Parlamentskorrespondenz Nr. 458 vom 05.05.2022

Gedenken als Aufforderung zum Handeln in der Gegenwart

Österreichisches Parlament erinnert mit Gedenktag gegen Gewalt und Rassismus an die Opfer des Nationalsozialismus

Wien (PK) — Anlässlich des Jahrestags der Befreiung des KZ Mauthausen erinnert das österreichische Parlament am Donnerstag, dem 5. Mai 2022 an die Opfer des Nationalsozialismus. Auf Einladung von Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka und Bundesratspräsidentin Christine Schwarz-Fuchs findet auch heuer wieder der Gedenktag gegen Gewalt und Rassismus im Parlament in der Hofburg statt. Als roter Faden zog sich durch die Veranstaltung der Aufruf, nicht nur ein rückwärtsgewandtes Gedenken zu betreiben, sondern aus der Vergangenheit Lehren für Handeln in der Gegenwart zu ziehen. Die Hauptrednerin der Veranstaltung, die Antisemitismus-Forscherin Monika Schwarz-Friesel, betonte, dass antisemitische Stereotypen auch heute in der Gesellschaft aktiv seien und nur dann überwunden werden können, wenn antisemitischer Rede immer konsequent entgegengetreten werde, auch wenn es unbequem sei.

Im Rahmen der Gedenkfeier wurde ein Ausschnitt des symphonischen Monologs "Hanni — Von der kleinen Leute Größe" gezeigt. Schriftsteller Franzobel hat darin die Erinnerungen der Zeitzeugin Hanni Rittenschober festgehalten und mit literarischen Mitteln gestaltet. Rittenberger sah die Misshandlung der Häftlinge im KZ Gusen und wurde Zeugin der so genannten "Mühlviertler Hasenjagd", bei der Hunderte entflohene russische Kriegsgefangene brutal ermordet wurden.

Bundesratspräsidentin Schwarz-Fuchs: Aus der Vergangenheit lernen bedeutet in der Gegenwart handeln

Einleitende Worte kamen von Bundesratspräsidentin Christine Schwarz-Fuchs, die daran erinnerte, dass das Konzentrationslager Mauthausen, wo mehr als 200.000 Menschen interniert waren, vor 77 Jahren am 5. Mai 1945 von der Armee der Vereinigten Staaten befreit wurde. Dieses Datum gilt seit 26 Jahren als Gedenktag gegen Gewalt und Rassismus im Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus. Dieser solle als "mahnender Ruf" dienen, um auch heute jeder Art von Gewalt und Erniedrigung entgegenzutreten, erklärte Schwarz-Fuchs mit Verweis auf den Krieg in der Ukraine, dem man nicht tatenlos gegenüberstehen dürfe. Aus der Vergangenheit zu lernen, bedeute in der Gegenwart zu handeln. Deshalb gelte es Verantwortung zu übernehmen, für die Menschen, die aus der Ukraine nach Österreich und in andere Länder geflüchtet sind, so Schwarz-Fuchs.

Podiumsgespräch über die Frage, wie "Gedenken als erinnernder Mahnruf" gestaltet werden kann

Eine in der KZ-Gedenkstätte Gusen aufgezeichnete Podiumsdiskussion mit Barbara Glück, Direktorin der KZ-Gedenkstätten Mauthausen und Gusen, Alexander Hauer vom Verein MERKwürdig — Zeithistorisches Zentrum Melk und der Leiterin des Ludwig-Boltzmann-Instituts für Kriegsfolgenforschung, Barbara Stelzl-Marx widmete sich dem Ankauf von Arealen in Gusen durch die Republik.

Die neue Gestaltung der Gedenkstätte ist laut Barbara Glück als "Meilenstein für die Gedenkarbeit in Österreich". Die Gedenkkultur in Österreich sei nun so weit fortgeschritten, dass ein Bewusstsein dafür geschaffen werden könne, dass Mauthausen nicht nur auf einen Ort reduziert werden könne, sondern an vielen Orten stattgefunden habe. 77 Jahre nach der Befreiung des Konzentrationslagers könne die Gedenkstätte mit unserem heutigen Wissensstand neugestaltet und ein internationaler Ort der Erinnerung geschaffen werden, wobei auch die regionale Bevölkerung eingebunden werden soll, so Glück. In der Forschungsarbeit sei es wichtig zu beachten, besonnen mit Informationen umzugehen, da es um die Schicksale von ermordeten Menschen gehe. Gerade diese Einzelschicksale gelte es in Erinnerung zu behalten, auch wenn keine Zeitzeugen mehr selber davon berichten können.

