Parlamentskorrespondenz Nr. 1034 vom 14.10.2020

Sektenbericht: Neuer Aufwind für Verschwörungstheorien durch die Corona-Krise

Schwerpunktkapitel Kinder und Jugendliche zeigt besorgniserregende Fälle auf

Wien (PK) – Eine deutliche Zunahme an Beratungsfällen und vor allem an Medienanfragen im Jahr 2019 registrierte die Bundesstelle für Sektenfragen, wie ihrem aktuellen Tätigkeitsbericht zu entnehmen ist (III-175 d.B.). Neben den "klassischen" Themen wie Extremismus, religiöser Fundamentalismus, Staatsverweiger oder Esoterik fanden auch die Auswirkungen der Corona-Krise und damit zusammenhängende Verschwörungstheorien Eingang in die Publikation.

Für besondere Aufmerksamkeit sorgten im Jahr 2019 aber etwa auch die Ereignisse rund um eine kleine in Isolation gehaltene Gemeinschaft in Ruinerwold (Niederlande), die sogenannten Armbrust-Morde in Deutschland innerhalb einer Gruppe, die sich als "Welterneuerer oder Welterschaffer" bezeichnet hat, oder auch die Vorwürfe zum wissenschaftlich nicht anerkannten Spielkonzept "Original Play". Der große Prozess rund um den "Staatenbund Österreich" hielt das mediale Interesse an souveränen Bewegungen aufrecht. Ebenso führte der Tod eines 13-jährigen Mädchens in Niederösterreich, dessen Krankheit aus religiösen Gründen nicht behandelt wurde, zu zahlreichen Anfragen an die Bundesstelle zu den Themen Freikirchen und Homeschooling. Der Bereich "Kindeswohlgefährdung und Kinderrechte" stand im Berichtsjahr 2019 auch im Mittelpunkt der Vernetzungsarbeit mit anderen Einrichtungen. Um einen besseren Einblick in die konkrete Arbeit zu geben, werden in einem eigenen Abschnitt unter strikter Wahrung des Datenschutzes ausgewählte "Fallbeispiele" präsentiert.

Zentrale Servicestelle bietet umfangreiches Beratungs- und Hilfsangebot

Die Bundesstelle für Sektenfragen, an die sich im Jahr 2019 insgesamt 1.706 Personen (2018: 1.649) gewandt haben, steht seit 22 Jahren als zentrale Service- und Anlaufstelle allen Privatpersonen, Institutionen und staatlichen Einrichtungen zur Verfügung. Seit Beginn ihrer Tätigkeit wurden Informationen zu mehr als 2.700 unterschiedlichen religiösen und weltanschaulichen Gemeinschaften, Organisationen oder Angeboten eingeholt. Nicht in den Zuständigkeitsbereich der Bundesstelle fallen die gesetzlich anerkannten Kirchen und Religionsgemeinschaften.

Neben möglichst objektiver und vertraulicher Information und Dokumentation bietet die Einrichtung individuelle psychosoziale Beratungen (502 Fälle im Jahr 2019), Präventionsarbeit sowie Fort- und Weiterbildungsmaßnahmen. Aufgrund des hohen Interesses an bestimmten Themen stiegen die Medienanfragen nochmals deutlich an und bildeten somit einen wichtigen Arbeitsschwerpunkt. Es zeigte sich, wie sehr die Bundesstelle als kompetente Ansprechpartnerin sowohl im Print-, Radio- als auch im TV-Bereich zu Recherche- und Interviewanfragen wahrgenommen wird. Was den Personalstand angeht, so ist die Situation aufgrund der finanziellen Kürzungen in den vergangenen Jahren weiter angespannt, kann man dem Bericht entnehmen. Das Team umfasst fünf MitarbeiterInnen, wobei zwei vollzeit- und drei teilzeitbeschäftigt sind (www.bundesstelle-sektenfragen.at ).

