Bundesrat Stenographisches Protokoll 609. Sitzung / Seite 58

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Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich bitte Sie nur zu bedenken, daß zur Mitgliedschaft bei der EU für einen Staat auch eine bestimmte innere, wirtschaftliche, soziale und politische Reife gehört, daß man den Staaten von Mittel- und Osteuropa helfen muß, diesen Entwicklungsstand zu finden, um dann entsprechend vollberechtigte und vollverpflichtete EU-Mitglieder sein zu können, daß mit der Vermehrung der Zahl der Mitgliedstaaten der EU, wenn jedes EU-Mitglied auch einen Sitz in der Kommission haben soll, die Zahl der Kommissionsmitglieder zunimmt und man sich dann fragen muß, wieweit diese Europäische Union noch regierbar ist.

Die Frau Staatssekretärin hat schon treffend darauf hingewiesen: Es gibt auch die Frage der Mehrstimmigkeit, aber wo kommt es auf die Einstimmigkeit an? – Frau Bundesrätin Ilse Giesinger – nicht daß Sie glauben, ich möchte jetzt jeden zitieren, der im Raum ist, da könnten wir noch morgen hier sitzen, es kommt immer nur darauf an, wer dazu sachkompetent ist –, die Jeanne d’Arc des Föderalismus, als die ich Frau Bundesrätin Ilse Giesinger immer empfinde, hat bei einer Besprechung für heute treffend darauf hingewiesen – man sollte nirgends unvorbereitet hingehen, auch nicht seelisch unvorbereitet, weder zu einem Rendezvous noch zu einer solchen Verabredung –, daß wir allen Männern und Frauen versprochen haben: Wer Österreich erlaubt, Mitglied der EG zu sein, der soll wissen, daß er nicht einer Staatengemeinschaft angehört, in der man überstimmt wird, das heißt, in der die anderen über unser Schicksal verfügen. Ich möchte daher all jene daran erinnern, die für die Mehrstimmigkeit in der EU-Kommission sind, daß es dann passieren kann, daß man überstimmt wird. Also diese Abgrenzung, was mehrstimmig ist, was einstimmig ist, sollte man sich genau überlegen.

Meine sehr Verehrten! Kollege Azizi hat kürzlich auch ein Interview gegeben. Es ist so schön, daß sich jetzt alle dazu äußern, was für ein Verhältnis aus ihrer EU-Funktion heraus sie zu ihrer Heimat haben, das bestätigt natürlich auch die Theorie des Karl Marx, daß die wirtschaftlichen Bedingungen beziehungsweise die Funktionen das Bewußtsein der Menschen prägen. Man muß natürlich auch sagen: Wer jemanden zur EU entsendet, muß sich dessen bewußt sein, daß dieser, wenn er eine EU-Funktion erfüllt, zwar nicht vergessen soll, wo er herkommt, aber dort die Interessen der Europäischen Union zu vertreten hat, ob in der Rechtssetzung, der Exekutive oder auf dem Gebiete der Gerichtsbarkeit. Es soll ja keine Schizophrenie entstehen, aber man sollte sich das ganz klar vor Augen halten, sonst erlebt man Überraschungen, so wie Thomas Beckett zum König von England gesagt hat: "Mach mich nicht zum Erzbischof von Canterbury, denn ich kann nicht mehr dein Freund sein." – Sie wissen, wie das geendet hat.

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich meine, man sollte sich auch über das Rollenverständnis im klaren sein. Ich möchte Ihnen allerdings auch hier in der Länderkammer sagen: Übersehen wir eines nicht: In der Staatengemeinschaft der Europäischen Union sind nur drei Staaten echte Föderalstaaten, nämlich die Bundesrepublik Deutschland, aus nationalitätenpolitischen Gründen Belgien – und Österreich. Früher, vor dem 1. Jänner 1995, war in der EG nur die Bundesrepublik Deutschland ein Föderalstaat.

Ich habe als Bundesratspräsident im Jahre 1992 in unser Haus zu einer europäischen Konferenz, nämlich einer Bundesratsenquete über "Föderalismus und Regionalismus im integrierten Europa" eingeladen – das ist nachlesbar, ich habe alle Senatspräsidenten und Länderkammerpräsidenten Europas eingeladen, auch Giovanni Spadolini, der leider nicht mehr lebt, war hier. Wenn Sie das Protokoll – ich empfehle das auch dem Außenministerium, wir lesen gegenseitig, soweit uns etwas zugänglich ist –, dann werden Sie ganz deutlich sehen, daß die Unterschiede im Rechtscharakter der Staaten herausgearbeitet wurden, wie drüben im Budgetsaal, wo die Wappen der Kronländer der Monarchie in 22karätigem Gold repräsentiert sind und die Voraussetzungen des Föderalstaates zeigen.

Meine Damen und Herren! Man darf eines nicht vergessen: Frankreich ist ein dezentralisierter Einheitsstaat, Italien hat einen abgestuften Regionalismus – in der Festschrift für Rudolf Stadler habe ich meine römische Gastvorlesung über Föderalismus in Österreich und Regionalismus in Italien veröffentlicht, dort nachlesbar, jetzt fehlt die Zeit dazu –, die autonomen Gemeinschaften Spaniens wieder haben einen anderen Rechtscharakter als die Regionen Italiens. Und wenn Sie die Föderalstaaten vergleichen, nämlich die Kantone der Schweiz – die sind aber nicht Mitglied der EU – oder die Bundesländer Deutschlands und die Bundesländer Österreichs, dann werden


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