Barbara Stelzl-Marx sprach von der Fokussierung der österreichischen Gedenkkultur auf das Konzentrationslager Mauthausen, wodurch ein ganzes Netzwerk von anderen Lagern in Österreich in den Hintergrund gerückt sei. Dieses gelte es in der Forschung miteinzubeziehen und das Wissen darüber auch in die Öffentlichkeit zu bringen. So sei beispielsweise über das Zwangsarbeiterlager Graz-Liebenau im wahrsten Sinne des Wortes "Gras gewachsen". Erst auf eine zivilgesellschaftliche Initiative hin, sei es dem kollektiven Vergessen entrissen worden, so Stelzl-Marx. Dies sei auch ein wichtiges Signal gegenüber den Nachkommen der Menschen, die im Lager ihr Leben verloren haben. Doch auch bei den Nachfahren der Täter:innen schlage sich die Zeit des Nationalsozialismus noch Generationen später nieder. Der Fokus läge bei den tradierten Narrativen auf einer breiten Bandbreite von der Opferrolle über Heldengeschichten bis zur Tabuisierung. Laut Stelzl-Marx sei es auch von Bedeutung, sich diesen Geschichten innerhalb der Familien zu stellen und sie aufzuarbeiten.

Wichtig dabei sei es, nicht mit dem Finger auf diese Generation zu zeigen, da wir selber nicht wissen, wie wir in dieser Zeit gehandelt hätten, ergänzte Alexander Hauer. Entscheidend sei es, das Vermächtnis der Opfer in unsere Gegenwart zu überführen und es im Alltag durch permanente Vermittlung mit unserer Lebensrealität zu verbinden. Das Hinterfragen des eigenen Handelns müsse Folge dieser Verbindung sein, damit es in der Gedenkkultur nicht nur bei Überschriften bleibe, die "am Ausgang der Gedenkstätte wieder abgegeben" werden können. Die damaligen Vorgänge, wie auch der aktuelle Krieg in der Ukraine würden zeigen, wie fragil unsere demokratischen Systeme seien und wie sorgsam wir deshalb mit unserer Form des Zusammenlebens umgehen müssten, so Hauer.

Schwarz-Friesel: Allen Manifestationen von Antisemitismus ist entschieden entgegenzutreten

Als Hauptrednerin der Gedenkfeier trat die Antisemitismusforscherin Monika Schwarz-Friesel von der Technischen Universität Berlin auf. Sie leitete ihre Rede mit dem Hinweis ein, dass sie "keine Sonntagsrede mit optimistischen Tönen" anbiete. Angesichts von Demagogie, Realitätsverdrehung, Demokratiezweifel und einem brutalen Krieg, in dem auch die letzten ukrainischen Schoah-Überlebenden umgebracht werden, müsse man mit dem Kulturwissenschaftler Fritz Stern von einer "Zeit der kulturellen Verzweiflung" sprechen, sagte Schwarz-Friesel.

Der israelische Historiker Jakow Katz habe vor fünfzig Jahren die Frage gestellt, ob der Holocaust als präzedenzloses Menschheitsverbrechen einen anhaltenden Katharsis-Effekt haben würde, um endlich das alte Paradigma der Abwertung jüdischen Lebens beenden zu können. Heute wisse man, dass es die erhoffte tiefe Zäsur nicht gegeben habe. Die "kollektive Emotion Judenhass" sei vielmehr überall in der Welt höchst präsent und aktiv. Judenfeindschaft sei auch keineswegs ein Randphänomen von Radikalen und Islamisten, sondern ein gesamtgesellschaftliches Phänomen. Klassischer Antijudaismus und uralte judenfeindliche Stereotypen seien nicht zuletzt im Internet weit verbreitet und fänden dort ein enormes Echo.