Schwerpunkt Corona-Krise: Vom Adrenochrom-Skandal bis hin zu heilsamen Zahlen-Codes

Aufgrund der Aktualität und der massiven Auswirkungen auf die Gesellschaft wurden die Ausführungen über die Corona-Krise bereits in den Bericht 2019 aufgenommen und in einem eigenen Schwerpunkt zusammengefasst. Verschwörungstheoretische Deutungen in einer Krisensituation seien aus Sicht der Sektenstelle nichts Neues, sie seien geradezu erwartbar. Prominente und auch nichtprominente AkteurInnen, InfluencerInnen oder Portale, die sich gegenwärtig mit Verschwörungstheorien rund um die Pandemie äußern, haben dies bereits in der Vergangenheit zu ähnlichen Themen oft getan. Beispielhaft könne hier auf den medienbekannten deutschen Musiker Xavier Naidoo verwiesen werden, der vor einigen Jahren u.a. Sympathien für die "Reichsbürgerbewegung" gehegt hat.

Da eine auch nur annähernd vollständige Darstellung der verschiedensten Phänomene den Rahmen sprengen würde, gehen die AutorInnen nur auf einige Verschwörungstheorien näher ein. So kursierten etwa relativ bald Behauptungen, dass der Virus in einem Labor entstanden sei. In der Regel wurde dabei dem "chinesische Regime" unterstellt, das Virus bewusst freigesetzt zu haben. Als weiterer Übeltäter wurde das "5G-Mobilfunknetz" ausgemacht, das – je nach Argumentation – entweder per se zu Krankheiten wie COVID-19 führen würde oder dessen katastrophale Auswirkungen auf Mensch und Tier durch die Freisetzung des Virus verschleiert werden sollten. In mehreren europäischen Ländern kam es seit Anfang April 2020 auch zu Vandalismus und Brandanschlägen gegen Mobilfunkmasten.

Bereits vor Beginn der Pandemie war von einem "A drenochrom-Skandal" die Rede, was mittlerweile als Sammelbegriff für Verschwörungstheorien rund um einen angeblich in großem Stil organisierten Kindesmissbrauch durch eine geheime "Elite" verwendet wird. Diese Kinder sollen zu Hunderttausenden in unterirdischen Einrichtungen wie etwa in stillgelegten oder geheimen U-Bahn-Schächten oder Tunneln – etwa unter dem New Yorker Central Park – gefangen gehalten und gefoltert werden. Das aus ihrem Adrenalin gewonnene Adrenochrom soll von der Elite als eine Art "Verjüngungsdroge" genutzt werden. Dahinter steht angeblich ein Netzwerk mit der Bezeichnung "QAnon" oder oft auch nur "Q" genannt. QAnon gibt vor, Informationen aus dem direkten Umfeld von US-Präsident Donald Trump und dessen angeblichen Kampf gegen einen "deep state", eine Art Schattenregierung, zu haben.

In ähnliche Richtung geht die Verschwörung bezüglich der "Neuen Weltordnung". Demnach sollen geheime Mächte am Werk seien, die Maßnahmen gegen das Coronavirus nur als Vorwand nehmen, um die Versklavung der Menschheit zu betreiben. Auch der Pharmaindustrie wird vorgeworfen, den Virus vorsätzlich in Umlauf gebracht zu haben, um mit längst entwickelten Impfstoffen Milliarden zu verdienen. Eine besondere Rolle komme dabei Bill Gates zu, der bereits im Jahr 2015 davor gewarnt haben soll, dass Viruskrankheiten für die Welt eine größere Gefahr darstellen als ein Nuklearkrieg. Wie schon in der Vergangenheit werden auch wieder antisemitische Inhalte und Codes benutzt, die von Name-Dropping (Rothschild, Soros etc.) bis hin zu Behauptungen reichen, dass die Juden die Weltherrschaft übernehmen wollen. Im Bericht wird weiters auf die große Bandbreite an esoterischen und pseudomedizinischen Angeboten hingewiesen. Darunter finden sich nicht nur Dienste von "Fernheilern" oder Hinweise auf die angebliche Wirkung von Heilsymbolen oder –zahlen, sondern auch der Ratschlag, das Bleichmittel Chlordioxid (Miracle Mineral Supplement), das gegen AIDS, Autismus, Krebs und vieles andere mehr helfen soll, einzunehmen.

