Bundesrat Stenographisches Protokoll 609. Sitzung / Seite 85

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Dringliche Anfrage

der Bundesräte Dr. Peter Kapral, Dr. Reinhard Eugen Bösch und Kollegen an den Bundeskanzler betreffend Aushöhlung des Föderalismus (1164/J-BR/96)

Präsident Johann Payer: Wir gelangen nunmehr zur Verhandlung der dringlichen Anfrage Nr. 1164/J-BR/96 der Bundesräte Dr. Kapral, Dr. Bösch und Kollegen an den Herrn Bundeskanzler betreffend Aushöhlung des Föderalismus.

Da diese inzwischen allen Bundesräten zugegangen ist, erübrigt sich eine Verlesung durch die Schriftführung.

Die dringliche Anfrage hat folgenden Wortlaut:

Die von der Bundesregierung seit 1989 angestrebte Teilnahme Österreichs an der Europäischen Integration hat in den mit 1. Jänner 1995 erfolgten Beitritt Österreichs zur Europäischen Union gemündet. Seit Beginn der Integrationsbemühungen war unbestritten, daß die damit verbundene Verlagerung von Kompetenzen an Unionsorgange auch eine zeitgemäße Neuordnung der innerstaatlichen Kompetenzverteilung zwischen dem Bund und den Ländern nach sich ziehen müsse. Im sogenannten Perchtoldsdorfer Übereinkommen vom Oktober 1992 wurden deshalb zwischen dem Bundeskanzler als Vertreter des Bundes und dem damaligen Landeshauptmann von Niederösterreich als Vertreter der Länder eine "große Bundesstaatsreform" paktiert und in der Folge eine entsprechende Regierungsvorlage (14 NR der Beilagen, XIX. GP, Bundes-Verfassungsgesetz-Novelle 1994) sowie entsprechende Änderungen des Finanz-Verfassungsrechtes (15 NR der Beilagen, XIX. GP) ausgearbeitet.

Im Zuge der parlamentarischen Beratungen wurde die Bundesstaatsreform durch föderalismusfeindliche Anreicherungen geradezu ein Modell zentralistischer Staatsvorstellungen, weshalb die Länder ihre ursprüngliche Zustimmung zurückzogen. In der Sitzung des Verfassungsausschusses des Nationalrates vom 14. Dezember 1994 wurde die Beratung über die Bundesstaatsreform daher vertagt und während der gesamten XIX. Gesetzgebungsperiode nicht wiederaufgenommen.

In der nunmehrigen XX. Gesetzgebungsperiode des Nationalrates wurden die erwähnten Gesetzesanträge von der Bundesregierung neuerlich eingebracht. Der Bundeskanzler hat in der Beantwortung der schriftlichen parlamentarischen Anfrage 503/J erklärt, daß die Fragestellung von der unzutreffenden Auffassung ausgehe, daß es Sache der Vollziehung sei, einen Konsens "über einen neuen Entwurf einer Bundesstaatsreform herzustellen" und allenfalls "die Oppositionsparteien bereits im vorparlamentarischen Raum in die Beratungen einzubeziehen." Demgegenüber erinnere er daran, daß die Regierungsvorlage betreffend eine derartige Bundes-Verfassungsgesetz-Novelle dem Nationalrat bereits zur verfassungsmäßigen Behandlung vorliege und damit grundsätzlich der Ingerenz der Vollziehung entzogen sei.

Dieser Aussage ist zu entnehmen, daß der Bundeskanzler ungeachtet des Umstandes, daß der vorliegende Entwurf einer Bundesstaatsreform als gescheitert zu betrachten ist, nicht bereit ist, diesbezüglich neue Initiativen zu ergreifen.

Der Beitritt Österreichs zur Europäischen Union hat tatsächlich zu einer Verlagerung zahlreicher und erheblicher Gesetzgebungs- und Vollziehungskompetenzen an deren Organe bewirkt. Davon sind insbesondere die Gesetzgebungskompetenzen sowohl des Bundes als auch der Länder betroffen.

Vor dem Hintergrund des Umstandes, daß die Gesetzgebungskompetenzen der Länder bereits in der Vergangenheit bei Novellierungen der Bundesverfassung oftmals eingeschränkt wurden, verstärkt der neuerliche Kompetenzverlust eine Entwicklung, die das bundesstaatliche (föderalistische) Prinzip der Bundesverfassung aushöhlt und in der Lehre als schleichende Gesamtänderung der Verfassung bezeichnet wird (vgl. auch Walter-Mayer, "Grundriß des österreichischen Bundesverfassungsrechts", 7. Auflage, Seite 68). Es ist nicht zu bezweifeln, daß Österreich bereits jetzt ein relativ schwach ausgebildeter Bundesstaat ist, da der Bund ein


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