Antisemitismus sei zudem kein austauschbares Vorurteil, das mit Rassismus und Xenophobie gleichgesetzt werden könne, betonte Schwarz-Friesel. Vielmehr handle es sich um eine "kulturhistorisch singuläre Denkkategorie, tief verankert im kollektiven Bewusstsein". Auch gebildete, aufgeklärte Personen würden Antisemitismen produzieren. Die Antisemitismusforscherin trat dabei der Vorstellung entgegen, wonach die Judenfeindschaft erst jetzt "die Mitte der Gesellschaft erreicht" habe. Vielmehr sei Judenfeindschaft stets aus der gebildeten Mitte gekommen, davon zeuge der Großteil der abendländischen Kultur.

Schwarz-Friesel verwies auf einen grassierenden Campus-Antisemitismus in den USA, der dazu führe, dass jüdische Studierende attackiert werden. Akademische BDS-Aktivitäten — gegen Israel gerichtete Kampagnen mit dem Slogan "Boycott, Divestment and Sanctions" — führten nachweislich zu einer Zunahme antisemitischer Vorfälle. Schwarz-Friesel erinnerte daran, dass im Europa der dreißiger Jahre die Universitäten zu den ersten Institutionen gehörten, die ihre jüdischen Mitglieder drangsalierten und vertrieben. Antisemitische Ressentiments würden sich in den letzten Jahren immer stärker öffentlich artikulieren, ohne die dringend notwendige Gegenreaktion der Politik und Zivilgesellschaft auszulösen. Auch renommierte Persönlichkeiten Wissenschaftler:innen, Vertreter:innen der Kunst- und Kulturszene und Friedens- und Menschenrechtsaktivist:innen würden Aussagen treffen, die den Staat Israel dämonisieren, von der Macht einer angeblichen "jüdischen Lobby" sprechen, die Schoah relativieren, für ihre Zwecke usurpieren und trivialisieren. Jüdinnen und Juden werde heute sehr viel zugemutet, ihre Bedürfnisse und ihre Trauer würden missachtet und kleingeredet. Den jüdischen Staat als Apartheid-Regime zu diffamieren trage genauso zu einem realitätsverzerrenden Antisemitismus bei wie andere antisemitische Stereotype, sagte die Rednerin.

Auch ein Dulden, Wegschauen und Leichtnehmen von judenfeindlichen Äußerungen würden den Antisemitismus nähren. Heute wisse man so viel über die toxischen Wurzeln des Judenhasses und seine Manifestationen, um legitime Kritik sehr genau von Formen der Diffamierung und unangemessenen Rhetorik unterscheiden zu können. Nicht vergessen dürfe werden, dass der Schoah Jahrhunderte vorausgingen, in denen judenfeindliche Rede die Norm waren. Völlig unangemessen ist es laut Schwarz-Friesel, wenn die Kritik an judenfeindlichen Äußerungen als Zensur oder gar als "Gesinnungsdiktatur" bezeichnet werden.

Judenfeindliche Äußerungen müssten zurückgewiesen werden, auch dann, wenn es realpolitisch unbequem sei. Nur wenn es die Bereitschaft gebe, jede Form der Judenfeindschaft zurückzuweisen, zeige sich, ob das "Nie wieder!" ernst gemeint sei. Schwarz-Friesel forderte eine "kommunikative Ethik und Praxis", die die Macht und das Gewaltpotenzial von Sprache berücksichtigt und bei aller notwendigen Meinungsfreiheit dann Einspruch erhebt, wenn "vergiftende Wörter" benutzt werden. Eine Freiheit ohne moralische Begrenzung verliere sich nämlich in Intoleranz und Rücksichtslosigkeit. Eine wirklich humane Gesellschaft brauche die Begrenzung destruktiver Aktivitäten und Intoleranz könne nicht toleriert werden.