Fallbeispiele zur Corona-Krise sowie aus dem Kapitel Kinder und Jugendliche

Der 168 Seiten umfassende Bericht enthält einige ausgewählte Fallbeispiele, die dazu beitragen sollen, die tägliche Arbeit der Bundesstelle für Sektenfragen besser zu veranschaulichen. Betroffene suchten nicht nur Unterstützung beim Rückzug aus einer Gemeinschaft, bei vielen ging es auch um die Verarbeitung von Erlebtem, um Neuorientierung oder die Klärung von Konflikten mit Angehörigen. So wandte sich etwa eine Frau an die Sektenstelle, deren Neffe im Verlauf des letzten Jahres immer mehr Bewunderung für eine Heilerin entwickelt hatte, die vorgab, nur mehr von Licht zu leben. Sie bot Kurse in ganz Österreich an, in denen sie erklärte, wie der menschliche Körper komplett auf "Lichtnahrung" umgestellt werden könne. Zudem würde ihrer Ansicht nach in Europa in Kürze ein Krieg ausbrechen, verursacht durch "Chemtrails", 5G-Handymasten und Mikrochips, die bei Impfungen angeblich implantiert würden. Da in Südamerika diese negativen Einflüsse noch nicht so stark seien, habe sie ein abgelegenes Grundstück in Panama gekauft und dort eine Wohngemeinschaft für ihre AnhängerInnen gegründet. Kurz vor Ausbrauch der Pandemie ist dann auch der Neffe mit seiner Familie in einer Nacht-und-Nebel-Aktion dorthin ausgereist. Seither gebe es keinen Kontakt mehr mit ihm und seinen noch nicht schulpflichtigen Kindern. Die Heilerin verschicke zudem immer wieder Botschaften über YouTube, in denen sie Katastrophen für das Jahr 2020 voraussagt und einen Weltuntergang prophezeit. Man würde kurz davorstehen, in die "fünfte Dimension" aufzusteigen; sie und ihre Gemeinschaft würden dann die Weltherrschaft antreten.

Im Kapitel "Kinder und Jugendliche" wird ein Fall geschildert, in dem e in sechsjähriges Mädchen im Kindergarten erzählt hat, dass ihr Vater Dämonen austreiben würde. Er wäre ein Priester und heiliger Mann. Sie zeigte der Pädagogin, die sich an die Sektenstelle gewandt hatte, ein YouTube-Video, in dem man sehen konnte, wie der Vater ein angebliches Exorzismus-Ritual bei einem Kind ausführte und es dabei auch immer wieder schlug. Die Mutter des Kindes bestätigte, dass ihr Mann Pastor einer christlichen Gemeinde wäre und persönlich und über das Internet Dämonenaustreibungen durchführen würde. Das sechsjährige Mädchen wirkte auch tagsüber oft sehr müde und schlief des Öfteren ein, während die anderen Kinder spielten. Darauf angesprochen erklärte sie, dass die Familie bis spät in die Nacht beten würde.

Ebenso kontaktierte ein besorgter Vater die Bundesstelle, da es seit der Geburt der Tochter für ihn immer offensichtlicher wurde, welchen hohen Stellenwert der Glaube für seine Frau einnahm. Seine Frau verwehrte der Tochter jede medizinische Intervention, auch Hausmittel und homöopathische Präparate lehnte sie ab, weil aus ihrer Sicht Krankheiten und Schmerzen Teile von Gottes Plan wären und das Kind stärker machen würden. Nur für das Kind zu beten wäre gestattet. Sie sah das Wirken Satans als Ursache der zunehmenden Konflikte in der Beziehung.

Generell können Kinder und Jugendliche Zielgruppe für Missionierung und für diverse Angebote, die auf einem religiösen oder weltanschaulichen Hintergrund beruhen, sein, oder auch direkt Betroffene, wie im geschilderten Fall. Soziale Isolierung, ideologische Abschottung und Abhängigkeit von einer Glaubensgemeinschaft können die Entwicklung einer eigenverantwortlichen Persönlichkeit, die Berufs- und Bildungschancen ergreift und sich in Freiheit entfalten kann, massiv behindern, warnen die AutorInnen. Das Recht auf freie Religionsausübung und die Rechte von Eltern, ihren Kindern eigene Werte und Weltanschauungen zu vermitteln, seien wichtige Grundrechte einer Demokratie. Sie dürften jedoch nicht auf Kosten der Rechte von Kindern und Jugendlichen gehen.

Die Bundestelle erinnert in diesem Zusammenhang daran, dass vor über 30 Jahren die UN-Konvention für die Rechte des Kindes verabschiedet wurde, die Österreich als eines der ersten Länder unterzeichnet hatte. Darin verpflichtet sich der Staat, das Wohl des Kindes vorrangig zu berücksichtigen und seine Bedürfnisse und Rechte unter einem besonderen Schutz zu stellen. (Schluss) sue