Keine Materie lasse sich besser vor Ort regeln als die Daseinsvorsorge, sagte Ess. Dazu gehöre auch der Schutz der Kinder. Die Standards in Vorarlberg seien vorbildlich. Auch Kugler versicherte, dass es zu keinen Verschlechterungen kommen werde. Mindeststandards würden nicht abgeschafft, sondern – im Sinne der angestrebten Kompetenzentflechtung – zwischen den Ländern vereinbart statt per Bundesgesetz verankert.

An die Subsidiaritätsdebatte auf europäischer Ebene fühlt sich Wolfgang Bogensberger von der Europäischen Kommission erinnert. Ohne sich inhaltlich festzulegen, plädierte er dafür, die Diskussion sorgsam zu führen und Entscheidungen nicht aus einer tagespolitischen Laune heraus zu treffen.

Mehrfach in der Diskussion ausgesprochen wurde außerdem der Wunsch, Kindesabnahmen auf ein möglichst geringes Maß zu beschränken und mehr in Elternbegleitung zu investieren. (Fortsetzung Enquete) mbu/gs

HINWEIS: Fotos der Parlamentarischen Enquete des Bundesrats finden Sie auf der Website des Parlaments unter www.parlament.gv.at/aktuelles/mediathek/fotos .


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