Die moralische Substanz einer demokratischen Gesellschaft müsse gelebt und vorgelebt werden. Das bedeute, antisemitische Aussagen stets zu kritisieren und konsequent zurückzuweisen, "wie schöngefärbt sie auch daherkommen" oder wenn sie unter dem Deckmantel der Kritik, der politischen Empörung oder der Kunstfreiheit auftreten. Sonst leiste man einer kulturellen Normalisierung des Antisemitismus neuerlichen Vorschub und bewirke, dass der Antisemitismus weiter sein geistiges Gift ungehindert verbreiten könne, schloss die Rednerin.

Sobotka: Gedenktage mahnen zur Übernahme von Verantwortung und zum Handeln

Mit der Frage: "Sind im digitalen Zeitalter Gedenktage dieser Art noch zeitgemäß?" leitete Nationalratspräsident seine Schlussrede ein. Gedenken und Erinnern würden schwieriger, wenn Zeitzeugen fehlten und Geschichtsrevisionismus um sich greife. Vor allem gelte es zu vermeiden, dass sie zu "gedankenlosen, sinnentleerten, erstarrten Ritualen werden", mahnte Sobotka. Gedenken habe stets eine Dimension, die in die Zukunft weise, und müsse einem wertorientierten Denken und Handeln in der Gegenwart Halt geben. Ein nur der Vergangenheit verhaftetes Erinnern drohe hingegen, zur formelhaften Pflichtübung zu werden.

Im Rückblick auf die Vergangenheit sei es leicht, moralische Positionen zu beziehen, meinte Sobotka. Anders verhalte es sich allerdings in der Unmittelbarkeit der Gegenwart, wo moralisches Handeln einen Preis habe und sei mit einem Risiko verbunden sei. Der Nationalratspräsident sprach dabei den Überfall Russlands auf die Ukraine an. Dieser mache alle zu Zeuginnen und Zeugen von neuerlichen Verbrechen gegen die Menschlichkeit und erfordere es, Stellung zu beziehen. Vor dem Hintergrund der Gedenktage im Mai müsse der Überfall Russlands aufs Schärfste verurteilt werden, unterstrich der Nationalratspräsident. Die Ukraine müsse mit allen verfassungsrechtlich möglichen Mitteln unterstützt werden, betonte Sobotka. Dabei gelte es, jede Möglichkeit zu ergreifen, die zu Dialog und Waffenstillstand führe.

Die Republik Österreich bekenne sich heute, nach einem langen und teilweise ignoranten Weg der Verdrängung und Leugnung, zur Verantwortung gegenüber der eigenen Geschichte. Die Aufarbeitung der eigenen Geschichte sei aber längst nicht abgeschlossen und Ignoranz gegenüber der eigenen Geschichte längst nicht durchgehend beendet. Das Mindeste, was man heute tun könne, sei es, zur Geschichte der Zweiten Republik, zur Geschichte der Länder, Städte und Gemeinden zu stehen.

Zudem müsse auch der Blick auf die blinden Flecken der Zeit nach 1945 gerichtet werden, forderte Sobotka. Diese seien etwa die Nachkriegsjustiz oder die Frage, warum eine Entschuldigung Österreichs und eines Angebots an vertriebene Jüdinnen und Juden gefehlt hätten. Blinde Flecken seien auch die Nazis, die im Dienste der Zweiten Republik standen, und der Umgang mit verschiedenen Opfergruppen, wie Roma und Sinti, Homosexuellen und Zeugen Jehovas. Auch rechtliche Fragen gelte es zu thematisieren, wie den Umgang mit enteigneten Stiftungen oder wie weit die Restitution von gestohlenem Besitz abgeschlossen sei. Gefragt sei aber nicht nur das Reden, sondern das Handeln, denn "im Handeln liegt unsere Verantwortung", schloss Sobotka. Mit dem an Ankauf von Grundstücken auf dem Gelände des ehemaligen KZ Gusen habe die Republik Österreich gezeigt, dass sie handle und bereit sei, ihre Geschichte aufzuarbeiten. (Schluss) wit/sox

HINWEIS: Fotos von dieser Veranstaltung finden Sie auf der Website des Parlaments. Die Gedenkveranstaltung wurde live von ORF 2 übertragen und ist auch in der Mediathek des Parlaments abrufbar.