Parlamentskorrespondenz Nr. 1245 vom 09.11.2018

Gemeinsames Bekenntnis zu "Nie wieder" bei Empfang für Holocaust-Überlebende im Parlament

Kurz: Österreich von heute ist ein anderes Österreich

Wien (PK) – Der Aufruf zu einem gemeinsamen Bekenntnis "Nie wieder" und zu einem Zusammenleben in Frieden und gegenseitigem Respekt stand im Zentrum der Rede von Rabbi Arthur Schneier aus New York anlässlich des Empfangs für Überlebende des Holocaust im Parlament. Der in Wien geborene Rabbiner Arthur Schneier überlebte mit seiner Mutter den Krieg in Ungarn. Sein Großvater, Joseph Schneier, wurde 1941 nach Theresienstadt und von dort in ein Todeslager bei Lublin deportiert. Seine Großeltern in Ungarn, die 1944 deportiert wurden, fanden den Tod in Auschwitz-Birkenau. "Wenn ich ihre Gräber besuchen will, muss ich die Krematorien dort besuchen", sagte Rabbi Schneier.

Bundeskanzler Sebastian Kurz bekräftige in seiner Rede die historische Verantwortung Österreichs und zeigte sich in diesem Sinn über die bevorstehende Errichtung einer Gedenkstätte in Wien mit den Namen der in der NS-Zeit ermordeten österreichischen Jüdinnen und Juden erfreut. Ein wesentlicher Teil der Kosten des von Kurt Y. Tutter initierten Projekts wird vom Bund übernommen.

Rabbi Arthur Schneier: Nur gemeinsam können wir den Hass überwinden

"Ich bin ein Wiener, aber ich wurde aus Wien vertrieben. Ich habe Wien jedoch nie verlassen", sagte Rabbi Schneier zu Beginn seiner Ansprache. Er sei diesmal mit besonders schwerem Herzen und voller Schmerz nach Wien gereist, nach einem Besuch im trauernden Pittsburgh und bei den Trauernden der Synagoge "Ets Chajim - Baum des Lebens". Das Massaker in Pittsburgh habe ihn an die unzähligen Wiener Jüdinnen und Juden erinnert, die ermordet wurden, und an die Synagoge seiner Wiener Kindheit, den Polnischen Tempel in der Leopoldsgasse. Er habe miterlebt, wie die Synagoge in der Nacht von 9. auf 10. November 1938 in Brand gesteckt wurde. Wenige Tage vor seinem achten Geburtstag sei seine schöne Kinderwelt in Wien zusammengebrochen, erinnerte sich Rabbi Schneier. Über Nacht wurde er zum Außenseiter in seiner Heimatstadt.

Als Überlebender des Holocaust sehe er sich besonders verpflichtet, für eine friedliche Koexistenz zu arbeiten. "Die Narben sind da, aber es war auch mein fester Entschluss, Brücken des Verstehens zu bauen und jedes Mitglied der Menschenfamilie zu respektieren, ohne Ansehen von Glauben, Rasse, von Mehrheit oder Minderheit." Die 1965 von ihm gegründete Conscience Foundation, ein Zusammenschluss von Führungspersönlichkeiten aus Wirtschaft und den Religionen, trage dazu bei, Religionsfreiheit, Menschenrechte und das wechselseitige Verständnis sowie die Beziehungen von Mensch zu Mensch zu stärken und insbesondere religiöse Stätten als Teil eines kostbaren kulturellen und zivilgesellschaftlichen Erbes zu schützen. Gemeinsamkeit sei dabei zentral, denn, so sagte Rabbi Schneier: "United we prevail - divided we fail. Vereint gegen den Hass werden wir bestehen. Entzweit werden wir untergehen".

Er sei in seinem Leben Zeuge der Bestie Mensch, aber auch des Besten im Menschen geworden. Er glaube jedoch fest daran, dass das Beste im Menschen die Oberhand behalten wird. Es gelte, sich von der Vergangenheit nicht lähmen zu lassen. Er habe Wien als eine Stadt kennengelernt, die eine Brücke zwischen Ost und West sein kann, als Ziel und Durchgangsort für Flüchtlinge, etwa 1956 aus Ungarn und später. Für die Juden, die aus Russland emigrieren konnten, war Wien ein wichtiger Durchgangspunkt auf ihrem Weg nach Israel. Auch die Vereinten Nationen sehen Wien als eine Brücke, unterstrich Rabbi Schneier.

