Parlamentskorrespondenz Nr. 378 vom 27.04.2020

75 Jahre Unabhängigkeit - Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka im TV-Gespräch über Rückblicke und Ausblicke zur Zweiten Republik

Diskussion erörterte Themen von österreichischer Mentalität, historischer Verantwortung, nationalem Selbstverständnis bis zur Corona-Krise

Wien (PK) – Heute feiert die Zweite Republik den 75. Jahrestag ihrer Gründung. Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka lud aus diesem Anlass sechs JournalistInnen zu einer Diskussionsrunde unter dem Titel "75 Jahre Unabhängigkeit Österreichs im journalistischen Blickwinkel" ins Dachfoyer in der Wiener Hofburg. Als GesprächspartnerInnen zu Gast waren: Ingrid Thurnher (ORF III), Martina Salomon (Kurier), Eva Linsinger (Profil), Andreas Koller (Salzburger Nachrichten), Thomas Götz (Kleine Zeitung) sowie Gerald Heidegger (ORF online). Gemeinsam warfen die TeilnehmerInnen Schlaglichter auf bedeutende Ereignisse der vergangenen 75 Jahre und wagten einen Blick in die Zukunft. Die gesamte Sendung kann in der ORF TVthek abgerufen werden.

Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka eröffnete als Moderator das Gespräch, in dem zahlreiche Facetten des österreichischen Selbstverständnisses und der jüngeren Zeitgeschichte gestreift wurden: "75 Jahre ist es her, dass Österreich seine Unabhängigkeit ausgerufen hat. Das war kein parlamentarischer Akt, aber es haben Parlamentsparteien unterzeichnet, Staatskanzler Karl Renner war dabei federführend. Dieser Tag soll Anlass sein zu reflektieren, was aus der Vergangenheit noch wesentlich ist für das Heute und die Zukunft." Sowohl Anton Wildgans als auch Erwin Ringel zitierend, konfrontierte Sobotka die JournalistInnen mit zwei gegensätzlichen Beschreibungen der "österreichischen Seele": Zum einen "sensibel und kenntnisreich", wie Anton Wildgans sagte, zum anderen "eine Brutstätte der Neurose und des Verdrängens", wie Erwin Ringel es beschrieb.

Zwischen Lethargie und Hysterie – äußerst diszipliniert

Martina Salomon griff die Definition des "Österreichischen" anhand der aktuellen Corona-Krise auf und zeigte sich überrascht, dass die Österreicher, zwischen Lethargie und Hysterie pendelnd, angesichts der Maßnahmen äußerst diszipliniert seien. Thomas Götz erklärte eine "Mischung aus Regelbefolgung und Bruch derselben" als eine "österreichische Art des Umgangs", die nicht unsympathisch aber effizient sei.

Andreas Koller konstatierte angesichts der aktuellen Ereignisse durchaus eine "Untertanenmentalität", die er noch als "Rucksack" nach 600 Jahren Habsburg vermutete – eine Feststellung, der Ingrid Thurnher beipflichtete. Koller zufolge habe sich Österreich unter großen Mühen zweimal in der Völkergemeinschaft neu positionieren müssen, zuerst nach dem Ende der Monarchie, danach 1945 nach der Nazi-Diktatur und dem Zweiten Weltkrieg. Der Neutralitätsvertrag und der UNO-Beitritt seien prägend gewesen.

Ingrid Thurnher verwies auf Österreichs langjährige internationale Position: "Neutral, aber nicht so neutral wie die Schweiz, ein bisschen bei den Deutschen, nicht beim Ostblock, aber doch mit Kontakt dorthin: In dieser Sonderrolle zwischen den Blöcken, Nationen und Mentalitäten haben wir eine 'Extrawurscht' gelebt und mussten stets beweisen, wie gut wir sind", sagte die ORF-III-Chefredakteurin.

Durch jene Vermittlerrolle, so Martina Salomon, habe erstmals Kreisky dem Land das Selbstbewusstsein zurückgegeben. Bundeskanzler Kurz versuche daran wieder anzuknüpfen. Österreich sei jedenfalls ein ganz guter diplomatischer Ort. "Das Brückenbauen als Marke für Österreich passt gut zu unserem Charakter", stellte Thomas Götz dazu fest.

