Bundesrat Stenographisches Protokoll 609. Sitzung / Seite 12

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wenn wir wissen, wohin wir wollen, können wir einen Weg als Umweg, aber doch zielführenden Umweg definieren, können wir Verzögerungen als Verzögerungen wahrnehmen.

Worum geht es also bei diesem großen europäischen Projekt? – Ich meine, daß es zunächst einmal ein Projekt des Friedens ist, ein Projekt, das den Mitgliedsstaaten der Union und dem europäischen Kontinent Frieden, Stabilität und Sicherheit bringen soll. Vergessen wir nicht, aus welcher Wurzel die Europäische Union entstanden ist, vergessen wir nicht, daß an dem Punkt, zu dem sie begründet wurde, die Erinnerung an die Katastrophe des Zweiten Weltkrieges eine noch sehr viel lebendigere war, als sie es vielleicht heute sein mag. Vergessen wir nicht, daß es auch die Ost-West-Konfrontation war, die im Moment der Gründung dieser Union der dominierende Hintergrund aller politischen Entscheidungen war.

Es ist keine Frage, daß die Union auf diesem Gebiet – gerade auf diesem Gebiet – eine eindrucksvolle Erfolgsbilanz aufweist. Daß es zwischen den Mitgliedsstaaten der Union Konflikte, Interessendivergenzen gibt, das ist keine Frage. Aber es hat allemal noch Wege gegeben, diese Divergenzen, diese Konflikte in einer Form auszutragen, die unserem heutigen Verständnis entspricht.

Ich merke als bedeutungsvoll an, daß dieser entscheidende Beitrag zum Frieden auf unserem Kontinent nicht darin bestand, daß die Europäische Union ein waffenstarrendes Militärbündnis gewesen wäre. Wir sollten uns das in Erinnerung rufen, wenn wir über die Gestaltung einer Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik reden.

Zum zweiten: Dieses Projekt ist ein Projekt des sozialen Ausgleichs und des Wohlstandsausgleichs – innerhalb dieses Kontinents und darüber hinaus. Man braucht kein sehr weitsichtiger Prognostiker zu sein, um sich der Überzeugung anzuschließen, daß es nicht in einem Meer von Elend und Hunger Wohlstandsinseln geben kann. Die Wohlstandsinseln mag es ja geben, aber an ihre Ufer brandet dann dieses Elend, und die Konsequenz, die wir durchaus kennen, ist eine moderne Völkerwanderung.

Innerhalb der Union hat die Politik großen Wert auf diesen Ausgleich gelegt. Die am schwächsten entwickelten Gebiete der Mitgliedsländer stehen im Vordergrund einer gezielten Förderungs- und Entwicklungspolitik. Auch Österreich, und insbesondere ein Bundesland, kommt in den Genuß dieser Förderung. Es ist keine Frage, daß hier gewaltige Fortschritte beim Einebnen von Unterschieden erreicht wurden.

Aber ebenso ist richtig, daß diese Politik des Wohlfahrtsausgleiches nicht an den Grenzen der Union haltmachen kann, damit eben hier nicht die Küste entstehen kann, an die diese Wellen des Elends branden, sondern sie muß die Staaten Osteuropas einbeziehen, jene, die Mitglieder in naher Zukunft sein könnten, und jene, für die das eine fernere oder überhaupt keine Perspektive ist, aber genauso die Staaten des Mittelmeerraumes, die im heutigen Zeitalter unsere Anrainer, unsere unmittelbaren Nachbarn geworden sind, und ebenso die Staaten jenes Bereiches, den man mit einem zunehmend unzutreffenden Ausdruck "Dritte Welt" nennt, weil auch hier die Verbindung eine enge geworden ist, die Nachbarschaft eine nahe.

Zum dritten: Wir müssen dieses Projekt als ein Projekt der Förderung des gemeinsamen Wohlstands, der wirtschaftlichen und industriellen Entwicklung sehen. Die Union hat ein hohes Maß an Verantwortung für die Wirtschafts- und Industriepolitik aller Mitgliedsstaaten übernommen, und es ist keine Frage, daß angesichts des Zusammenwachsens und des gewollten Zusammenwachsens von Wirtschaftsräumen diese wirtschaftliche Führungsrolle der Union gestärkt werden muß. Aber die Union hat ein massives Defizit dort, wo es darum geht, wirtschaftliche Offensive durch soziale Standards abzusichern. Jacques Delors hat gestern in dieser Stadt betont, daß das, was am ehesten das ehrgeizige Projekt der Wirtschafts- und Währungsunion, der Weiterentwicklung der Integration zu Fall bringen könnte, das Fehlen der sozialen Dimension sein könnte. Diese Gefahr sehe auch ich.

Ein Kontinent, so wirtschaftlich potent er sein mag, so industriell fortschrittlich er hoffentlich ist, kann nicht wirtschaften, kann nicht gerecht sein, kann nicht sozial sein, kann sich nicht entwickeln, wenn nicht auch innerhalb seiner Mitgliedsstaaten, in seinem gesamten Gebiet, eine


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