Die Bibel verpflichte zur Erinnerung an Amalek, die Feinde des jüdischen Volkes und deren Nachfolger, die Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen haben. Die Leugnung des Holocaust schmerze die Überlebenden des Holocaust in besonderem Maße. Nach den Erfahrungen des Holocaust habe er nicht gedacht, dass noch einmal über das Thema Antisemitismus gesprochen werden müsse. Leider habe er sich geirrt. Dem Antisemitismus würden aber nicht nur Jüdinnen und Juden zum Opfer fallen, gab der Redner zu bedenken. Antisemitismus sei vielmehr ein Indikator dafür, wie eine Gesellschaft andere religiöse und ethnische Minderheiten behandle. Rabbi Schneier erinnerte an die Worte im dritten Buch Moses: "Bleibe nicht untätig angesichts des Blutes deines Nächsten." Schweigen sei keine Lösung, es ermuntere lediglich die Täter.

Die Appeal of Conscience Foundation habe daher eine Versammlung der Einheit gegen den Hass in seiner Synagoge, der Park East Synagogue, zusammengebracht, um jede Form des Hasses zurückzuweisen. Der Generalsekretär der Vereinten Nationen, Antonio Guterres habe dabei zum verstärkten Kampf gegen Antisemitismus aufgerufen und ebenso wie geistliche Anführer von katholischen, protestantischen, griechisch-orthodoxen und muslimischen Gemeinden erklärt: "Wir stehen vereint". Die Geschichte lehre, dass Uneinigkeit und Spaltung, Teilung und Hass die falschen Antworten auf die vielfältigen Fragen seien, die das Zusammenleben in einer Gesellschaft an uns richte.

Das Österreich von heute sei nicht das Österreich von 1938. Er danke Bundeskanzler Sebastian Kurz dafür, dass er sich zu einer Nulltoleranzpolitik gegenüber dem Antisemitismus bekannt und sein Land darauf verpflichtet habe. Österreich habe die Pflicht, seine jüdischen Gemeinden gegen antisemitische Bestrebungen zu verteidigen. Auch ein kleines Land wie Österreich könne in der weltweiten Konfliktlösung im Kampf gegen den Antisemitismus und jede Form von Hass eine wichtige Rolle spielen, sagte Rabbi Schneier, der dafür das Bild eines Schleppbootes und der Lotsen verwendete, ohne deren Unterstützung kein Ozeanriese einen Hafen anlaufen könne. Große Mächte brauchten solche Lotsen, und Österreich habe diese Rolle wieder und wieder übernommen.

Er sei überzeugt, dass die "schweigende Mehrheit" nicht den Hass und die Teilung wolle, sondern ein Zusammenleben in Frieden und gegenseitigem Respekt. Was vergangen sei, könne nicht verändert werden. Aber es könne und müsse daran erinnert und daraus gelernt werden. "Arbeiten wir zusammen an einem klaren Bekenntnis zu: 'Nie wieder!'" schloss Rabbi Schneier. "Wir haben heute die Möglichkeit, die Zukunft zu gestalten für alle Menschen, die Blätter am Baum des Lebens. Gemeinsam können wir uns einsetzen für Friede, Freiheit, Demokratie und Menschenrechte. Gott segne unsere gemeinsame Arbeit!"

Das Bekenntnis zum "Nie wieder" wurde auch von den anwesenden Regierungsmitgliedern und ParlamentarierInnen bekräftigt, sie wiederholten auf Aufforderung Schneiers gemeinsam mit den anderen TeilnehmerInnen des Empfangs die Parole.