Abschied vom Opfermythos erst nach dem EU-Beitritt

Österreich habe sich nach 1945 nur schwierig gefunden, so Gerald Heidegger. Viele hätten sich noch in den 1950ern als bessere Deutsche gefühlt. Ergänzend Eva Linsinger: Gemäß Oliver Rathkolb zeichne die ÖsterreicherInnen eine Mischung aus Minderwertigkeitskomplex und Größenwahn aus. Gerne möchte man beim Sport, bei der Kultur oder im Verhältnis zur EU der Beste sein. Der Hypothese Sobotkas, ob dieses Minderwertigkeitsgefühl denn an Österreichs jahrelanger Randlage entlang des Eisernen Vorhangs gelegen habe, konnte Linsinger beipflichten. Zudem habe man sich als Anhängsel des als übermächtig empfundenen Deutschlands gefühlt. Erst der EU-Beitritt habe dazu beigetragen, dass Österreich sich vom Opfermythos verabschieden konnte.

Nationalratspräsident Sobotka warf des Weiteren die Frage des mangelnden Verfassungspatriotismus im Vergleich zu anderen Nationen auf, was Salomon als einen "Schatten der Nachkriegszeit" erklärte. Zumindest habe Alexander van der Bellen den Heimatbegriff in seinem Wahlkampf wieder entstaubt, sagte Thurnher, die sich ein "neues mentales Outfit" für Österreich wünschte. Eine "neue Identität" werde sich besonders nach der Corona-Krise zeigen, pflichtete Eva Linsinger bei. Das Unbehagen an der Globalisierung und die internationale Vorreiterschaft zahlreicher österreichischer Unternehmen werde zu einem neuen Selbstbewusstsein führen.

Das Problem mit dem Nationalbewusstsein ortete Koller auch in der Zeit nach 1945, als dieses blitzartig neu aufgebaut werden musste. So habe man sich auf die bestehende "schöne Landschaft", den Wiederaufbau sowie zuletzt auf das Neutralitätsgesetz bezogen. "Letzeres war als unbelasteter Begriff ein Ding, auf das man stolz sein konnte", erläuterte Koller.

"Das Verhältnis zum eigenen Land ist entspannter geworden", bemerkte Thomas Götz rückblickend. Linsinger ergänzte: Dies habe mit Österreichs zeitverzögerter Aufarbeitung der Geschichte zu tun, die mittlerweile Common Sense sei. "Damit ist auch ein entspannterer Heimatbegriff möglich. Viele Dinge sind jetzt leichter zu diskutieren."

Sobotka: Ist Österreich in der "Normalität seiner Geschichtsbetrachtung angekommen"?

In einer zweiten thematischen Klammer umriss Wolfgang Sobotka den historischen Weg der Vergangenheitsbewältigung Österreichs nach dem Zweiten Weltkrieg beginnend mit der Moskauer Deklaration: "Die ersten Urteile in den 1950ern, die Amnestien in den 1960ern, die Freisprüche in den 1970ern, der Fall Waldheim in den 1980ern, Vranitzky in den 1990ern – schließlich Wolfgang Schüssel mit dem Washingtoner Abkommen. Ist Österreich in der Normalität seiner Geschichtsbetrachtung angekommen?"

Martina Salomon äußerte Zweifel am Geschichtsbewusstsein des Landes und illustrierte dies anhand des durchwegs unbekannten Standorts des Staatsgründungsdenkmals im Wiener Schweizergarten. Nach Waldheim habe jedoch eine Entkrampfung eingesetzt und Österreich sei inzwischen auch extrem multikulturell geworden. Hier konnte Koller anknüpfen und nannte Passagen aus der Präambel zur Unabhängigkeitserklärung, die "eine Weißwaschung" darstellen würden.

Umgang mit jüdischen Opfern und ehemaligen Nazis

Andreas Koller kritisierte die österreichische Gesellschaft nach 1945 wegen ihres Umgangs mit den jüdischen Opfern auf der einen Seite und den Ex-Nazis auf der anderen. Die Rückgabe des geraubten Eigentums an die jüdischen Eigentümer wurde teils verschleppt, "zum Teil aus Brotneid, weil man selber dieses Eigentum übernommen hatte", sagte Koller. Eva Linsinger erinnerte daran, dass in einem Ministerratsprotokoll davon die Rede gewesen sei, Restitutionen in die Länge zu ziehen. Auf der anderen Seite habe man die Ex-Mitglieder der NSDAP in die Nachkriegsparteien aufgenommen, "weil sie als Wähler wichtig waren und teilweise gute Verwalter", erklärte Koller. "Da ist es umso beschämender", sagte Linsinger, "wenn man bei Nobelpreis-Verleihungen sieht, welcher Geistesreichtum Österreich mit vertriebenen jüdischen Mitbürgerinnen und -bürgern verloren gegangen ist." Nicht wenige Nobelpreisträgerinnen und -preisträger haben österreichische Wurzeln und sind teils selber, teils mit ihren Eltern nach 1938 aus Österreich vertrieben worden.

Ingrid Thurnher betonte die wichtige Rolle der ZeitzeugInnen, die nach und nach versterben. "Sie haben die Geschichte berührend weitergeben können", sagte die ORF-III-Chefredakteurin. Auch Martina Salomon bedauerte den Wegfall der ZeitzeugInnen. Für sie zeige sich auch jetzt, während der Corona-Krise, wie wichtig Geschichte sei. "Immer wieder gibt es Parallelen zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart", sagte sie.

Für Thomas Götz wird zu wenig Augenmerk auf die 1930er-Jahre gelegt, wenn man über die österreichische Geschichte spreche. "Diese Zeit ist noch deutlich weniger aufgearbeitet als die Zeit des Nationalsozialismus in Österreich", sagte Götz. Sowohl Andreas Koller als auch Ingrid Thurnher sagten, sie seien gespannt, wie neue, unbefangene Generationen mit diesem Problem umgehen würden.

Eva Linsinger bedauerte, dass gerade das Jubiläumsjahr von der Corona-Krise zugedeckt werde. Eine ganze Reihe von Veranstaltungen sind dem Virus "zum Opfer gefallen". "Dabei hätten wir gerade aus Anlass der Jubiläen gemeinsame Lehren aus der Vergangenheit ziehen können", sagte die Profil-Ressortleiterin.

Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka wies darauf hin, dass der Kampf gegen den Antisemitismus oft verengt auf den rechten, nationalsozialistisch begründeten Antisemitismus gesehen werde. "Wir haben aber nicht gesehen, dass er sich als Kulturphänomen über 2000 Jahre bei uns verankert hat und nicht eine Form des Rassismus ist, sondern einer kulturellen Ausprägung."

Andreas Koller betonte, dass es immer wieder neue Formen des Antisemitismus gebe. Österreich sei – wie auch Eva Linsinger gesagt hatte – ein Land mit einer multikulturellen Gesellschaft geworden. "Junge Leute, die aus einer anderen Kultur zu uns als Zuwanderer kommen, fangen mit Mauthausen wenig an", sagte er. Bei ihnen müsse man mit einer anderen Diskussion ansetzen. Martina Salomon unterstrich die Rolle der Hetze in sozialen Medien: "Selbst in der Corona-Krise entwickelt sich Hetze." Sie mahnte zu einem "Zurück zur Sachlichkeit". Das, so sagte Koller, sei aber gerade im Zusammenhang mit sozialen Medien schwierig, weil dort emotionale Aspekte im Vordergrund stünden.

Die Frage von Nationalratspräsidenten Sobotka, wie die JournalistInnen-Runde die Zukunft nach der Corona-Krise einschätze, sei laut Martina Salomon nicht leicht zu beantworten. "Es kommt vor allem darauf an, wie lange die Krise dauert", sagte sie. "Ist sie bald vorbei, kehren wir sicher bald wieder zurück zu dem, wie es früher war. Dauert sie länger, sind ihre Auswirkungen umso schlimmer und länger andauernder." Ingrid Thrunher meinte, man dürfe nicht in Staatsgrenzen denken. "Es kommt darauf an, wie resilient die Globalisierung ist." Thomas Götz äußerte seine Sorge um die Europäische Union. "Klar, Quarantäne-Maßnahmen lassen sich nicht von einer Union verordnen", sagte er. "Aber ich fürchte, was wir mit der Europäischen Union mühsam erreicht haben, kann in kurzer Zeit zurückgedreht werden." Eva Linsinger äußerte einen pessimistischen und einen optimistischen Blickwinkel: "Die Grundrechte sind ja geschaffen worden, um Bürger vor Machthabern zu schützen", erinnerte sie. "Für Machthaber ist es aber bequem, mit einem geringeren Maß an Grundrechten regieren zu können. Da ist meine pessimistische Sorge, dass autoritäre Strukturen zurückbleiben könnten." Auf der anderen Seite habe die Krise gezeigt, wie rasch Politiker handeln können, wenn es notwendig und wichtig ist. Das könne ein Signal sein, "dass man nicht bis 2030 warten muss, bis man effektiv gegen etwas wie den Klimawandel vorgehen könnte". Für Gerald Heidegger habe die Krise die Vorteile eines kleinen Landes wie Österreich gezeigt. "Das zeigt sich vor allem, wenn man zum Beispiel nach Deutschland schaut, wie lange dort diskutiert wird, bis Maßnahmen ergriffen werden." (Schluss) cke/gbr

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