Kurz: Österreich hat auch Verantwortung gegenüber Juden in Israel

Nach Schneier zu Wort kam Bundeskanzler Sebastian Kurz. Er betonte dass sich Österreich seiner historischen Verantwortung bewusst sei. "Wir haben uns zu spät, aber doch mit unserer Geschichte auseinandergesetzt." Das Österreich von heute sei ein anderes als damals. Das wolle man auch den Überlebenden des Holocaust vermitteln. Kurz bedankte sich in diesem Sinn ausdrücklich dafür, dass die israelischen Gäste der Einladung nach Österreich gefolgt sind. "Sie erfüllen uns durch ihr Kommen genauso einen Herzenswunsch."

Es sei Aufgabe der Republik Österreich, das jüdische Leben in Österreich aktiv zu unterstützen und gegen jede Form von Antisemitismus zu kämpfen, bekräftigte Kurz. Antisemitismus dürfe in Österreich und in Europa keinen Platz haben. Die Verantwortung des Landes ende aber weder an der österreichischen noch an der europäischen Grenze, auch gegenüber Juden in Israel habe Österreich Verantwortung.

Namensmauern-Gedenkstätte im Ostarrichi-Park steht kurz vor der Realisierung

Erfreut zeigte sich Kurz darüber, dass die Namensmauern-Gedenkstätte für die in der Shoah ermordeten Jüdinnen und Juden aus Österreich kurz vor der Realisierung steht. Die Regierung finanziere das Projekt gerne, weil es wichtig sei, einen nachhaltigen Ort des Gedenkens zu haben, der weit über das Gedenkjahr 2018 hinausstrahlt, sagte er. Seinen Dank richtete Kurz an den Initiator des Projekts, Kurt Y. Tutter, der zwanzig Jahre am Projekt drangeblieben sei.

Die genaue Genese des Projekts schilderte Tutter selbst. Er und der von ihm gegründete Verein bemühe sich seit 19 Jahren um die Realisierung der Gedenkstätte, erzählte er. Auch wenn er oft auf spürbares Desinteresse gestoßen sei, habe er sich nicht entmutigen lassen. Fahrt aufgenommen hat das Projekt ihm zufolge 2011 mit der grundsätzlichen Zusage der Wiener Vizebürgermeisterin Maria Vassilakou, einen Ort in Wien dafür zu suchen.

Inzwischen ist laut Tutter auch die Finanzierungsfrage weitgehend gelöst. Die Bundesregierung habe nicht nur zugesagt, 50% der Gesamtkosten der Gedenkstätte von 5,3 Mio. € zu übernehmen, sondern auch eine Finanzierungsgarantie für die noch aufzutreibenden Mittel abgegeben. An dieser Entscheidung sei auch Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka tatkräftig beteiligt gewesen. Somit habe man bereits mit konkreten Vorarbeiten wie einer technischen Prüfung des Standorts beginnen können.

Errichtet werden soll die Gedenkstätte im Ostarrichi-Park im 9. Wiener Gemeindebezirk gegenüber der Österreichischen Nationalbank und nahe des Universitäts-Campus im Alten AKH. Der Wiener Bürgermeister Michael Ludwig habe diesen Ort im Oktober bestätigt, sagte Tutter. Geplant ist ein Kreis steinerner Namenstafeln mit nur einem Eingang, in dem Nachkommen ungestört die Namen ihrer Familienmitglieder suchen, die Buchstaben mit der Hand berühren und ein Gebet sagen können. Auf einer "grünen Insel" im Inneren des Kreises sollen Bäume und Sträucher gepflanzt werden.

Auch Tutters Eltern sind in der NS-Zeit ermordet worden, nachdem ihnen 1939 zunächst die Flucht nach Belgien gelungen war. Er selbst hat die Shoah dank einer belgischen Familie überlebt, die ihn und seine jüngere Schwester aufgenommen hatte.

Im Anschluss an die Ansprachen im Großen Redoutensaal gab es zu Ehren der Überlebenden der Shoah einen Empfang in der Hofburg, der von der Generalsekretärin des Nationalfonds Hannah Lessing moderiert wurde. (Schluss Empfang) sox/gs

HINWEIS: Fotos von der Gedenkveranstaltung finden Sie auf der Website des Parlaments unter www.parlament.gv.at/aktuelles/mediathek/fotos .